Zeitgeschichte (nach 1945)

Von
Till Kössler, Institut für Neueste Geschichte, Ludwig-Maximilians-Universität München

Besprochene Sektionen:

"Der Zeitzeuge. Annäherung an ein geschichtskulturelles Gegenwartsphänomen"
"Bilder nach dem Sturm. Wahrheitskommissionen und historische Identitätsstiftung zwischen Staat und Zivilgesellschaft"

Die jüngere Zeitgeschichte der Zeit nach 1945 ist eine der dynamischsten Wachstumsbranchen der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft. Dieses Bild vermittelte der diesjährige Historikertag. Lässt man die epochenübergreifenden und didaktischen Sektionen außen vor, nahmen die zwölf Sektionen, die sich ausschließlich mit der Zeit nach 1945 beschäftigten, deutlich mehr Raum ein als die Alte, Mittelalterliche und Frühneuzeitgeschichte zusammengenommen (neun Sektionen). Vielleicht noch signifikanter ist die deutliche Schwerpunktverlagerung innerhalb der Neueren und Neuesten Geschichte: Folgt man dem gedruckten Tagungsprogramm, so standen den erwähnten zwölf Sektionen (44 Prozent) der Zeitgeschichte (nach 1945) nur sechs (22 Prozent) von insgesamt 27 Neuzeit-Sektionen gegenüber, die sich ausschließlich mit der Zeit vor 1945 befassten. Die restlichen neun Sektionen (33 Prozent) thematisierten die Zeit nach 1945 mit mindestens einem Vortrag.

Die Verschiebung des Interesses hin zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt ein Vergleich mit den beiden vergangenen Historikertagen. In Halle (2002) hatten sich nur fünf der 21 Neuzeitsektionen (24 Prozent) ausschließlich mit der Zeit nach 1945 beschäftigt, in Kiel (2004) waren es sechs von ebenfalls 21 Sektionen (29 Prozent) gewesen. Während sich in Halle noch mehr als die Hälfte der Neuzeitsektionen mit der neuzeitlichen Geschichte vor 1945 befasst hatten (elf Sektionen/52 Prozent) waren es in Kiel immerhin noch acht Sektionen (38 Prozent) gewesen.

Der momentane Boom der Zeitgeschichte (nach 1945) spiegelt sich besonders deutlich in den Arbeiten des wissenschaftlichen Nachwuchs: Genau die Hälfte der 40 im Programmheft angekündigten Promotionsprojekte des epochenübergreifenden Doktorandenforums hatten Themen aus der Zeit nach 1945 zum Gegenstand. Vor zwei Jahren In Kiel waren es nur 12 der 56 präsentierten Projekte gewesen, also weniger als ein Viertel. Es ist dabei anzunehmen, dass das Auswahlverfahren durch den Historikerverband aus Proporzerwägungen die Dominanz der Zeitgeschichte eher abgeschwächt als verstärkt hat.

Das gestiegene Interesse an der Zeitgeschichte (nach 1945) ging auf dem Historikertag mit einem markanten Bedeutungsverlust der Zwischenkriegszeit und des Nationalsozialismus als unabhängige Forschungsfelder einher. Zu diesen einstigen Leitfeldern der deutschsprachigen Zeitgeschichtsforschung wurde in Konstanz keine einzige eigenständige Sektion veranstaltet. Während die frühen 1940er Jahre als Zäsur in Sektions- und Vortragstiteln häufig in Erscheinung traten, spielte 1917/18 als klassische Epochenzäsur zeithistorischen Arbeitens auf dem diesjährigen Historikertag demgegenüber kaum eine Rolle. In der historiografischen Praxis widmet sich die Zeitgeschichtsschreibung heute primär der Erforschung der Jahrzehnte nach 1945.

Es ist bezeichnend für die Vielfalt zeithistorischer Forschung, dass es für einen einzelnen Berichterstatter nicht möglich war, einen vollständigen oder auch nur ausgewogenen Überblick über die oft in mehreren parallelen Sektionen auf dem Historikertag vorgestellten Arbeiten zur jüngeren Zeitgeschichte zu bekommen. Der vorliegende Bericht kann deshalb kaum eine angemessene Würdigung der in Konstanz präsentierten Zeitgeschichte (nach 1945) erreichen. Schon gar nicht können im Rahmen des vorliegenden Berichts die einzelnen zeithistorischen Vorträge gewürdigt werden. Es ist vielmehr das Ziel dieses Beitrages, einige sektionsübergreifenden Trends zeithistorischen Arbeitens im deutschsprachigen Raum, wie sie in Konstanz sichtbar wurden, zu diskutieren. Dazu werden Themenschwerpunkte, die Ausweitung des räumlichen Bezugsrahmens und die Frage unterschiedlicher Zugriffe auf die Zeitgeschichte nach 1945 erörtert. Dass sich aufgrund der Unmöglichkeit, allen zeithistorischen Sektionen beizuwohnen, Verzerrungen in der Wahrnehmung und in der Wertung ergeben, erscheint unvermeidlich.

Obwohl eine thematische und methodische Pluralität das Bild der aktuellen Zeitgeschichtsschreibung prägt, lassen sich Akzentverschiebungen gegenüber vorangegangenen Historikertagen ausmachen. In methodischer Hinsicht dominierte in Konstanz eine im weiteren Sinne kulturgeschichtlich ausgerichtete Zeitgeschichte, während politik-, wirtschafts- oder sozialgeschichtliche Ansätze im engeren Sinn eine Randposition einnahmen. Kritik an der Dominanz kulturgeschichtlicher Ansätze, wie sie etwa von Wirtschaftshistorikern formuliert wurde, hatte es schwer, Gehör zu finden. Hinsichtlich des Spektrums methodischer Ansätze ließen sich damit in Konstanz keine epochenspezifischen Unterschiede ausmachen. Das die Zeitgeschichtsschreibung lange Zeit begleitende Vorurteil besonderer methodischer Traditionalität ist für die aktuelle Forschung unzutreffend.

Neue Themen traten dieses Jahr noch deutlicher als auf den vergangenen Historikertagen in den Vordergrund, während viele „klassische“ Arbeitsfelder der Zeitgeschichtsschreibung, etwa die internationalen Beziehungen, Wiederaufbau und Demokratiegründung, die (politische und mentale) Westintegration und die Geschichte der politischen Parteien keine Rolle spielten. Neben einem kontinuierlichen Interesse an Fragen der Kriegs- und Diktaturbewältigung, an der Stadtgeschichte sowie an den Protestbewegungen der 1960er und 1970er Jahre, stach besonders ein sektionsübergreifendes Interesse an den Themen Ethnizität, Konsum und – im Anschluss an den vergangenen Historikertag – Medien hervor. Auch wissenschaftshistorische Fragestellungen waren prominent vertreten. Demgegenüber fiel auf, dass viele der Themen, welche die aktuellen politischen Debatten wesentlich bestimmen, von den zeitgeschichtlichen Sektionen kaum aufgegriffen wurden. Dies gilt etwa für Fragen von Religion und Krieg, aber auch für die Geschichte der arabischen Welt. Das Großthema des letzten Historikertages, der Raum, fand dieses Jahr nur am Rande Aufmerksamkeit.

Eine umfassende Abkehr vom Nationalstaat als räumlichem Bezugspunkt zeithistorischen Interesses bildete den vielleicht eindeutigsten Trend des Konstanzer Historikertages. Auch wenn die Mehrheit der Vorträge einen nationalgeschichtlichen Rahmen hatte, beschäftigten sich doch nur sehr wenige Sektionen dezidiert mit der Geschichte eines Landes. Nur zwei zeitgeschichtliche Sektionen benannten beispielsweise in ihrem Titel exklusiv Deutschland bzw. die Bundesrepublik als Untersuchungseinheit. Auffällig ist auch das geschwundene Interesse an der DDR als eigenständigem historischen Gegenstand.

Zwar beschäftigte sich keine einzige Vortragsrunde mit dem sozialistischen deutschen Staat, eine Sektion zum Sport im Kalten Krieg wie auch einige ausgestellte Promotionsprojekte, etwa zum Berliner Jugendradio, wiesen jedoch auf die allmähliche praktischen Etablierung einer transnationalen Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Kalten Krieges hin, die in innovativer Weise die Geschichte der beiden deutschen Staaten und – in weiterer Perspektive – der Gesellschaften westlich und östlich des eisernen Vorhangs miteinander verbindet und auf Problemlagen der Nach-Wendezeit bezieht. In diesem Zusammenhang war in Konstanz vielfach auch eine enge Einbindung der osteuropäischen Geschichte in die zeitgeschichtlichen Sektionen zu beobachten.

Insbesondere für größere Forschungsprojekte ist eine Begrenzung des Untersuchungsraumes auf die deutsche Nationalgeschichte zurzeit intellektuell und/oder wissenschaftspolitisch wenig attraktiv. Das Interesse an dem genuin deutschen Weg aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts bleibt zwar vielfach als Erkenntnisfolie vorhanden, rückt jedoch, so scheint es, in den aktuellen Forschungen vermehrt in den Hintergrund. Der nationale Fall interessiert vornehmlich als exemplarischer Kristallisationspunkt transnationaler Prozesse. Zugespitzt: Die spezifisch deutsche Zeitgeschichtsforschung, wie sie sich seit den 1950er Jahren in Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit etabliert hat, hat sich zu einer Zeitgeschichtsforschung in Deutschland gewandelt. Die Nation als Thema strukturiert das Forschungsfeld weniger als in den vergangenen Jahrzehnten.

Es ist vielleicht ein Zeichen dieses Wandels, dass die in den vergangenen Jahren intensiv betriebene Historisierung der bundesdeutschen Zeitgeschichtsschreibung auch in Konstanz einen prominenten Platz einnahm. Das Rahmenthema des Historikertages legte es nahe, insbesondere die Debatte über die Bedeutung visueller Medien und speziell des Fernsehens für die Zeitgeschichte fortzuführen. Als sehr anregend erwies sich in diesem Kontext eine gut besuchte Sektion, die nach der Verortung des Zeitzeugen in der bundesdeutschen Geschichtskultur fragte.

Die einzelnen Vorträge, die sich aufgrund unterschiedlicher Schwerpunktsetzung und Thesen gut ergänzten, hielten sich nicht lange mit der vereinfachenden Gegenüberstellung von individueller Erinnerung und professioneller Geschichtsschreibung auf. Es gelang ihnen vielmehr, ausgehend vom konkreten Problem der Rolle des Zeitzeugen als „Kunstfigur“ in historischen Fernsehdokumentationen allgemeine Fragen des Wandels der bundesdeutschen Geschichtskultur zu thematisieren. Der Aufstieg des Zeitzeugen als öffentliche und mediale Figur seit den 1970er Jahren wurde als Symptom einer grundlegenden Verschiebung im öffentlichen Geschichtsdiskurs diskutiert. Während sich die Referenten in ihrer Kritik an der Instrumentalisierung des Zeitzeugen in den populären historischen Dokumentationen Guido Knopps einig waren – besonders die Nivellierung der individuellen Biografien und die Tilgung von Unterschieden zwischen Tätern und Opfern durch die mediale Präsentation wurden kritisiert –, erwuchs die intellektuelle Spannung der Sektion aus unterschiedlichen Einschätzungen der Rolle der Zeitzeugen in der bundesdeutschen Geschichte. Eine Deutung erzählte die Geschichte des Zeitzeugen als Verlustgeschichte. Der in den 1970er Jahren mit der Figur des Zeitzeugen verbundene demokratische, die Individualität der eigenen Erfahrung gegen historische Großerzählungen verteidigende Impetus sei seit den 1980er Jahren mehr und mehr zugunsten einer historisch unspezifischen und affirmativen Beglaubigung von „Authentizität“ in einer opferzentrierten Geschichtskultur in den Hintergrund getreten. Gegen die These einer ursprünglich emanzipatorischen Bedeutung des Zeitzeugen verwies eine Gegenposition jedoch auf die problematische Rolle von Zeitzeugen in der Geschichtskultur und Vergangenheitspolitik der 1950er Jahre. Aufgrund der massenhaften Zustimmung der Bevölkerung zum NS-Regime, so das Argument, habe Zeitzeugenschaft in der Bundesrepublik zu keinem Zeitpunkt die Funktion einer kritischen Instanz einnehmen können.

Die einzelnen Beiträge machten erneut deutlich, welches über den eigentlichen Gegenstand hinausgehende Erkenntnispotenzial in einer Historisierung der bundesdeutschen Zeitgeschichte steckt. Schade nur, dass gerade in dieser Sektion der Blick über die (bundes-)deutschen Landesgrenzen unterblieb. Eine Einbeziehung des medialen Umgangs mit Zeitzeugen in anderen Gesellschaften hätte noch genauer die Besonderheiten der bundesdeutschen Medienpraxis im Spannungsfeld von nationalsozialistischer Vergangenheit, Geschichtswissenschaft und Mediendynamik beleuchten können.

Mit der Durchsetzung eines transnationalen Zugriffs als common sense zeithistorischen Arbeitens stellt sich die Frage nach neuen räumlichen Bezugspunkten der Forschung. In Konstanz bildete Europa in den meisten Fällen den Rahmen der einzelnen Sektionen, wenn nicht explizit in den Sektionstiteln so doch in der Auswahl der Referate. Der methodische Ansatz war zumeist ein vergleichender. Jenseits der in den letzten Jahren so intensiv geführten Debatten über Möglichkeiten und Probleme von Vergleichs- und Transferstudien zeichnete sich die historiografische Praxis auf dem Historikertag in der Regel durch eine pragmatische Herangehensweise aus. Debatten über konzeptionelle Fallstricke einer europäisch-vergleichenden oder transnationalen Perspektive wurden zumindest in den von mir besuchten Sektionen kaum geführt. Es braucht kaum erwähnt zu werden, dass sich eine solche Ausweitung des Betrachtungsfeldes in der Praxis als überaus fruchtbar erwies, vor allem dann, wenn ein enger thematischer Fokus die Vorträge aneinander band. So eröffnete, um hier nur ein Beispiel pars pro toto zu nennen, die vergleichende Betrachtung des Wiederaufbaus jüdischer Gemeinden in Deutschland, Italien und Ungarn nach dem Holocaust bezeichnende Einsichten in die sehr unterschiedlichen Dynamiken jüdischen Lebens in Europa nach 1945.

Während diese Sektion ganz bewusst eine europäische Fragestellung verfolgte, scheint die häufige Wahl Europas als räumlicher Referenzpunkt in der Regel eher eine pragmatische Entscheidung angesichts der vorhandenen wissenschaftlichen Expertise denn eine konzeptionelle Entscheidung darzustellen. Und doch erscheint diese Selbstbeschränkung angesichts des sich nach 1945 bahnbrechenden neuen Globalisierungsschubes gerade für die Zeitgeschichte unbefriedigend. Nicht nur bleibt der politische und ökonomische Bedeutungsgewinn nicht-europäischer Regionen seit 1945 unberücksichtigt, sondern eine pragmatische Europazentrierung erschwert auch eine kritische Reflexion in der Öffentlichkeit zirkulierender und häufig essentialistischer Konzepte von Europa. Wie erhellend eine Einbeziehung der außereuropäischen Geschichte für die Zeitgeschichte sein kann, belegte unter anderem eine ausgezeichnete Sektion zu „Wahrheitskommissionen und historische Identitätsstiftung zwischen Staat und Zivilgesellschaft“, in der anhand der Beispiele Spanien, Guatemala, Südafrika und Australien verschiedene Modelle politischer und geschichtskultureller Aufarbeitung von Bürgerkriegen bzw. (kolonialer) Gewalt verglichen wurden.

Die Vorträge zeichneten sich dadurch aus, dass sie Politik und Debatten gesellschaftlicher Befriedung und Versöhnung in den weiteren Kontext von Projekten der Nationsbildung stellten, an denen auch die Geschichtswissenschaften prominent beteiligt waren und sind. Auch wenn die Fallbeispiele im Einzelnen große Unterschiede aufwiesen, war es ein besonderes Verdienst der Sektion, die Kontinente übergreifenden Gemeinsamkeiten der Problemstellungen herauszustellen. Für den deutschen Betrachter warfen die Beiträge zugleich neues Licht auf Besonderheiten der doppelten deutschen Vergangenheitsaufarbeitung nach 1945 und 1989, etwa die Dominanz rechtlicher Fragen wie der Vermögensrestitution und Entschädigung in der Debatte der frühen Bundesrepublik. Es war fast bedauerlich, dass zwei Tage die hier geführte Diskussion von einer Sektion zur Wiedergutmachung in Deutschland und Israel trennten, die durch die Konzentration auf die Praxis der Wiedergutmachung in der Bundesrepublik und in Israel das Ringen um Wiedergutmachung in einen breiteren gesellschaftlichen und bilateralen Kontext stellte.

Offen blieb, ob der 11. September 2001 eine Zäsur in den neueren internationalen Debatten um Vergangenheitspolitik und -aufarbeitung bedeutete, die ihren Ausgangspunkt in den Nürnberger Prozessen hatten. Zumindest in den USA sind die von der Clinton-Administration noch massiv geförderten Forschungen zur transitional justice nach den Terroranschlägen schlagartig in den Hintergrund getreten.

Die Plausibilität der transnationalen Ausweitung des zeithistorischen Forschungshorizonts rückt jedoch auch Fragen nach den Kosten einer solchen Expansion gerade auf einer Großkonferenz wie dem Historikertag in das Blickfeld. Hier sollen in diesem Zusammenhang nur einige verstreute Beobachtungen angeführt werden. Zunächst scheint ein transnationaler Zugriff eine kontroverse Diskussion der Vortragsergebnisse zu erschweren. Aufgrund der unausweichlich begrenzten Kenntnisse der Diskutanten hinsichtlich der verschiedenen nationalen Historiografien, die den Hintergrund der einzelnen Vorträge bildeten, war eine kontroverse Diskussion der Fallbeispiele in der Regel nur sehr bedingt möglich. Tatsächlich lag die Stärke vieler Sektionen „in der Neuigkeit, noch nicht im Vergleich“ (L. Niethammer). Zudem können, eng damit verbunden, in einer vergleichenden Diskussion die konkreten Untersuchungsgegenstände aus Zeitgründen kaum in ihren Details und vielfachen Kontexten ausgeleuchtet werden. Sie verlieren dadurch an Tiefenschärfe und historischer Spezifik. Schließlich blieb die Festlegung räumlicher und zeitlicher Grenzen transnationaler Untersuchungsobjekte oft unscharf. Es erscheint vor diesem Hintergrund bedauerlich, dass eine Debatte über grundlegende Möglichkeiten und Probleme transnationaler Forschung für die Zeitgeschichte als historischer Subdisziplin in Konstanz kaum geführt wurde.

Stellt die Zeit nach 1945 eine Einheit dar? Die aktuelle Vielfalt zeithistorischer Forschung zeigte sich in Konstanz in mindestens drei unterschiedlichen konzeptionellen Zugängen zur Zeitgeschichte (nach 1945). Die Frage der Periodisierung bietet einen Ansatzpunkt, um die einzelnen Zugangsweisen idealtypisch zu unterscheiden.

Sehr prominent vertreten auf dem Historikertag war zunächst die Tendenz, die Zeit nach 1945 in eine breitere Geschichte des 20. Jahrhunderts – mit einem Schwergewicht auf den Mitteljahrzehnten des Jahrhunderts – oder sogar in eine „lange“ Geschichte der Moderne seit dem 19. Jahrhundert einzuordnen. Die Zäsur der frühen 1940er Jahre tritt hier hinter der Bestimmung langfristiger Kontinuitäten deutlich zurück. Die Zeit nach 1945 erscheint in dieser Perspektive als Endpunkt säkularer Entwicklungen, wobei die 1950er bzw. die 1960er Jahre als fundamentale Umbruchperiode gesehen werden.

Demgegenüber steht die ebenfalls einflussreiche Tendenz, die Zeit nach 1945 als Epoche der Aufarbeitung der Kriegs-, Gewalt- und Diktaturgeschichte der ersten Jahrhunderthälfte zu profilieren. Die bedeutende Rolle des Umgangs mit der Vergangenheit für den politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Wandel nach Krieg und Diktatur definiert hier die Zeit nach 1945 als eigenständigen Untersuchungsgegenstand.

Schließlich betont ein dritter, noch weniger greifbarer Ansatz die Einheit der Nachkriegsjahrzehnte unter Verweis auf neue, grundlegende Rahmenbedingungen. Auf dem Historikertag wurden in diesem Sinne insbesondere der Übergang zur post-kolonialen Weltordnung, der nicht zuletzt neue Migrationsströme auslöste und Debatten um Ethnizität veränderte, die Entwicklung der Massenkonsumgesellschaft sowie audio-visuelle Medienrevolutionen ins Feld geführt. Im Unterschied zum ersten Ansatz steht weniger die Frage nach dem Übergang in eine neue Epoche im Mittelpunkt des Interesses, sondern die längerfristige Ausgestaltung und die Folgen der neuen Ordnung.

Damit verbunden ist eine Verflüssigung etablierter Binnendifferenzierungen der Nachkriegsjahrzehnte. Mit der intensiveren Erforschung der 1970er, 1980er und 1990er Jahre wird das Bild der 1950er und 1960er Jahre als Umbruchperiode unschärfer. Das Beispiel medienhistorischer Periodisierung mag dies illustrieren. Während unter den diskutierenden Zeithistorikern in Konstanz sektionsübergreifend Einigkeit herrschte, dass die Durchsetzung einer neuen audio-visuellen Kultur in den Nachkriegsjahrzehnten einen historischen Basistrend darstellte, gab es in einzelnen Vorträgen unterschiedliche Vorschläge zur medienhistorischen Binnendifferenzierung der Jahrzehnte. Bildeten etwa schon die späten 1960er Jahre mit dem Übergang der Intellektuellen vom „Buchzeitalter“ zum „visuellen Zeitalter“ (I. Gilcher-Holtey) die entscheidende medienhistorische Zäsur oder war (in der Bundesrepublik) die Kohlsche „Medienrevolution“ (N. Frei) der späten 1980er Jahre mit dem Aufbrechen des öffentlich-rechtlichen Rundfunkmonopols der bedeutendere Einschnitt?

Ob die in einer Sektion geforderte Erweiterung der Geschichtswissenschaft zu einer neben der Beachtung der visuellen Dimension etwa auch hearing cultures integrierenden historischen Sinnenlehre zur besseren Bestimmung und genaueren Verortung des medienhistorischen Wandels beitragen können wird, muss die zukünftige Forschung zeigen. Unzweifelhaft trägt aber die inhaltliche wie zeitliche Erweiterung des zeithistorischen Blickes, wie er sich in vielen Vorträgen manifestierte, dazu bei, ein vielschichtigeres Bild der Zeit nach 1945 zu zeichnen, als es bislang existiert.

Ein weiteres Kennzeichen der bundesdeutschen Zeitgeschichtsforschung auf dem Historikertag ist abschließend festzuhalten: Zeitgeschichte ist innerhalb der Mauern der historischen Wissenschaft zurzeit kaum Streitgeschichte. In keiner vom Berichterstatter besuchten Sektion kam es zu grundsätzlichen geschichtspolitischen Auseinandersetzungen um zeithistorische Fragen, wie sie in vielen Ländern gegenwärtig mit Erbitterung geführt werden.

Es erscheint bezeichnend, dass auf der besprochenen Sektion zur Zeitzeugenschaft alle Diskutanten für ein größeres Gewicht der Fachwissenschaft in historischen Dokumentationen eintraten, ohne dass ein Streit darüber ausbrach, welche Geschichte in zukünftigen Dokumentationen präsentiert werden solle. Die Frontlinie des Streites verläuft hier zurzeit eher zwischen Fachhistorikern und Teilen der Fernsehjournalisten als innerhalb der historischen Zunft. Diese präsentierte sich auf dem Historikertag als dominiert von einer „großen Koalition“ der Zeithistoriker, zwischen denen trotz wichtiger Differenzen im einzelnen wenig fundamentale Wertungsunterschiede zu beobachten waren.

Provokante Vorträge, die grundlegende, herrschende Deutungsmuster in Frage stellten und die Gemüter der versammelten Fachvertreter erhitzten, gab es für den Berichterstatter nicht zu verzeichnen. Dies hat auch, aber wohl nicht nur, mit der Differenzierung der Zeitgeschichtsforschung zu tun, die in Konstanz eher ein Neben- als ein Mit- oder Gegeneinander der Zeithistoriker kennzeichnete. In der Vielzahl interessanter Vorträge und Sektionen kristallisierten sich kaum Foren einer themenübergreifender Generaldebatte heraus. Aufgrund der beeindruckenden Breite und Qualität der vorgestellten zeitgeschichtlichen Forschungen fällt es allerdings schwer, diese Beobachtung als Kritik zu formulieren.

Dr. Till Kössler ist seit 2003 wissenschaftlicher Assistent am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München; Habilitationsprojekt: Kindheit und Moderne in Spanien im 20. Jahrhundert. E-Mail: <till.koessler@lrz.uni-muenchen.de>

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