Forum: Corona-Lektüre - Martin Zimmermann über P.D. Mitchell

Von
Martin Zimmermann, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

P.D. Mitchell, Human parasites in the Roman World: health consequences of conquering an empire, in: Parasitology 144 (2017), S. 48-58.

Mit Blick auf pandemische Sterblichkeit lassen sich besonders dramatische Folgen im Zuge der europäischen Expansion in die Amerikas des 16. Jahrhunderts beschreiben. Gut 100 Jahre nach der epochalen Atlantikfahrt von Kolumbus im Jahr 1492 waren mehr als 100 Millionen Menschen Nord-, Mittel- und Südamerikas Krankheiten zum Opfer gefallen, gegen die sie keinen Immunschutz besaßen: Pocken, Masern, Diphtherie, Beulenpest, Typhus, Gelbfieber, Scharlach, Amöbenruhr, Grippe und anderes mehr raffte die Einheimischen dahin. Die Europäer hatten durch beengtes Wohnen im Schmutz ihrer europäischen Städte eine entsprechende Immunität entwickelt; die Bewohner der „Neuen Welt“ waren hingegen schutzlos den für sie neuen Krankheiten ausgeliefert. Keine Pandemie der Geschichte hat vergleichbare Zahlen an Todesopfern zur Folge gehabt wie die Verbreitung von Krankheiten durch die Europäer im 16. Jahrhundert.

Die Immunität gegen Krankheiten aller Art wurde durch direkten Kontakt mit Keimen und Erregern, folglich durch mangelnde Hygiene erzeugt, bevor die Medizin in der Lage war, solche Prozesse überhaupt zu verstehen und Impfungen gegen Krankheiten zu entwickeln. Dies ist historisch betrachtet jedoch eine sehr rezente Kompetenz, während für viele Jahrtausende die Menschen bakteriellen und viralen Infekten und selbst vielen Parasiten schutzlos ausgeliefert waren. Daher sollte man sich aktuell im historischen Rückblick vergegenwärtigen, dass in anderen Epochen die Übertragung selbst von tödlichen Krankheiten an der Tagesordnung war, zum Alltag gehörte und mangels Verständnis für die medizinischen Vorgänge keine vorbeugenden Verhaltensregeln formuliert werden konnten. Für das kaiserzeitliche Rom beispielsweise nimmt man an, dass jährlich rund 30.000 Personen nicht nur der vor allem von August bis Oktober am Tiber grassierenden Malaria zum Opfer fielen, sondern der mangelnden Hygiene. Der Arzt Galen berichtet von 20.000 Toten, die jährlich in der Hauptstadt an Gelb- und Wassersucht starben. Diese alljährliche Todesquote sei nach Ansicht moderner Forschung durch anhaltenden Zuzug von Neubürgern ausgeglichen worden.

Ich möchte im Kontext solcher medizinhistorischen Studien auf eine recht lebhafte Diskussion aufmerksam machen, die erst vor drei Jahren durch einen anregenden Aufsatz von P.D. Mitchell angestoßen wurde. Sie betrifft den Standard antiker Hygiene und wird in der Form eines regelrechten Glaubenskrieges geführt, da ganz allgemein der zivilisatorische Standard des antiken Rom in Frage gestellt zu sein scheint. Die Vorstellung, dass insbesondere römische Städte mit Blick auf Frischwasserversorgung, Badekultur und öffentliche Toiletten einen sehr hohen Standard an Reinlichkeit erreicht haben, der erst im 20. Jahrhundert wieder erreicht worden sei, steht auf dem Prüfstand. Mit verstärkter Einbindung der Naturwissenschaften in archäologische Projekte befasste man sich nämlich auch mit den Rückständen menschlicher Ausscheidungen in Bädern und Latrinen. Eine besondere Rolle spielte hierbei versteinerter Kot, die so genannten Koprolithen. Bei ihrer Analyse fanden Wissenschaftler in großer Zahl Eier von Parasiten, wobei insbesondere eine Art von Fischbandwurm besonders hervorstach, der viele Toilettenbenutzer gequält haben muss. Mitchell verbindet diese parasitologischen Erkenntnisse mit der zuspitzenden These, die Römer hätten durch ihre Vorliebe für Fischsaucen (garum) und Salzfisch (salsamenta) sowie Eigenarten ihrer Sanitäranlagen den Bandwurm über Amphorenhandel und eine spezielle Toilettenkultur ins ganze Reich bis nach Britannien getragen. In ihren Bädern, insbesondere aber in öffentlichen Latrinen, in denen bis zu 50 Personen nebeneinander Platz fanden, seien Eier des Bandwurms mittels Schwämmchen verbreitet worden. Diese an Stöcken befestigten Schwämmchen wurden in Wasserrinnen vor den Sitzen getaucht, um den Anus zu reinigen und dann das Schwämmchen an den nächsten Besucher weiter zu reichen. An die Stelle der Vorstellung, man habe sich beim gemeinsamen Toilettengang zu angeregter Unterhaltung und Austausch von Neuigkeiten getroffen, sind besonders widerwärtige Bilder getreten.

Nicht nur der architektonische Glanz römischer Bäder hat Risse bekommen, auch medizinhistorische Studien zu Hygiene und zur Verbreitung von Krankheiten finden zum besseren Verständnis des Alltagslebens zunehmend die ihnen gebührende Aufmerksamkeit.

Naturwissenschaftliche Forschungen dieser Art sind äußerst lehrreich: Im Hinblick auf die Wahrnehmung der aktuellen Pandemie sollte der wohlhabende Teil der Weltbevölkerung – zu dem die Bundesrepublik an führender Stelle gehört – dankbar sein, in vergleichsweise paradiesischen Zuständen zu leben. Im historischen Rückblick wie im internationalen Vergleich ermöglichen die in unserem Land üblichen hygienischen Verhältnisse, die medizinische Versorgung und der allgemeine Wohlstand ein Leben, dessen hohe Qualität in der Geschichte ohne Parallele ist. Dies sollten wir in diesen ungewöhnlichen Wochen immer vor Augen haben.

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