Historikertag 2016: Religionsgeschichte

Von
Katharina Stornig, International Graduate Centre for the Study of Culture, Justus-Liebig-Universität Gießen

Besprochene Sektionen:

„Dynamiken religiösen Wissens: Resilienzstrategien und Innovationspotenziale im Angesicht der Moderne“

„Globalgeschichte von Religionen – Perspektiven und Erkenntnischancen“

„Religion – eine umstrittene Kategorie. Empirische und theoretische Ansätze zu ihrer Verwendung im Zeitalter der Säkularisierung“

„Umstrittene Objekte. Bedeutungswandel und Konflikte um Glauben und Wissen in der europäischen Transfergeschichte“

Mit seinem Motto „Glaubensfragen“ inspirierte der 51. Deutsche Historikertag 2016 nicht nur eine ganze Reihe von religionsgeschichtlichen Sektionen, sondern auch breitere Diskussionen zum Wirken von Religion(en), religiösen Institutionen, Glaube(n) und Säkularität in diversen sozialen, kulturellen und politischen Zusammenhängen. In der Gesamtschau der Sektionen und Referate lassen sich vor allem drei Forschungsrichtungen feststellen, welche durchaus mit Trends in der internationalen religionsgeschichtlichen Forschung der letzten Jahre korrespondieren. Die Trends wurden zum Teil durch historiografische und theoretische Entwicklungen (wie z.B. der Konjunktur einer transnationalen Geschichtsschreibung, der Hinwendung zu Fragen von Grenzüberschreitungen und Prozessen der Globalisierung und der postkolonialen Theorie) inspiriert und initiierten jüngst in mehreren Richtungen einen ertragreichen Dialog zwischen der Religionsgeschichte und anderen Forschungsfeldern. Auf dem Historikertag wurden insbesondere drei Entwicklungen thematisiert: Erstens ist in diesem Zusammenhang die Hinterfragung von zentralen Kategorien der religionsgeschichtlichen Forschung zur Neueren Geschichte zu nennen, die sich seit der zunehmenden Kritik an der Säkularisierungsthese in den letzten Jahren entwickelte. Namentlich forderten viele Rednerinnen und Redner eine verstärkte Reflexion und systematische Historisierung religionsgeschichtlicher Analysebegriffe (wie z.B. Religion, Säkularisierung). Zweitens bewirkte die schrittweise Dekonstruktion der Vorstellung von einer umfassenden Säkularisierung moderner Gesellschaften auch ein neues Interesse an der Überlagerung und dem Ineinandergreifen von Religionsgeschichte und Wissensgeschichte. Zumindest lässt sich in diesem Zusammenhang zunehmendes Interesse an religiösen Akteurinnen und Akteuren, Konjunkturen und Räumen der Wissensproduktion und -verbreitung beobachten. Drittens kann in diesem Zusammenhang auf den Einfluss von transnationalen Forschungsperspektiven und globalgeschichtlichen Ansätzen und Fragestellungen auf die Religionsgeschichte verwiesen werden, welcher auf dem Historikertag ebenfalls deutlich zur Geltung kam.

Insbesondere die von Lisa Dittrich (München) geleitete Sektion „Religion – eine umstrittene Kategorie. Empirische und theoretische Ansätze zu ihrer Verwendung im Zeitalter der Säkularisierung“ thematisierte die Notwendigkeit, die zentralen Analysebegriffe der Religionsgeschichte verstärkt zu hinterfragen und zu historisieren. Wie bereits im Titel angedeutet, stellte die Sektion das Verhältnis von Religion und Säkularität ins Zentrum des Interesses und fragte mit Verweis auf die Vielfalt von religiösen Phänomenen, die trotz der voranschreitenden Säkularisierung im 19. und 20. Jahrhundert existierte, nach historisch spezifischen Konstellationen des Sakralen und des Profanen. Bereits in ihrer Einleitung betonte LISA DITTRICH die Notwendigkeit, sich von binären Vorstellungen vom Verhältnis von Religion und Säkularität zu verabschieden und stattdessen ein flexibleres analytisches Instrumentarium zu entwickeln, um dieses Verhältnis historisch adäquat zu beschreiben. Den Mehrwert einer solchen Herangehensweise zeigte sie in ihrem anschließenden Beitrag zum Thema „Europäischer Antiklerikalismus zwischen Säkularisierung und religiöser Suche“ sehr anschaulich. In vielen Teilen Europas hätten Antiklerikale im 19. Jahrhundert darum gekämpft, staatliche Sphären jenseits des Einflusses der Kirchen (und insbesondere der Katholischen Kirche) zu schaffen. Dabei sei es der großen Mehrheit von Antiklerikalen jedoch nicht um eine – wie auch immer geartete – einfache Ablehnung von Kirche und/oder Religion gegangen. Vielmehr hätten diese Gruppen, zu denen laut Dittrich neben Atheisten auch Spiritisten, Protestanten und liberale Katholiken zählten, auch das, was sie als richtige Religion (zum Beispiel als „wahren Katholizismus“) und ihren Platz in Staat und Gesellschaft verstanden, gesucht. Dittrich argumentierte u.a. mit Verweis auf die Sprache der Antiklerikalen, dass dieser – auf Säkularisierung abzielenden Bewegung – eine spezifische Form von Religiosität bzw. Praktiken der Sakralisierung inhärent waren. So sprachen die Antiklerikalen u.a. von der Heiligkeit des Wissens, heiligen Gütern oder Offenbarungen.

Die grundsätzliche Ambivalenz im Verhältnis von Säkularität und Religion unterstrich auch das zweite Referat dieser Sektion, in dem MARTIN BAUMEISTER (Rom) das Verhältnis der sogenannten politischen Religion in totalitären Regimen zu anderen Religionen untersuchte. Unter dem Titel „Sakralisierung der Politik und Politisierung der Religion in den europäischen Faschismen“ ging Baumeister insbesondere der Frage nach, inwieweit der Zusammenhang zwischen Säkularisierung und politischer Religion analytisch tragfähig ist. Dabei wies er zunächst auf die wichtige Erkenntnis hin, dass dieser Zusammenhang bereits von Zeitgenossen hergestellt wurde. So implizierte zum Beispiel die Rede von der politischen Religion von Beginn an im Kern die Idee, dass diese wesentliche Funktionen von traditioneller Religion, so wie z.B. den Absolutheitsanspruch und grundlegende Entscheidungen zwischen Gut und Böse, übernommen hätten. Andererseits hätte auch die in Teilen der katholischen Publizistik verwendete Bezeichnung des Nationalsozialismus als Neuheidentum zur Konzeptualisierung der sogenannten politischen Religionen in der Zwischenkriegszeit beigetragen. Baumeisters Referat stellte diesen einfachen Zusammenhang jedoch grundlegend in Frage: Indem er am Beispiel des faschistischen Italiens aufzeigte, dass dessen Verhältnis zur Katholischen Kirche ambivalent und vielstimmig war, argumentierte er, dass die religiösen Semantiken faschistischer Ideologien nicht auf den Bedeutungsverlust des Religiösen, sondern vielmehr auf dessen Pluralisierung und wachsende Kraft in der Herstellung von Weltdeutungen und Legitimationszusammenhängen hinweisen würden. In eine ähnliche Richtung argumentierte anschließend auch HELENA TÓTH (Bamberg), die sich in ihrem Referat zum Thema „Religion als Ritual“ am Beispiel von Namensweihen in der DDR und in Ungarn kritisch mit der Frage nach der analytischen Kategorie der Ersatzreligion auseinandersetze.

Auch das vierte und letzte Referat in dieser Sektion von LUCIAN HÖLSCHER (Bochum) adressierte die Frage nach dem Verhältnis zwischen Religion und Säkularität mit chronologischem Schwerpunkt auf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Unter dem Titel „Säkularität zwischen Inkarnationstheologie und Religionsverachtung – die deutschen Großkirchen in der Nachkriegszeit“ wies Hölscher zunächst darauf hin, dass der moderne Religionsbegriff bereits seit seinem Aufkommen um 1800 widersprüchlich angelegt war, weil dieser sowohl von Religionsvertretern als auch von Religionskritikern konstituiert worden sei. Ähnlich verhielt es sich mit dem Konzept der Säkularisierung, weshalb Hölscher eindringlich für größere analytische Schärfe in dessen Anwendung plädierte. Inwieweit die Kirchen der Nachkriegszeit als säkular bezeichnet werden könnten, würde folglich zu einer überaus komplexen und mehrschichtigen Frage. Diese müsse sowohl den (formellen) Rückgang von Mitgliederzahlen und Teilnahme berücksichtigen, als auch die Pluralisierung von religiösen Vorstellungen und dogmatischen Positionen sowie den wachsenden Einfluss einiger kirchlicher Gruppen und Amtsträger in den Blick nehmen. Die Frage nach der grundsätzlichen Möglichkeit einer analytischen Trennung der religiösen von der säkularen Welt griff schließlich auch SIEGFRIED WEICHLEIN (Fribourg) in seinem Kommentar auf, wobei die folgende Diskussion erneut auf die von Lisa Dittrich eingangs gestellte Forderung einer radikalen Kontextualisierung und Historisierung dieser Frage zurückkam.

Insgesamt betrachtet, konnte die Sektion überzeugend darlegen, dass binäre Vorstellungen von Religion und Säkularisierung analytisch nicht ausreichen, um die in den Referaten untersuchten Phänomene zu fassen. Die Sektion knüpfte damit an die jüngst vielzitierten und überaus einflussreichen Arbeiten von Sozialwissenschaftlern wie José Casanova und Talal Asad an1, die für ein Verständnis von Säkularisierung plädieren, welches diese nicht mehr als notwendige Begleiterscheinung der Moderne oder gar automatischen Prozess im 19. und 20. Jahrhundert begreift. Stattdessen verstehen diese Autoren und Autorinnen Säkularisierung als einen kontinuierlichen Prozess der Aushandlung, welcher nicht in dem schrittweisen Ausschluss des Religiösen, sondern vielmehr mit Blick auf den Fortbestand des Religiösen und seiner Kompatibilität mit dem Säkularen untersucht werden soll. Dem implizit ist ein neues Interesse der Forschung, welche sich nun nicht mehr primär für grundlegende Spannungen zwischen Religion und modernen Gesellschaften interessiert, sondern vielmehr den Fortbestand von Religion und die Transformation des Religiösen unter Vorzeichen der voranschreitenden Säkularisierung in den Blick nimmt.

Die Inspiration durch die jüngere Kritik am Säkularisierungsparadigma war auf dem Historikertag 2016 auch in einigen anderen Sektionen deutlich feststellbar. So setzte sich zum Beispiel die von Simone Lässig (Washington), Hedwig Röckelein (Göttingen) und Kerstin von der Krone (Washington) geleitete Sektion „Dynamiken religiösen Wissens: Resilienzstrategien und Innovationspotenziale im Angesicht der Moderne“ mit der Bedeutung von religiösem Wissen als eine wesentliche Ressource in Zeiten gesellschaftlicher Veränderung und Herausforderungen im 19. und 20. Jahrhundert auseinander. Im Rückgriff auf das Konzept der Resilienz wurde hier untersucht, in welchen historischen Kontexten diverse Akteurinnen und Akteure (traditionelle) religiöse Wissensbestände aufgriffen, um angesichts großer Veränderungen Gemeinschaft zu stiften, Kollektive zusammenzuhalten und gesellschaftliche Herausforderungen zu meistern. Dabei war es insbesondere der breite wissensgeschichtliche Zugang der Sektion, der spannende Fragen aufbrachte und Zusammenhänge herstellte: So thematisierte bereits die Einführung von SIMONE LÄSSIG eine Reihe von zentralen Fragen nach der Produktion, Herkunft, Verbreitung, Trägerschaft etc. von Wissen (auch jenseits von einem engen Fokus auf Wissenschaft einerseits sowie der Spannung zwischen Glauben und Wissen andererseits). Religiöses Wissen, so die Ausgangsthese der Sektion, war in bestimmten historischen Kontexten des 19. und 20. Jahrhunderts sozial relevant und konnte folglich als Katalysator für gesellschaftliche und kulturelle Innovationen wirken. Diese Kenntnis wiederum macht die Forderung nach einer Neubewertung des Religiösen auch für die Wissens- und Bildungsgeschichte virulent. Die Referate zeigten das große Potential dieser Forschungsrichtung, indem sie religiöse Akteurinnen und Akteure, Wissensbestände, Semantiken, Praktiken und Räume der Wissensproduktion in den Blick nahmen und die (gewollte und ungewollte) dynamische Bedeutung des Religiösen für die bislang meist als säkular definierten Wissensordnungen moderner Gesellschaften aufzeigten.

Die einzelnen Referate taten dies aus der unterschiedlichen Perspektive verschiedener religiöser Gruppen und historischer Kontexte des 19. und 20. Jahrhunderts. KERSTIN VON DER KRONE eröffnete mit einem Referat über „Alte und neue Wissensordnungen in der deutsch-jüdischen Geschichte“. Sie untersuchte mit Blick auf Kontinuitäten und fundamentalen Wandel in der jüdische Erziehung und Bildung, wie sich Wissensordnungen im deutschen Judentum des 19. Jahrhunderts pluralisierten und zugleich zum Fundament einer neuen jüdischen Erziehung wurden, deren Herausbildung als wesentliche Antwort auf breite sozio-kulturelle Veränderungen gesehen werden müsse. Auch das anschließende Referat von ANTHONY STEINHOFF (Montreal) betonte die zentrale Bedeutung von religiösen Einrichtungen für die Produktion und Verbreitung von Wissen im Allgemeinen und religiösem (oder konfessionellem) Wissen im Besonderen. Unter dem Titel „Religiöses Wissen im Grenzland: Religionsunterricht und akademische Theologie in Elsaß-Lothringen, 1870-1914“ zeigte Steinhoff am Beispiel seiner Fallstudie, dass die deutsche Bildungspolitik auch nach 1871 nicht darauf abzielte, jegliches religiöses Wissen aus der Schule zu verbannen. Vielmehr seien die bildungspolitischen Debatten und Auseinandersetzungen darum gekreist, was für ein religiöses Wissen und welche religiösen Inhalte den künftigen Bürgerinnen und Bürgern vermittelt werden sollten. Die grundsätzliche gesellschaftliche Bedeutung religiösen Wissens wurde laut Berghoff in Elsass-Lothringen nicht infrage gestellt. Anders formuliert, es stand nicht die Legitimität von religiösem Wissen als solchem, sondern vielmehr die Frage nach der Kontrolle von schulisch vermittelten Wissensbeständen und -ordnungen im Zentrum der politischen Debatten.

Die Frage nach der Autorität über (religiöse) Wissensordnungen bildete auch einen wichtigen Aspekt im Referat von JANA TSCHURENEV (Göttingen), welches sich mit dem Thema „Religion und Sozialreform im kolonialen Indien: Anti-Kasten-Bewegung, Feminismus und die Kritik des ‚Hinduismus‘“ beschäftigte. Tschurenev stellte mit Savitribai Phule und Pandita Ramabai zwei prominente indische Reformerinnen und Aktivistinnen für die Frauenbildung ins Zentrum ihrer Analyse. Dabei argumentierte sie, dass theologische und soziale Reformbewegungen im kolonialen Indien Mitte des 19. Jahrhunderts sehr eng ineinanderwirkten. Vor dem Hintergrund der Neukonstitution des Hinduismus nach Vorbild des evangelischen Christentums hätte sich in Indien eine Anti-Kasten-Bewegung formiert, welche in ihrem Kampf gegen die von Brahmanen etablierte soziale Ordnung auch auf religiöse Wissensbestände zurückgriff und alte brahmanische Dokumente neu interpretierte, um sowohl Frauen als auch Angehörigen niederer Kasten Zugang zu Bildung zu verschaffen. Ebenfalls in einem kolonialen Kontext angesiedelt war der Beitrag von ESTHER MÖLLER (Mainz), welcher die vielfältigen (jüdischen, katholischen oder säkularen) französischen Bildungseinrichtungen im Libanon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Blick nahm. Unter dem Titel „Transnationale Dimensionen religiösen und kulturellen Wissens im spätkolonialen Nahen Osten“ konnte Möller zeigen, wie religiöse Wissensbestände und Bildungseinrichtungen im Libanon zu unterschiedlichen Zeitpunkten und vor dem Hintergrund bestimmter sozialer und politischer Konstellationen während der Mandatszeit für diverse Gruppen an Bedeutung gewinnen oder aber auch verlieren konnten.

Während die Sektion den Zusammenhang von Wissensordnungen und Religion insgesamt als ein überaus spannendes und dynamisches Forschungsfeld präsentierte, kontextualisierte der abschließende Kommentar von HEDWIG RÖCKELEIN die einzelnen Referate vor dem Hintergrund intellektueller und politischer Auseinandersetzungen mit Religion in der europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Damit kritisierte auch Röckelein lineare Vorstellungen und Narrative von Modernisierung, welche einen parallelen Bedeutungsverlust von Religion voraussetzen. Stattdessen schloss sie mit der Frage, inwieweit das aktuell vielzitierte Konzept der ‚Resilienz‘ als heuristisches Instrument dienen kann, um eine dynamischere Erzählung von den intendierten und nichtintendierten Bedeutungen von religiösen Wissensbeständen und Inhalten für moderne Wissensordnungen zu entwickeln. In der anschließenden Diskussion kamen schließlich die wichtigen und grundlegenden Fragen nach der – der Sektion zugrunde liegenden – Definition von religiösem Wissen sowie dessen implizitem Verhältnis zu Fragen von Glauben, Sakralität und Dogmatik auf.

Insgesamt kann für die hier besprochenen religionsgeschichtlichen Sektionen festgestellt werden, dass sich der breite Zugang zu Fragen von Glauben und Religion als ertragreich erwies, weil dieser ermöglicht, das Ineinandergreifen von Religion und Wissen bzw. Religion und Gesellschaft im Allgemeinen auch jenseits von engeren (theologischen) Glaubensfragen zu untersuchen. Wie vielfache jüngere Studien gezeigt haben, erlaubt gerade so ein Zugang einen spannenden Dialog zwischen der Religionsgeschichte und anderen geschichtswissenschaftlichen Forschungsfeldern und -perspektiven.

So rückten in den letzten Jahren gerade religiöse Akteurinnen und Akteure sowie Institutionen verstärkt in das Interesse von allgemein- und insbesondere kulturhistorisch orientierten Studien.2 Inspiriert durch globalgeschichtliche Ansätze und transnationale Forschungsperspektiven erhielten insbesondere christliche Missionarinnen und Missionare neue Aufmerksamkeit. Des Weiteren schenkten Historikerinnen und Historiker christlichen Missionsinstitutionen und ihren weltweiten Netzwerken in- und außerhalb kolonialer Imperien großes Interesse. Diese Studien nehmen die Existenz von weitgehend religiösen bzw. kirchlichen Infrastrukturen, Akteurinnen und Akteuren sowie Austauschbeziehungen zum Ausgangspunkt, um die grenzüberscheitende Zirkulation von Gütern, Ideen und Personen zu untersuchen. Auf dem Historikertag war es insbesondere die von Felix Brahm (London) und Bettina Brockmeyer (Bielefeld) geleitete Sektion, in welcher die Frage nach der Rolle von Objekten im afrikanisch-europäischen Kontakt sowie die vielfachen (religiösen und profanen) Bedeutungszuschreibungen an diese Objekte in Afrika und Europa diskutiert wurde.

Unter dem Titel „Umstrittene Objekte. Bedeutungswandel und Konflikte um Glauben und Wissen in der afrikanisch-europäischen Transfergeschichte“ knüpfte die Sektion einerseits an die oben skizzierte religionsgeschichtlich inspirierte Wissensgeschichte an, während sie andererseits in besonderer Weise die transnationalen Aktivitäten von (religiösen) Akteurinnen und Akteuren ins Zentrum der Betrachtung stellte. So waren es laut dem Referat von FELIX BRAHM zum Thema „Die Waffen der Missionare. Zur Bedeutung von Feuerwaffen und ihrem Transfer in der kulturellen Kontaktzone Ostafrikas (1850er-1890er Jahre)“ u.a. evangelische Missionare, welche Handfeuerwaffen aus Europa in das vorkoloniale Buganda (Uganda) gebracht hätten, wo sie diese als beliebte Transfergüter zunächst zum Aufbau von Vertrauen, zur Erzeugung von Wohlwollen seitens lokaler Herrscher und zur Festigung sozialer Beziehungen verwendet hätten. Auch die anschließenden Vorträge präsentierten bestimmte transnationale Objektgeschichten im Spannungsfeld von Praktiken des Glaubens und des Wissens. BETTINA BROCKMEYER untersuchte Bedeutungszuschreibungen, welche sich im (post)kolonialen Deutschland anhand von bestimmten menschlichen Überresten aus dem kolonialen Afrika entwickelten. Unter dem Titel „Europäischer Aberglaube oder Kulturtransfer? Afrikanische menschliche Überreste aus der deutschen Kolonialzeit im Wandel der Bedeutungen“ analysierte sie die diversen magischen Dimensionen, welche sich um den Schädel von Chief Mkwawa aus Uhehe (Tansania), der sich 1898 selbst getötet hatte, um der Gefangenname durch deutsche Truppen zu entgehen, in Ostafrika und Deutschland im Laufe der Zeit gebildet hatten.

Das Referat von KRISTIN WEBER (Leipzig) zum Thema „Vom Glauben an die wissenschaftliche Objektivität. Museale Kultur und Praxis im kolonialen/postkolonialen Ostafrika“ stellte hingegen den Glauben des Wissenschaftler bzw. der Wissenschaftlerin ins Zentrum der Betrachtung. Am Beispiel der Bestände aus Deutsch-Ostafrika im Königlichen Museums für Völkerkunde in Berlin thematisierte sie, wie der feste Glaube deutscher Ethnologen an eine objektive und objektzentrierte Wissensproduktion nicht nur deutsche Ethnologen in Berlin beflügelte, sondern auch der Sammeltätigkeit von Missionaren, Kolonialbeamten und Militärs neue Bedeutung verliehen habe. Die politischen Dimensionen dieser Sammeltätigkeit in kolonialen Kontexten diskutierte im Anschluss das Referat von REBEKKA HABERMAS (Göttingen). Unter dem fragenden Titel „Wie die Benin Bronzeköpfe nach Berlin kamen. Kunst und Ethnographicahandel um 1900“ plädierte Habermas für eine konsequente Analyse der politischen Dimensionen dieser objektzentrierten Wissensgeschichten.

In der Gesamtschau machten die beiden zuletzt besprochenen Sektionen überaus deutlich, dass religiöse Akteurinnen und Akteure mittlerweile von der Wissensgeschichte durchaus wahr- und ernst genommen werden. Zudem verwiesen sie auf eine Reihe von spannenden Fragestellungen, welche sich insbesondere durch die Berücksichtigung von transnationalen und globalgeschichtlichen Forschungsansätzen für die Religionsgeschichte ergeben.

Während es in der Vergangenheit nur wenig Dialog und Austausch zwischen der Religionsgeschichte und der Globalgeschichte gegeben hat, war das Verhältnis beider Forschungsfelder auf dem Historikertag durch eine von Olaf Blaschke (Münster) geleitete und konzeptionell angelegte Sektion vertreten. Im Zentrum der Sektion „Globalgeschichte von Religionen – Perspektiven und Erkenntnischancen“ standen das positive Ausloten von Chancen und potentiellen Bereicherungen durch einen verstärkten Dialog zwischen Religions- und Globalgeschichte. Bereits einleitend diagnostizierte OLAF BLASCHKE in diesem Zusammenhang ein gewissermaßen doppeltes Forschungsdesiderat: Zum einen hätten sich die Religions- und Kirchengeschichte bislang nicht oder nur sehr wenig von global- und verflechtungsgeschichtlichen Ansätzen inspirieren lassen. Zum anderen suchte er mit dem Verweis auf das Primat des Ökonomischen zu erklären, warum Globalhistorikerinnen und -historiker bislang nur sehr geringes Interesse für religionsgeschichtliche Fragen und Themenstellungen aufbracht hätten. Ziel der Sektion war es, hier eine Änderungen zu bewirken und die beiden Forschungsfelder miteinander ins Gespräch zu bringen. Für die Globalgeschichte wurde dies von MARGIT PERNAU (Berlin) exerziert. Ihr Beitrag zum Thema „Religion in der Globalgeschichtsschreibung: Die Emotionen der kolonialen Moderne in Indien“ argumentierte, dass globale Narrative den Faktor Religion nach wie vor kaum berücksichtigten, obwohl die wachsende öffentliche Bedeutung des Religiösen und des Emotionalen für viele Gesellschaften des 19. Jahrhunderts weithin bekannt sei. Eine so konzipierte Globalgeschichte, so Pernau, liefe Gefahr eurozentrische Positionen zu vertiefen und weiter zu verfestigen, indem sie nach wie vor in Vorstellungen und Theoremen von Wandel und Entwicklung (z.B. mit Blick auf Rationalisierung und Säkularisierung) verhaftet bleibe, deren Wurzeln im 19. Jahrhundert lägen. Schließlich plädierte auch das Referat des Religionswissenschaftler VOLKHARD KRECH (Bochum) für eine grundsätzliche Berücksichtigung globalgeschichtlicher Ansätze in religions- und kirchengeschichtlichen Fragen, denn nur eine so orientierte Disziplin würde das Schreiben einer integrativen Religionsgeschichte ermöglichen. Der abschließende Kommentar von REBEKKA HABERMAS rückte erneut die Frage nach dem Verhältnis des Religiösen und des Säkularen und die gegenseitige Konstituierung beider Begrifflichkeiten und Zuschreibungen ins Zentrum der Diskussion. Indem sie einerseits darauf verwies, dass Religion historisch zu keiner Zeit ein nationales Phänomen darstellte, kritisierte sie anderseits auch die Globalgeschichte, welche das Säkulare und seine historische Existenz gewissermaßen unausgesprochen voraussetzen würde. Damit schloss die die Sektion mit der Diskussion eines Themas und der Forderung nach der Historisierung von zentralen Analysebegriffen, welche aktuell zahlreiche Religionshistorikerinnen und Historiker auch jenseits des Historikertags intensiv beschäftigt.

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B. José Casanova, Rethinking Secularization: A global comparative Perspective, in: The Hedgehog Review (2006), S. 101–120; Talal Asad, Formations of the Secular. Christianity, Islam, Modernity, Stanford 2003.
2 Vgl. z.B. Rebekka Habermas / Richard Hölzl (Hrsg.), Mission Global. Eine Verflechtungsgeschichte seit dem 19. Jahrhundert , Köln 2014; Siegfried Weichleich / Linda Ratschiller (Hrsg.), Der schwarze Körper als Missionsgebiet. Medizin, Ethnologie, Theologie in Afrika und Europa 1880–1960, Köln 2016.