Cover
Titel
Buch der Erinnerung. Die ins Baltikum deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden


Herausgeber
Scheffler, Wolfgang; Schulle, Diana
Erschienen
München 2003: K.G. Saur
Anzahl Seiten
1072 S. (2 Bände)
Preis
€ 148,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Susanne Freund, Institut für vergleichende Städtegeschichte, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Gedenkbücher für die Opfer der Shoah sind inzwischen keine Seltenheit mehr.1 Eines der ältesten ist sicherlich das vom Bundesarchiv Koblenz 1986 herausgegebene zweibändige „Gedenkbuch. Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland“, das zur Zeit neu bearbeitet wird.2 Die vorliegende Publikation von Wolfgang Scheffler und Diana Schulle liefert jedoch Erkenntnisse, die weit über das Koblenzer Gedenkbuch hinausgehen, korrigiert fehlerhafte Angaben, präsentiert also einen grundsätzlich neuen Forschungsstand. Der Titel wurde bewusst vor dem historischen Hintergrund gewählt, dass im September 1938 von jüdischer Seite ein Erinnerungsbuch mit Informationen und Bildmaterial der deutschen jüdischen Gemeinden geschrieben werden sollte. Es sollte ein „Buch der Erinnerung“ an das Leben werden, das von den Nationalsozialisten jedoch verboten wurde. Umso tragischer ist es, dass unter diesem Titel nun 65 Jahre später 31.000 Namen derjenigen verzeichnet sind, die ins Baltikum deportiert und größtenteils ermordet wurden.

Vom November 1941 bis September 1942 wurden diese aus dem damaligen „Großdeutschen Reich“ stammenden deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden nach Kaunas (Litauen), nach Tallinn (Estland), an erster Stelle jedoch nach Riga (Lettland) verschleppt. Scheffler erläutert in seinem fundierten und umfassenden Einführungsartikel u.a. die Vorbereitung und Logistik der Deportationen, vor allem aber den Lagerterror bis hin zum Massenmord in den Ghettos und Konzentrationslagern. Danach folgt die Dokumentation der Deportationen. Neu ist die strikte Einteilung nach den Deportationszielen, denen die Transporte ins „Reichkommissariat Ostland“ in chronologischer Reihenfolge zugeordnet werden, wodurch das „Buch der Erinnerung“ eine besondere Qualität gewinnt. In den einzelnen Abschnitten werden insgesamt 32 Deportationen aus verschiedenen Städten nach Kaunas, Riga und Raasiku bei Tallinn zwischen dem 17. November 1941 und dem 26. September 1942 dargestellt.

Jede Deportation wird auf der Grundlage einer ausführlichen Darstellung der Lage vor Ort mit Blick auf die „Evakuierung“ sowie einer Liste mit den Personendaten der Opfer, d.h. Name und Vorname, Geburtsname, -datum und -ort, letzte Adresse, letztes Lebenszeichen (Datum und/oder Ort) und Todesdaten (Datum und/oder Ort), dokumentiert. Das Basismaterial für diese Listen haben Expertinnen und Experten der jüdischen Lokalgeschichte geliefert. Sie haben auch größtenteils die erläuternden Texte verfasst, die die Diskriminierung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung bis zur Abholung, Internierung und Deportation beschreiben. So konnten sich die Autorinnen des Beitrags über die Deportation aus Münster am 13. Dezember 1941, Gisela Möllenhoff und Rita Schlautmann-Overmeyer, auf ihre intensiven Quellenrecherchen, vor allem aber auf zahlreiche ZeitzeugInneninterviews und Ego-Dokumente wie Briefwechsel aus Privatbesitz stützen. Diese persönlichen Schilderungen zeichnen ein anschauliches und individuelles Bild der Situation, so dass auch Widersprüche und Ungereimtheiten in der subjektiven Erinnerung wie bei der Angabe des Transportdatums sichtbar werden (S. 724).

Insgesamt sollten zunächst 390 Personen aus Münster und dem Münsterland in das Ghetto Riga deportiert werden. Zusätzlich kamen noch Jüdinnen und Juden aus Osnabrück und Bielefeld hinzu. Im Gegensatz zu dem Gestapobezirk Münster liegen jedoch für Osnabrück und Bielefeld keine Deportationslisten vor. Die dritte Autorin des Textes zur Deportation Münster, Osnabrück und Bielefeld, Monika Minninger, bietet dennoch konkretes Zahlenmaterial: 222 Personen aus Osnabrück und 420 Personen aus Bielefeld gehörten zu dem Transport. Aus dem Stadtarchiv Bielefeld stammen beeindruckende Fotos, die die Verladesituation in Bielefeld veranschaulichen und die der Leserschaft vereinzelt eine Personifizierung von den im Anschluss eines jeden Beitrags aufgeführten Deportierten ermöglicht. Durch die zusätzliche Auswertung persönlicher Dokumente, Interviews und die Präsentation von Bildmaterial wird dem „Buch der Erinnerung“ eine Aussagekraft verliehen, die weder die umfangreichen Listen noch die anhängenden Statistiken, die Aufschluss darüber geben, welche Altersgruppen und wie viele weibliche und männliche Personen verschleppt wurden, erbringen können.

Bemerkenswert ist ferner die namentliche Erwähnung der Täter, die in anderen Gedenkbüchern häufig nur am Rande in Erscheinung treten. Es handelt sich überwiegend um Amt- und Funktionsträger von Polizei und Justiz, den Finanzämtern oder den Stadt- und Gemeindeverwaltungen vor Ort, den Einsatztruppen, Angehörigen der Wehrmacht oder Kollaborateuren, die an den Aktionen im Osten beteiligt waren und in den Beiträgen soweit möglich benannt werden.

Der unschätzbare Erkenntniswert dieser Informationen ist den AutorInnen, vor allem jedoch der Bearbeiterin Diana Schulle zu verdanken, die die Datenbestände der Ghettos und Konzentrationslager ausgewertet und vernetzt sowie das Gesamtwerk wissenschaftlich betreut hat. Auf diese Weise konnte vielfach auch das Schicksal derjenigen geklärt werden, die 1944/45 in Konzentrationslager weitertransportiert wurden. Im Gegensatz zu anderen Gedenkbüchern sind zusätzlich die Überlebenden gesondert aufgenommen. Eine Hilfestellung für die Leserschaft, der auf diese Weise eigenes Suchen erspart bleibt. Aufgrund dieser akribischen Detailarbeit bleiben nur wenige Zweifelsfälle offen. Lediglich die Identität von 31 Frauen, Männern und Kindern war nicht eindeutig nachzuweisen, weil sie z.B. aus Städten mit mehreren Transporten kamen. Hinzu kommen 23 Überlebende, die teilweise nach Kriegsende ihren Namen änderten und deshalb nicht identifiziert werden konnten (S. 915). Sie zählen zu den 1.147 Personen, die im Frühjahr 1945 von den Alliierten befreit werden konnten.

Mit diesen mehr als 1.000 Seiten umfassenden beiden Bänden liegt also erstmalig ein Gedenkbuch vor, das die Deportationen vom 17. November 1941 bis zum 26. September 1942 nach Litauen, Estland und Lettland detailliert aufschlüsselt. Dadurch werden individuelle Färbungen der Transporte deutlich, die einerseits einem vorgegebenen Organisationsrahmen folgten, andererseits aber – ähnlich wie die Pogromnacht in den einzelnen Orten – eine eigene Dynamik entwickelten. Die Publikation legt damit unverzichtbare Grundlagen, Grundlagen für weiterführende Arbeiten im lokalen und regionalen Raum.

Ausgesprochen wertvoll ist das Namensregister, das lokalgeschichtlich Interessierten manchmal erstmalig ermöglicht, nach dem Verbleib jüdischer Bürgerinnen und Bürger zu forschen. Allerdings ist hierfür die Kenntnis des Namens der Betroffenen zwingend notwendig. Denn – und das ist wirklich sehr bedauerlich – es wurde kein Ortsregister (auf Grundlage des Wohn- oder Geburtsortes) erstellt. Ein Manko, das zeitlich und finanziell begrenzte und deshalb unter großem Druck stehende Projekte leider häufig aufweisen. Nichtsdestotrotz ist das „Buch der Erinnerung“ ein fundiertes Nachschlagewerk, das nicht nur aufgrund seiner Zweisprachigkeit (Deutsch/Englisch) auch international einen herausragenden Platz in der wissenschaftlichen Forschung einnehmen wird.

Anmerkungen:
1 Gedenkbücher gibt es für viele Städte und Gemeinden oder für Ghettos und Konzentrationslager. Vgl. z.B. Keller, Manfred (Hg.), Gedenkbuch - Opfer der Shoah aus Bochum und Wattenscheid, Bochum 2000; Kárný, Miroslav; Blodigová, Alexandra (Hgg.), Theresienstädter Gedenkbuch. Die Opfer der Judentransporte aus Deutschland nach Theresienstadt 1942-1945, Prag 2000.
2 Gedenkbuch. Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland. 1933-1945, Bd. 1 u. 2, bearb. vom Bundesarchiv, Koblenz 1986.

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