Forum: „Ungekämmte Köpfe und müde Gesichter“ – Digitale Lehre - Interview mit Thomas Werneke (Humboldt-Universität zu Berlin)

Von
Thomas Werneke, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

H-Soz-Kult: Herzlichen Dank an Sie, Herr Werneke, dass Sie direkt Ihre frischen Erfahrungen aus der Digitalen Lehre vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie einbringen. Vielleicht berichten Sie erst einmal etwas über Ihre persönlichen Forschungs- und Lehrtätigkeiten: Mit welchen Themen beschäftigten Sie sich und wie fließen diese in Ihre derzeitige digitale Lehre ein?

Thomas Werneke: Liebe Kolleg/innen, vielen Dank für die Anfrage. Ich möchte vielleicht zu Beginn gleich begrifflich unterscheiden zwischen Digitaler Lehre als eine mit digitalen Hilfsmitteln abgehaltene Lehrtätigkeit und der Lehre, die sich mit inhaltlichen digitalen Themen und Methoden beschäftigt, was gemeinhin unter dem Sammelbegriff Digital Humanities firmiert. Während sich letztere in den letzten Jahren langsam immer mehr als neues Segment in den Geisteswissenschaften zu etablieren suchte, hat erstere ja eine spontane Konjunktur erfahren. Der Bedarf nach einer digital geführten Lehre aufgrund der Einschränkungen im öffentlichen Lehrraum wird das Fach im kommenden Sommersemester vor eine sehr große Herausforderung stellen.

Meine persönlichen Lehrerfahrungen, von denen ich heute hier berichten kann, umfassen beide Typen. Ich habe in den letzten Jahren häufiger Workshops organisiert, in denen Studierenden und Kolleg/innen das fachhistorische Arbeiten mit digitalen Methoden nähergebracht werden sollte. Dies beinhaltete etwa Fragen nach der Zitierweise digitaler Quellen, das Auswerten von großen Textmengen mit digitalen Werkzeugen, als auch die erkenntnistheoretischen und methodischen Fallstricke bei der Evidenzerzeugung mit Algorithmen. All diese Lehrveranstaltungen waren im Übrigen Präsenzworkshops. Zum anderen lehre ich regelmäßig seit einigen Jahren in dem Study Abroad-Programm FU-BEST der Freien Universität einen Kurs zu individuellen totalitären Erfahrungen im 20. Jahrhundert. Auch diese Kurse sind Präsenzveranstaltungen und kamen bis Mitte März dieses Jahres ohne digitale Konferenzsoftware aus. Dies hat sich allerdings für die Dozierenden dieses Programmes schlagartig geändert, als unsere Student/innen aufgrund der Pandemie zurück in die Vereinigten Staaten mussten. Damit diese ihre Kurse dennoch erfolgreich beenden können, hat sich das Programm dazu bereit erklärt, den Rest der Sitzungen des Semesters als „Webinare“ anzubieten.

H-Soz-Kult: Wie laufen diese Webinare ab, welche Vorbereitungen waren hierfür nötig?

Thomas Werneke: Unser Academic Director für FU-BEST, Dirk Verheyen, hat sehr rasch zusammen mit dem Kollegium eine digitale Lösung für die Lehre organisiert, die es nun dem gesamten Programm erlaubt, die Kurse zu Ende zu führen. Als Konferenzsoftware verwenden wir dabei Zoom https://zoom.us. Damit verbinden sich gewisse Vorteile, aber auch einige problematische Dinge. Gut geeignet für die digitale Lehre ist es, weil alle Teilnehmer/innen sich auf einen Blick sehen können – das nennt sich dann Kachelmodus. Außerdem ist Zoom einsteigerfreundlich, etwa beim Teilen des eigenen Bildschirms mit den Teilnehmer/innen einer Sitzung. Auch ist es möglich, Sitzungen aufzuzeichnen, die könnte man später anderen Studierenden, die nicht an der Sitzung teilnehmen konnten, zur Verfügung stellen.

Schwieriger, aber umso wichtiger ist das Thema Datenschutz. Hier zeigen sich die Schwächen von Zoom, und es ist unabdingbar, dass die Rechte zur Eröffnung einer Sitzung und bei der Teilnahme-Erlaubnis nur einem Meeting-Administrator zustehen. So ist gesichert, dass niemand, der unberechtigt an den Meeting-Link gekommen ist, einfach so die Sitzung kapern kann. Wenn Meetings aufgezeichnet werden, sind Einverständniserklärungen aller Beteiligten erforderlich. Diese wurde etwa im FU-BEST Programm von allen Dozierenden und Studierenden eingeholt.

H-Soz-Kult: Über Konferenzsoftware kommt man zwar in Kontakt, aber wie verhält es sich mit dem direkten, persönlichen Kontakt, beispielsweise nach einer Lehrveranstaltung? Wie wirkt sich das rein digitale Zusammentreffen aus?

Thomas Werneke: Ich habe gerade meine erste digitale Sitzung abgehalten. Ortszeit Berlin um halb zwei nachmittags, was für manche meiner Studierenden bedeutete, um halb fünf morgens (West Coast) aufzustehen, um am Kurs teilnehmen zu können. Ich blickte auf ungekämmte Köpfe und in müde Gesichter. Kaffeetassen waren deutlich im Sichtfeld einiger Webcams platziert worden, bevor der Kurs startete. Zunächst habe ich kurz erläutert, wie wir zusammen Zoom nutzen können, um etwa Diskussionen zu führen, welche Zeichen fürs „sich melden“ wir etablieren wollen und welche neuen Anforderungen für die Studierenden nun bestehen, um diesen nun digitalen Kurs fortzusetzen.

Sofort wurde mir bewusst, wie sehr der materielle Klassenraum fehlte, in welchem ich mich frei durch den Raum bewegen konnte. Meine recht ausgeprägte Körpersprache musste ich zudem auf ein Maß reduzieren, damit es von der Webcam überhaupt noch eingefangen werden konnte. Auch ist es schwer, die Stimmung der Studierenden in ihrer Gesamtheit einzufangen. Der virtuelle Raum lässt sich schwer fühlen. Auf der anderen Seite tritt auch eine persönliche Komponente hinzu. Alle Teilnehmer/innen blicken in persönliche Räume der anderen. Der Hintergrund ist stark individualisiert, mal provisorisch, mal sehr bewusst gewählt.

Welche konkreten Auswirkungen der digitale Klassenraum auf die Lehre haben wird, kann ich noch nicht abschließend beurteilen. Erfrischend für mich war es, dass es besser lief, als ich erwartet hatte. Auch Diskussionen waren immer noch möglich, wobei das Moderationstalent auf besondere Weise gefragt ist. Außerdem ist in den ersten Sitzungen, die ich auf diese Weise bestreite, der Vorbereitungsaufwand größer, als zuvor, was ja nicht schlecht sein muss.

H-Soz-Kult: Über den Online-Unterricht hinaus: Stehen Sie sonst über andere Kanäle mit den Studierenden in Kontakt, beispielsweise in einer Art studienbegleitendem Mentoring, bieten Sie „digitale Sprechstunden“?

Thomas Werneke: Mit den Studierenden läuft der Kontakt derzeit hauptsächlich über E-Mails und Blackboard-Kommunikation. Ich denke aber in der Tat gerade darüber nach, eine virtuelle Sprechstunde einzurichten, die dann einmal in der Woche für zwei Stunden stattfinden soll. Das lässt sich ja terminlich ähnlich organisieren wie Präsenzsprechstunden. Bei Zoom kann man die Studierenden etwa in einen virtuellen Warteraum eintreten lassen, bis man diese in die Videoschalte hineinholt. Ganz wie im echten Leben, falls ein Gespräch mit dem vorherigen Termin mal länger dauern sollte.

H-Soz-Kult: Wie bei allen unseren Interviewpartner/innen natürlich auch an Sie unsere abschließende Frage: Welche Anregungen möchten Sie den Kolleginnen und Kollegen für die Planung und Durchführung digital (gestützter) Lehre mit auf den Weg geben?

Thomas Werneke: Struktur, Struktur, Struktur. Das Abhalten von digitalen Seminaren erfordert viel Struktur. Nicht nur die Organisation des digitalen Lehrraums, sondern auch das Sicherstellen eines möglichst reibungslosen Verlaufs benötigt eine gute Vorbereitung inklusive Einarbeitung in das entsprechende Konferenztool. Es kann etwa nicht schaden, so eine Video-Session mit Kolleg/innen vorher zu simulieren, um sich möglicher Fallstricke bewusst zu werden. In den ersten Sitzungen zahlt man dabei viel Lehrgeld und sammelt Erfahrungen, wie man die digitalen Seminare geschickter durchführt.

Auch das Moderationstalent der Dozierenden ist gefragt, sonst wird aus dem Seminar schnell eine Vorlesung. Dafür muss man sich eventuell auf andere Formen der Zusammenarbeit einlassen, etwa auf Gruppenarbeit.

Ich hätte zwar nicht gedacht, das mal zu sagen, aber ein gewisses Multi-Tasking-Talent ist auch gefragt – irgendwo zwischen dem Bedienen der Software und dem Durchführen des Seminars auch noch die vielen kleinen Videomonitore im Blick zu halten und technische Probleme einzelner Studierender zu managen, erfordert viel Überblick.

Eine große Chance für die digitalen Formate sehe ich darin, dass es damit nun viel einfacher wird, sich auch mal einen Gastredner ins Seminar zu holen. Dies ist schon allein deshalb interessant, um den etwaigen, durch das digitale Format entstehenden Qualitätsverlust etwas aufzuwiegen. Gerade die Möglichkeiten, internationale Gastredner für solche digitalen Lehrveranstaltungen zu gewinnen, halte ich für sehr reizvoll und dann technisch einfach umzusetzen. Und natürlich gilt dies auch anders herum, wenn man selbst als ein Gastredner vor Studierenden anderer Universitäten spricht.

Dennoch möchte ich zum Schluss eine Lanze für die Präsenz-Lehre brechen. Ich kann mir nicht vorstellen, Lehre nur noch in diesem Format abzuhalten. Dafür geht zu viel unmittelbare Erfahrbarkeit gemeinsamen Lernens verloren. Dennoch erhoffe ich mir, dass mit der jetzigen Krise der Lehre der Knoten platzt, um diese digitalen Formate auch später weiter für die herkömmliche Lehre zu verwenden, allein schon, weil dann ja die entsprechende Infrastruktur zur Verfügung steht und die Dozierenden nach dem Sommersemester über eine größere Expertise verfügen dürften.