Stadtarchiv Nürnberg (Hg.): Das große Tucherbuch

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Verena Kessel

Bis zur Einführung des Euro war ein Mitglied der Familie Tucher, wenn nicht in aller Munde, so doch in aller Händen: Dürers Portrait von Elsbeth Tuchers zierte den 20-DM-Schein. Sie war ein Mitglied der renommierten Nürnberger Familie der Tucher, deren beide im 15. Jahrhundert entstandene Linien bis auf unsere Tage bestehen. Auch die im Jahre 1503 gegründete Dr. Lorenz-Tucher-Stiftung existiert bis heute. Unter der Federführung von Markus II. Tucher, Tobias I. Tucher und Herdegen IV. Tucher gab diese Stiftung 1590 das Große Tucherbuch in Auftrag. Das prachtvolle Geschlechterbuch mit reicher Kalligrafie und Miniaturen der einzelnen Familienmitglieder war 1606 vollendet. Die Stiftung zahlte dafür und für eine Papierabschrift 2.198 Goldgulden, offensichtlich "fast das Vierfache dessen, was Albrecht Dürer knapp hundert Jahre zuvor für den Kauf seines Hauses am Tiergärtner Tor ausgegeben hatte" (Einleitung, S. 7).

Nürnberg ist die Stadt, in der im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts die ersten bebilderten Geschlechterbücher geschaffen wurden. Aus Augsburg sind die ersten Exemplare aus dem zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts bekannt, Frankfurt folgte nach der Jahrhundertmitte. In Nürnberg entwickelte sich der Brauch, die einzelnen Mitglieder des Geschlechts mit einer Figur abzubilden, erstmalig im zweiten Familienbuch des Lazarus Holzschuher von 1509. Das ein Jahrhundert später entstandene Große Tucherbuch stellt mit der Pracht und Güte seiner Miniaturen und der virtuosen Schreibkunst den Höhepunkt der Entwicklung dar; in seiner Prachtentfaltung kann es sich mit jeder Fürstenchronik messen. Dieser Prunkfassung auf Pergament ging eine Vorlage voraus, die der humanistisch gebildete Diplomat Christoph II. Scheurl (1481-1542) bereits fünfzig Jahre zuvor nach Studien im Familienarchiv erstellt hatte (heute in London, British Museum). Das Tucherbuch wird eingeleitet von mehreren Registern und einer umfangreichen Vorrede, anschließend folgen in Reihenfolge des Stammbaumes Angaben zu den einzelnen Familienmitgliedern wie Geburt, Ehepartner, Ausbildung, Tätigkeiten, Vermögensverhältnisse, Stellung im Rat und Tod. Dem Text auf der Recto-Seite des Buches stehen auf der Verso-Seite die ganzseitige Miniatur des männlichen Familienmitglieds mit sämtlichen Ehefrauen sowie den Wappen der Kinder und Ehepartner gegenüber. Männliche Tucher ohne Nachkommen sowie Tucherfrauen, die in ein Kloster eintraten, erhielten kleinere Miniaturen. Die Miniaturen wurden von Jost Amman entworfen und bis zu seinem Tod von ihm ausgeführt, danach übernahm der Nürnberger Georg Hertz die Fertigstellung. Die Malereien sind von hoher Qualität, sowohl von der Aufteilung der Seite, der Ornamentik, der farblichen Zusammenstellung, der Vielfalt der Kostüme als auch von der Feinheit der Malweise wie Gesichter, Hände oder Binnenmodellierung der Gewänder. Gegen Ende der Handschrift lässt die Qualität nach, ein häufig bei Handschriften zu beobachtendes Phänomen.

Der Abschluss einer aufwendigen Restaurierung wurde nun genutzt, das Große Tucherbuch, das im Stadtarchiv Nürnberg aufbewahrt wird, auf einer CD-Rom der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Sie ist erschienen in der überaus begrüßenswerten Reihe Handschriften aus bayerischen Bibliotheken und Archiven auf CD-Rom. Auf der CD-Rom sind der vollständige Text sowie die Miniaturen des Großen Tucherbuches ediert. Einleitung und Kommentar erstellten Horst-Dieter Beyerstedt und Michael Diefenbacher. Die Einleitung führt knapp – manchmal zu knapp – in die Familie der Tucher und das Geschlechterbuch ein; Wiederholungen im Text und unterschiedliche Schreibweise von Namen, etwa dem des Künstlers Amman innerhalb von drei Sätzen, scheinen der Lektorin Daniela Stadler entgangen zu sein. Die Einleitung ist in etwas veränderter und verbesserter Form zusätzlich in einem Heftchen abgedruckt, das der CD-Rom beiliegt. Der gute Kommentar ist in seinen Informationen sehr viel ausführlicher, geht allerdings fast nur auf den Text ein. Die kunstgeschichtliche Seite scheint den Bearbeitern weniger am Herzen gelegen zu haben, zu den Miniaturen findet man außer den dürren Angaben zu den Künstlern keine Erläuterungen. Dabei dürften sie von ihrer Qualität her zu urteilen ebenso wie die herausragende Kalligrafie von großer Bedeutung für die Auftraggeber gewesen sein.

Bis auf diese kleinen Kritikpunkte verdient das Unternehmen uneingeschränktes Lob. Nur wenige der zahlreichen Geschlechterbücher und adeligen Genealogien sind mit Text und Bild zugänglich. Dies ist umso betrüblicher, da sie eine wichtige Dimension in den bereits seit längerer Zeit aktuellen Forschungen zu Erinnerungskulturen darstellen. Nur einige der Bücher haben eine mehr oder weniger intensive wissenschaftliche Bearbeitung erfahren wie die Chronik Eisenberger, die Genealogie der Grafen von Henneberg, die Schweriner Bilderhandschrift der Mecklenburger Fürstendynastie oder das Ehrenbuch der Fugger. Von anderen Handschriften dieses Genus sind, wenn überhaupt, höchstens Textfetzen oder einzelne Bilder bekannt. Umso höher ist das Unternehmen des Hauses der Bayerischen Geschichte und des Stadtarchivs Nürnberg zu werten, das Große Tucherbuch vollständig und als CD-Rom leicht und äußerst preiswert zugänglich gemacht zu haben.

Die Benutzbarkeit der CD-Rom ist fast tadellos. Seite für Seite kann studiert werden (mit der jeweiligen Folioangabe), Such- und Glossarfunktion im Kommentar sind hilfreich. Eine Vergrößerung der Seite wird jeweils angeboten, insgesamt wäre es aber von großem Nutzen gewesen, wenn die Seiten und Miniaturen in kompletter Bildschirmgröße abgebildet worden wären, um ein etwas weniger mühevolles Entziffern des Textes zu ermöglichen. Für intensiveres Betrachten steht eine Lupe zur Verfügung. Die Lupe ist von hervorragender Qualität, selbst kleinste Details der Gesichtsbildung oder des Kostüms sind zu erkennen. Die Lupe hätte man sich allerdings etwas größer gewünscht, damit der zu betrachtende Ausschnitt nicht zu winzig ist. Darüber hinaus machen die Möglichkeiten zur Anbringung eigener Notizen und zu Lesezeichen die Bearbeitung angenehm. Für den Liebhaber von Handschriften wird außerdem noch eine Umblätterfunktion angeboten.

Mit der Veröffentlichung des Großen Tucherbuches ist der Erforschung dieses Genres von Geschichtsquellen ein großer Dienst erwiesen. Wie sehr Fragestellungen zu Genealogien en vogue sind, zeigte der Deutsche Kunsthistorikertag 2003 in Leipzig, wo es eine eigene Sektion zum Thema der bebilderten Genealogien gab. Etliche Fragen nach dem Sinn der Geschlechterbücher und adeligen Genealogien werden in der Einleitung genannt wie "das Zusammengehörigkeitsgefühl der Familie zu stärken, den Nachkommen vorbildliche Lebensweisen nahezubringen, die Verwandtschaftsverhältnisse zu dokumentieren [...] und die Gleichrangigkeit mit dem Landadel zu unterstreichen" (S. 10). Darüber hinaus bleiben weitere zu klärende Fragen wie die nach der Memoria, der Beziehung zwischen Geschlechterbüchern und adeligen Genealogien, der Häufigkeit von Geschlechterbüchern in manchen Familien und deren jeweiligem Zweck oder den intendierten Signalen, die mit der gewählten Buchform ausgesandt werden sollten. Zur Lösung dieser Fragen können entscheidend auch die Bilder beitragen, die nicht nur schmückendes Beiwerk sind – so werden sie leider oft behandelt –, sondern deren eigene Aussageabsicht durch genaues Studium offenbar wird: etwa durch die jeweils gewählte Kleidung (ob aktuell oder der jeweiligen Lebensepoche des Dargestellten entsprechend, ob dem jeweiligen Stand angemessen oder einem höherrangigen), durch die Accessoires (ob Rosenkranz, Buch oder Schriftrolle) oder durch die Gesten, mit denen die Ehepartner sich begegnen. Von daher wäre anhand der guten Qualität der CD-Rom der optische Genuss an den Miniaturen in einen wissenschaftlichen Gewinn zu überführen.

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