Forum: Digitales Lehren: T. Graf: Reflexionen über das digitale Sommersemester 2020

Von
Tobias Graf, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Um die folgenden Überlegungen einzuordnen, möchte ich mich zunächst kurz vorstellen. Seit dem Wintersemester 2019/2020 bin ich Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Europäische Geschichte der Frühen Neuzeit von Matthias Pohlig am Institut für Geschichtswissenschaften (IfG) der Humboldt-Universität zu Berlin (HU). Promoviert wurde ich an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg mit einer Dissertation zur Elitenbildung im Osmanischen Reich 1, nachdem ich zuvor Geschichte an der University of Cambridge studiert hatte. Unmittelbar vor meinem Wechsel nach Berlin war ich zwei Jahre lang Mitarbeiter im vom ERC finanzierten Forschungsprojekt „Stories of Survival. Recovering the Connected Histories of Eastern Christianity in the Early Modern World“ unter Leitung von John-Paul Ghobrial an der University of Oxford, sammelte erste Lehrerfahrung jedoch bereits im akademischen Jahr 2016/2017 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere Geschichte von Renate Dürr in Tübingen. Das Sommersemester 2020 ist insgesamt mein viertes Lehrsemester.

Seit Ende März 2020 arbeite ich in der Arbeitsgemeinschaft „Digitale Lehre“ am IfG mit, die sich spontan unter der Leitung der Geschäftsführenden Direktorin des Instituts Barbara Schlieben konstituierte, um innerhalb kürzester Zeit Empfehlungen für die Übersetzung von traditionellen Lehrveranstaltungen der Lehrenden des IfG in digitale Formate zu erarbeiten. Zu diesem Zeitpunkt wurde mit Verweis auf Engpässe bei Serverkapazitäten bei Videokonferenzdiensten mit Nachdruck die asynchrone Lehre empfohlen. Deshalb bestand meine Aufgabe vor allem darin, praxisnahe Beispiele für den Einsatz der vielfältigen Möglichkeiten zu erstellen, welche von der an der HU verwendete Lernplattform Moodle sowie anderer vom Computer- und Medienservice der HU angebotener Dienste bereitgestellt werden. Im Laufe des Semesters war ich zudem gemeinsam mit Matthias Pohlig federführend an der Vorbereitung und Durchführung einer Befragung der Lehrenden des IfG beteiligt, deren Ziel nicht zuletzt die Verbesserung und Erweiterung der zu Beginn des Semesters formulierten Handreichung für die digitale Lehre ist.

Unterrichtet habe ich in diesem Semester zwei Lehrveranstaltungen: ein Proseminar zur Geschichte des Osmanischen Reiches im 16. Jahrhundert und ein Vertiefungsseminar zum transatlantischen Sklavenhandel, die beide überwiegend auf virtuelle Präsenzlehre mittels Zoom setzten. Diese Themenwahl war eine kurzfristige Reaktion auf die Bibliotheksschließungen, denn die eigentlich geplanten Themen wären in dieser Situation kaum sinnvoll lehrbar gewesen. Der transatlantische Sklavenhandel bot sich zudem nicht zuletzt deshalb als Thema an, weil hier sehr gute und öffentlich zugängliche Online-Ressourcen zur Verfügung stehen. Zudem ermöglichte die weitgehende Öffnung von Plattformen wie JSTOR und Project Muse für Nichtabonnenten als Reaktion auf die Covid-19-Pandemie den Zugang zu Literatur, die im Normalfall nicht in den Bibliotheken der Humboldt-Universität verfügbar gewesen wäre. Damit boten beide Themen auch mögliche Perspektiven für Hausarbeiten selbst für den Fall, dass die Bibliotheken über den gesamten Sommer hinweg geschlossen blieben.

Das erste flächendeckende Digitalsemester hat viel Kritik geerntet. Ohne einer entsprechenden Umfrage auf H-Soz-Kult in den kommenden Wochen vorgreifen zu wollen, die Matthias Pohlig und ich auf Anregung der Redaktion aktuell vorbereiten, legen persönliche Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen sowie Studierenden, offene Briefe und Petitionen, aber auch die Rücklaufe der Lehrveranstaltungsevaluationen am IfG nahe, dass die Online-Lehre in den Augen einer großen Zahl von Lehrenden und Studierenden bestenfalls eine Notlösung in dieser ersten Phase der Pandemie war, aber keinesfalls einen akzeptablen Ersatz für die klassische Präsenzlehre darstellt. In der bereits erwähnten Befragung unter den Lehrenden des IfG, an der immerhin 57,4 Prozent der Dozierenden teilgenommen haben, gaben rund 76,9 Prozent der Befragten an, dass sie die Präsenzlehre der Online-Lehre vorzögen. Die Online-Lehre bevorzugten demgegenüber nur rund 2,6 Prozent der Befragten, wohingegen 15,4 Prozent angaben, keine Präferenz zwischen den beiden Lehrformen zu haben. Inwiefern dieses Ergebnis repräsentativ für die mitteleuropäische Universitätslandschaft ist, wird sicherlich die kommende Umfrage von H-Soz-Kult zeigen.

Auch ich zähle zu den Lehrenden, die das gerade beendete Semester kritisch sehen. Das liegt jedoch nicht allein an einer persönlichen Präferenz für die Kursgemeinschaft im realen Raum und die vielfältigen, intuitiven Möglichkeiten, sich am Rande von Seminaren mit einzelnen Studierenden auszutauschen. Ebenso wenig richten sich meine Bedenken gegen die im diesem Semester zweifelsohne höhere Arbeitsbelastung, die in meinen Augen wesentlich eine Konsequenz der Einarbeitung in neue Lehrformate und Technologien unter den erschwerten Bedingungen der Arbeit von zu Hause waren. Allerdings ist auch nicht zu unterschätzen, welche Verwerfungen aus der durch Bibliotheksschließungen verursachten Verschiebung der Abgabe von Hausarbeiten entstanden sind; denn diese werden teilweise bis ins kommende Semester hineinreichen.

Nachdenklich stimmt mich vor allem der nicht zuletzt durch Rückmeldungen von Studierenden bestärkte Eindruck, dass die Online-Lehre in diesem Semester Ungleichheiten in den Voraussetzungen des Zugangs zu Bildung verschärft hat. Das lag sicher nicht an mangelnder Digitalkompetenz seitens der Studierenden. Dennoch erforderte die Teilnahme an digitalen Veranstaltungen die Überwindung technischer Hürden, die angesichts der pandemiebedingten Einschränkungen des Zugangs zur üblichen universitären Infrastruktur mit Bibliotheken und Arbeitsräumen in Universitätsgebäuden sowie der dort verfügbaren Internetanbindung ohne entsprechenden finanziellen Einsatz der einzelnen Studierenden und ihrer Familien teilweise erheblich waren. Gerade die Verfügbarkeit von Breitbandinternetverbindungen scheint hier ein wesentlicher Knackpunkt gewesen zu sein. Offenbar ist die Versorgung auch junger Menschen mit solchen Anschlüssen nicht so selbstverständlich, wie wir es in der AG „Digitale Lehre“ zu Beginn des Semesters mehrheitlich erwartet hatten, auch wenn einige Mitglieder schon zu Beginn durchaus auf diese Gefahr hingewiesen haben. Diese Feststellung ist vielleicht nicht so überraschend, wie es zunächst scheinen mag. Denn für den regulären Kommunikationsbedarf via E-Mail, WhatsApp etc. reichen auch die in Deutschland üblicherweise recht schmalen Datenkontingente von Prepaid-Mobilfunktarifen aus. Für umfangreichere Datenübertragungen konnten Studierende bisher hingegen auf die WLAN-Angebote ihrer Universitäten zurückgreifen. Für viele Studierende, die als Folge der Covid-19-Pandemie ihre Nebenjobs verloren haben oder deren Eltern finanzielle Einbußen einnehmen mussten und damit vielfach in existenzielle Nöte gerieten, waren entsprechende Investitionen in die eigene Kommunikationsausstattung sicherlich kaum zu stemmen.

Darüber hinaus verraten zumindest die Kommentare der Teilnehmerinnen und Teilnehmer meiner Lehrveranstaltungen im Rahmen der Lehrveranstaltungsevaluation, dass der unvermeidbare Umzug ins Homeoffice für Studierende ebenso wie für viele Lehrende eine besondere Herausforderung darstellte. Damit meine ich nicht so sehr die psychologischen und emotionalen Belastungen, die sich daraus ergeben, wenn sich Arbeits-, Lebens- und Ruheraum nicht mehr klar voneinander trennen lassen. Auch diese Herausforderung lässt sich in einer einzeln oder mit einer kleinen Familie bewohnten Mehrzimmerwohnung natürlich besser bewältigen als in einem WG-Zimmer. Mindestens genauso schwer wiegen äußere Störfaktoren wie beispielsweise laute Mitbewohner und Nachbarn, Lärm durch nahegelegene Gewerbebetriebe und Hauptverkehrsachsen sowie Baustellen im Wohngebäude oder in der Nachbarschaft. Hinzu kamen existenzielle Ängste, die Belastung Studierender mit Kindern durch Kita- und Schulschließungen sowie teilweise durch die Pandemiebedingungen verschärfte Betreuungs- und Pflegenotfälle im persönlichen Umfeld der Studierenden. Dies alles sind Faktoren, die das Arbeiten zu Hause und die konzentrierte Teilnahme an digitalen Lehrveranstaltungen vielfach erschwert haben. Auch scheint die Online-Lehre vielfach neue Barrieren für Studierende mit Behinderungen erzeugt zu haben. Hier muss ich ehrlicherweise und selbstkritisch bekennen, dass ich selbst bisher nicht ausreichend darauf geachtet habe, Inklusion in meinen Veranstaltungen zu ermöglichen.

Bei vielen der gerade aufgezählten Hürden handelt es sich selbstverständlich nicht um Schwierigkeiten, die von Lehrenden selbst gelöst werden könnten. Ebenso wie viele Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich über dieses Thema gesprochen haben, war ich bemüht, solche zusätzlichen Belastungen so gut wie möglich durch Entgegenkommen etwa bei Abgabefristen zu kompensieren. Das ging allerdings nur in den Fällen, in denen mich Studierende selbst auf solche Umstände aufmerksam gemacht haben.

Individuelle Kulanz reicht natürlich bei weitem nicht aus, denn letztlich geht es um strukturelle Fragen, für die bei einer Fortsetzung der Online-Lehre, wie sie im Land Berlin für das Wintersemester derzeit vorgesehen ist, Lösungsansätze mitentwickelt werden müssen. Selbst verhältnismäßig begrenzte Maßnahmen wie die teilweise Öffnung von Universitätsgebäuden und die Einrichtung von Arbeitsplätzen (die nicht einmal notwendigerweise mit Rechnern ausgestattet sein müssten), an denen Studierende ohne entsprechende Möglichkeiten zu Hause an Lehrveranstaltungen teilnehmen könnten, wären bereits ein großer Schritt nach vorne. Das muss und sollte aber das Nachdenken über umfassendere Maßnahmen zur Herstellung von Bildungsgerechtigkeit selbstverständlich weder ausschließen noch ersetzen. Es wäre aber zu einfach, die digitale Lehre selbst für diese strukturellen Herausforderungen verantwortlich zu machen und letztere gewissermaßen als Totschlagargument ins Feld zu führen.

Auch wenn ich wie bereits gesagt die Zusammenkunft meiner Kursgruppen im Seminarraum vermisst habe, muss ich festhalten, dass die Online-Lehre im Großen und Ganzen erstaunlich gut funktioniert hat – viel besser, als ich selbst und viele Kolleginnen und Kollegen am IfG zu Semesterbeginn befürchtet hatten. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sich der Computer- und Medienservice der HU mit der Beschaffung von Zoom für ein zuverlässiges und benutzerfreundliches Videokonferenzsystem entschieden und auch sonst erkennbar große Anstrengungen unternommen hat, um die Voraussetzung für die Durchführung digitaler Lehrveranstaltungen zu schaffen. Dafür will ich den Kolleginnen und Kollegen an dieser Stelle meinen Dank aussprechen. Persönlich besonders hilfreich finde ich besonders die direkte Integration von Zoom in die Lernplattform Moodle, mit der sich aus dem virtuellen Kurs heraus Online-Sitzungen planen und die Zugangsdaten den Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmern zur Verfügung stellen lassen. Videokonferenzen funktionierten entgegen anfänglicher Befürchtungen einer Überlastung der Netzkapazitäten so zuverlässig, dass ich ursprüngliche Planungen für die asynchrone Lehre bereits kurz nach Semesterbeginn über den Haufen warf und stattdessen virtuelle Präsenzsitzungen ansetzte.

Auch wenn solche virtuellen Sitzungen aus den oben bereits genannten Gründen kein vollwertiger Ersatz für reale Treffen im Seminarraum und darüber hinaus durch den über lange Zeiträume ungebrochenen Fokus auf den Bildschirm zweifelsohne ermüdender waren, ermöglichte das Format dennoch vielfach sehr angeregte Diskussionen. Dies war ganz besonders ab dem letzten Drittel des Semesters der Fall. Zuvor waren Kursgespräche häufig kurze Frage-/Antwortsituationen zwischen einer Kursteilnehmerin bzw. einem Kursteilnehmer und mir als Dozenten, was wenigstens zum Teil an meiner sicherlich nicht immer geschickten Gesprächsleitung lag. Gerade in den letzten Semesterwochen fanden aber doch lebhafte Diskussionen unter den Kursteilnehmerinnen und -teilnehmern statt, in denen ich zunehmend seltener aktiv eingriff. In diesen Momenten kam die Kursatmosphäre zu meiner großen Freude der Präsenzlehre erstaunlich nahe.

Dass sich eine solche Familiarität überhaupt einstellen konnte, mag jedoch auch den für Berliner Verhältnisse relativ geringen Teilnehmerzahlen von 10 Studierenden im Proseminar und 14 im Vertiefungsseminar geschuldet sein. Das sind jeweils etwa 10 Studierende weniger, als die Kursobergrenze vorsieht. Andererseits decken sich diese Teilnehmerzahlen in etwa mit der Anzahl an Kursteilnehmern in vergleichbaren Veranstaltungen, die ich in der Vergangenheit in Berlin und Tübingen unterrichtet habe. Persönlich finde ich diese kleinen Gruppengrößen sehr angenehm, weil sie mehr Raum für die Einzelbetreuung auch abseits des Seminars lassen. Aufgrund meiner eigenen Erfahrung als Studierender ist mir diese Betreuung sehr wichtig, bei höheren Studierendenzahlen aufgrund des nötigen Zeitbedarfs aber nur schwierig zu realisieren. Diese deutliche Diskrepanz zur nominellen Kapazität wirft allerdings unweigerlich die Frage auf, inwiefern diese Kursgrößen eine Folge der oben diskutierten strukturellen Hindernisse für die Teilnahme an der digitalen Lehre waren. Dies zieht wiederum die Aussagefähigkeit der Lehrveranstaltungsevaluationen in Zweifel, wie am IfG auch vereinzelt von Studierendenseite nicht zu Unrecht angemerkt wurde.

Mein Eindruck jedenfalls ist, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer meiner beiden Veranstaltungen überdurchschnittlich hoch motiviert waren. Diese Motivation schlug sich nicht allein in der Qualität der Beteiligungen am Kursgespräch, sondern auch in der Qualität der im Laufe des Semesters zu erfüllenden Hausaufgaben nieder. Hierbei handelte es sich um kurze Texte oder auch Stichwortsammlungen in Form von Exzerpten, Transkriptionen frühneuzeitlicher Drucktexte, Quelleninterpretationen, Bibliographien, der Dokumentation von Recherchen oder argumentativer Stellungnahmen. Schriftliche Einreichungen waren für mein Empfinden inhaltlich und sprachlich von überdurchschnittlich hoher Qualität. Auch zeichnet sich schon jetzt eine große Zahl interessanter und wohlrecherchierter Hausarbeiten ab.

Im Gegensatz zu einigen Kolleginnen und Kollegen habe ich mich im Proseminar bewusst gegen schriftliche Hausaufgaben zu jeder Sitzung entschieden, auch wenn ich dennoch deutlich häufiger als in vorherigen Semestern schriftliche Abgaben eingefordert habe. In dieser Entscheidung wurde ich von der Rückmeldung der Studierenden bereits während des Semesters bestätigt, die bemängelten, dass die Anzahl der schriftlichen Abgaben in den von ihnen belegten Kursen insgesamt zu hoch waren, sodass ihrem Eindruck nach zu wenig Zeit blieb, diese angemessen zu bearbeiten. Dementsprechend habe ich mich bemüht, den Lernwert der einzelnen Einreichungen zu erhöhen, indem ich detailliertere schriftliche Rückmeldungen verfasst habe, als ich es bei häufigeren Einreichungen getan hätte. Der Zeitaufwand für diese Rückmeldungen, nicht selten in Form von Minigutachten, war nicht unerheblich, angesichts der zeitlichen Verteilung jedoch vertretbar.

Die Abgabefrequenz in meinem Vertiefungsseminar zum transatlantischen Sklavenhandel war hingegen höher. Allerdings handelte es sich hier nur in einem Fall um eine von allen individuell zu bearbeitende Aufgabe. Von der dritten bis zur zehnten Semesterwoche arbeiteten die Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer in Studierendengruppen von jeweils vier bis fünf Studierenden zusammen, deren Zusammensetzung über das gesamte Semester konstant blieb. Eine Idee meines Kollegen Philipp Winterhager aufgreifend, fanden unsere Online-Sitzungen in dieser Phase des Kurses im zweiwöchigen Rhythmus statt und schlossen zusammenhängende Themenblöcke ab. In der Zeit zwischen den Sitzungen bearbeiteten die Studierenden jeweils als Gruppe verschiedene Aufgaben auf der Grundlage umfangreicher Lektürepakete zum Thema des jeweiligen Blocks, die jedoch ausdrücklich unter den Gruppenmitgliedern aufgeteilt werden durften. Dies reduzierte den individuellen Lektüreaufwand erheblich, setzte aber gleichzeitig auf ein soziales Lernen, indem sich die Gruppenmitglieder gegenseitig über die von ihnen gelesenen Texte informierten. Für die Kommunikation nutzten die Studierenden sowohl die Forumsfunktion von Moodle, die kollaborative Onlinetextverarbeitung Etherpad2 (in einer vom Computer- und Medienservice der HU gehosteten Instanz), E-Mail und Zoom, vernetzten sich aber auch abseits universitärer Angebote beispielsweise über WhatsApp.

Während in zwei Themenblöcken die Beantwortung von Lektürefragen im Mittelpunkt stand, sollten die Studierenden in einem Themenblock Referate über zuvor gelesene Narrative von Versklavten wie Olaudah Equiano (ca. 1745–1797)3 bzw. in einem Fall Trevor Burnards äußerst lesenswerte Studie der Tagebücher des jamaikanischen Sklavenaufsehers und -besitzers Thomas Thistlewood (1721–1786)4 halten. Um den Umgang mit der für die Forschung zum transatlantischen Sklavenhandel zentralen Online-Datenbank Slave Voyages. The Trans-Atlantic Slave Trade Database5 zu üben, erstellten die Studierenden in Form eines Wikis kurze Steckbriefe jeweils einer Zielregion des Sklavenhandels, welche die zeitliche Entwicklung der Verschleppung von Versklavten in diese Region thematisierte und darüber hinaus eine ausgewählte Sklavenfahrt in die jeweilige Region vorstellte. Aus diesen Recherchen ergaben sich wichtige Fragen sowohl über den Sklavenhandel als auch die Methodik, auf der die Datensammlung von Slave Voyages basiert. Diese praktische Übung wurde in Kommentaren in der Lehrveranstaltungsevaluation als besonders hilfreich gelobt, obwohl quantitative Ansätze nach meiner Erfahrung üblicherweise nicht zu den Gegenständen zählen, die bei Studierenden Enthusiasmus hervorrufen. Die letzten drei Kurswochen folgten wieder dem klassischen Modell der Präsenzlehre mit wöchentlichen Sitzungen, in denen individuelle Lektüre besprochen wurde, die in ausgesprochen lebhafte Debatten über die ‚deutschen‘ Verstrickungen in den Sklavenhandel und die atlantische Sklaverei sowie die Entstehung von Rassismus mündeten. Dieser Arbeitsrhythmus gefiel den Studierenden nach eigener Aussage und mehrere Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer haben angeregt, dieses Modell auch in die Präsenzlehre zu übernehmen. Dies halte ich persönlich zumindest punktuell für sinnvoll, zumal sich Lektürewochen mit längeren schriftlichen Abgaben während des Semesters wie Essays kombinieren lassen. So ließen sich gerade für Bachelorstudierende wichtige neue Räume schaffen, in denen sie das argumentative Schreiben in den Geschichtswissenschaften üben können.

Von Beginn an war die Einteilung in Studierendengruppen allerdings auch als Maßnahme gedacht, der Gefahr der Vereinzelung entgegenzuwirken. Dies habe ich den Studierenden bereits zu Semesterbeginn entsprechend kommuniziert. Zu diesem Zeitpunkt war jedoch nicht absehbar, ob diese Idee funktionieren würde, denn der Erfolg von Gruppenarbeiten hängt natürlich wesentlich von den Beteiligten ab. Sowohl die Studierenden als auch ich waren positiv überrascht davon, dass es innerhalb der Gruppen keine nennenswerten Konflikte gab und auch die Arbeitsteilung gut funktionierte, sodass im Laufe des Semesters eine Neuzusammenstellung der Gruppen nicht nötig war. Mein Eindruck ist, dass diese Form der engen Zusammenarbeit letztlich nicht nur zu einer größeren Kohäsion innerhalb der Studiengruppen, sondern auch zu einer produktiveren Kursatmosphäre beigetragen hat.

Neben Zoom als primärer Plattform für Seminarsitzungen und Sprechstunden war wenig überraschend Moodle mein zentrales Werkzeug für die Durchführung der Lehre. Dies entsprach den Empfehlungen der Instituts-AG „Digitale Lehre“, die sich damit an den Empfehlungen des Computer- und Medienservice orientierte. Ironischerweise führte meine intensive Beschäftigung mit Moodle und seinen Möglichkeiten vor Beginn des Semesters dazu, dass ich für meine eigenen Kurse nur wenige der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten wirklich nutzte. Als besonders hilfreich für die Gruppenarbeiten in meinem Vertiefungsseminar erwies sich Etherpad, das von den Studierenden recht intensiv genutzt wurde, um gemeinsame Texte bzw. Stichwortsammlungen zu erarbeiten und einzureichen. Davon abgesehen diente die Lernplattform vor allem genau wie in der Präsenzlehre der Bereitstellung von Lektüre und weiterführenden Materialien. Für die von mir unterrichteten Formate boten sich die in Moodle ebenfalls verfügbaren automatisiert ausgewertete Tests (oder gar eigens erstellte interaktive Übungen in H5P) nicht an, obwohl die Transkriptionsübungen entsprechend hätten realisiert werden können. Angesichts der relativ kleinen Gruppen wäre der entsprechende Arbeitsaufwand für die Erstellung aber nicht geringer gewesen als die individuelle Korrektur, zumal die Möglichkeit, gezielt individuelles Feedback geben zu können, für die Studierenden wahrscheinlich ohnehin hilfreicher war. Andererseits lohnt sich der einmalige Aufwand sicherlich für Übungen, die sich auch in anderen Veranstaltungen wiederverwenden lassen. Aufgrund der thematischen Spezifizität der zu transkribierenden Texte war diese Voraussetzung in diesem Fall jedoch nicht gegeben.

Anders als in der Vergangenheit habe ich in diesem Semester deutlich mehr Zeit in die Gestaltung des Moodle-Kurses investiert und beispielsweise kurze thematische Einführungen zu den Sitzungsthemen und gelegentlich auch umfangreiche Arbeitsanweisungen verschriftlicht, die ich in der Präsenzlehre lediglich mündlich formuliert hätte. Das erhöhte nicht nur den Informationsgehalt des Moodle-Kurses, sondern machte ihn leider auch etwas unübersichtlich. Das ist allerdings kaum zu verhindern, weil sich Kursabschnitte nicht auf Unterseiten auslagern lassen, da diese keine interaktiven Elemente wie Wikis, Feedbacks, Abgabefenster oder ähnliches enthalten können. Prinzipiell ließe sich dieses Verhalten nachbilden, was den Kurs dann aber zumindest für die Kursverantwortlichen nicht minder unübersichtlich machen würde. Zudem ist der Aufwand hierfür verhältnismäßig hoch.

Angesichts der Erfahrungen in diesem Semester sehe ich zukünftigen Digitalsemestern einerseits mit sehr gemischten Gefühlen, andererseits aber auch mit einiger Gelassenheit entgegen. Denn vieles, was in diesem Semester vorab Sorgen bereitet, langwierige Einarbeitung erfordert und anstrengende Grundsatzentscheidungen nötig gemacht hat, wird schon allein dadurch leichter sein, dass mir die digitale Lehre nicht mehr völlig fremd sein wird. Dementsprechend erwarte ich für das Wintersemester 2020/2021, in dem zumindest in Berlin wohl weiterhin Online-Formate eine zentrale Rolle spielen werden, eine gewisse Entspannung. Mit Blick auf Studierende, die im Sommersemester nicht oder nur eingeschränkt an Lehrveranstaltungen teilnehmen konnten, wünsche ich mir, dass es uns nicht nur auf der Ebene einzelner Lehrender, sondern auch auf der Ebene der Universitäten und letztlich gesamtgesellschaftlich gelingt, die Teilhabe an digitaler Lehre zu verbessern. Aber auch dann können Formate der Online-Lehre die etablierten Formate der Präsenzlehre nicht dauerhaft ersetzen. Als zusätzliches Werkzeug können sie die Präsenzlehre an unseren Universitäten jedoch sinnvoll ergänzen und so zu einer Flexibilisierung beitragen, von der sowohl Studierende als auch Lehrende profitieren können.

Anmerkungen:
1 Tobias P. Graf, The Sultan’s Renegades. Christian-European Converts to Islam and the Making of the Ottoman Elite, 1575–1610, Oxford 2017.
2 Bei Etherpad handelt es sich um Open Source Software. Siehe die Webseite des Projektes unter https://etherpad.org (22.07.2020).
3 Olaudah Equiano, The Interesting Narrative of the Life of Olaudah Equiano, or Gustavus Vassa, the African. Written by Himself, 2 Bde., London 1989. Online-Edition im Projekt Documenting the American South der University Library der University of North Carolina at Chapel Hill unter https://docsouth.unc.edu/neh/equiano1/menu.html (22.07.2020).
4 Trevor Burnard, Mastery, Tyranny, and Desire. Thomas Thistlewood and His Slaves in the Anglo-Jamaican World, Chapel Hill, NC 2004.
5 Slave Voyages. The Trans-Atlantic Slave Trade Database, https://www.slavevoyages.org/ (22.07.2020).