S. Franklin u.a. (Hgg.): National Identity in Russian Culture

Cover
Titel
National Identity in Russian Culture. An Introduction


Herausgeber
Franklin, Simon; Widdis, Emma
Erschienen
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
£45.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martina Winkler, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Ein Lehrbuch zu einem komplexen Thema mit ausufernder Forschung und vielfältigen theoretischen Implikationen aus diversen Disziplinen zu schreiben, ist kein leichtes Unterfangen. Dem/r Herausgeber/in und den Autoren/innen des Bandes “National Identity in Russian Culture” ist es jedoch auf beeindruckende Weise gelungen.

Es ist mehr ein Band mit eng aufeinander bezogenen und überzeugender Struktur folgenden Kapiteln als eine bloße Aufsatzsammlung, und es ist nach wichtigen Themen der aktuellen Forschung gegliedert. Zeit und Raum, “wir” und “die anderen”, Religion und Musik, Sprache und Alltagskultur sowie Erinnerungsorte und Dichtung – mit diesem Repertoire decken die Autoren/innen tatsächlich in großem Umfang die Probleme und Fragen der Forschungsbereiche ab, die sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten um den viel gescholtenen und doch zentralen Terminus „Identität“ gruppiert haben.

Dabei lassen sie den Begriff bewusst offen und verstehen ihn als wandelbar und vielfältig. „National Identity in Russian Culture“ will explizit nicht Identität be- und damit festschreiben, sondern konzentriert sich auf die verschiedenen Formen, in denen nationale Identität gefasst werden kann und die unterschiedlichen, sich historisch wandelnden Weisen, in denen sie definiert wird. Damit löst das Buch die vielfältige Kritik am Identitätsbegriff ein. Identität wird von einem „Plastikwort“ (Niethammer) zu einem empirisch unterfütterten Forschungsobjekt und gleichzeitig so variabel und offen gehalten, wie es Brubaker und Cooper gefordert haben. 1

Die Aufsätze selbst bestehen jeweils aus zwei Abschnitten. Zunächst wird ein weitgehend chronologisch gehaltener Überblick zum Thema gegeben. Dieser ist durchgehend gelungen; kurz und knapp, ohne komplexe Sachverhalte allzu sehr zu vereinfachen. Dabei wird auf Anspielungen und Verweise durch Schlagworte und Namen verzichtet. Zentrale Begriffe – seien sie so allgemein wie “essentialistisch” und “Identität” oder speziell für die russische Geschichte bedeutsam, wie “narod/narodnost’” (Volk/Volkstümlichkeit) oder “russkij/rossijskij” (russisch/rußländisch) – werden stattdessen erklärt und in ihrer Bedeutung für die dargestellte Geschichte wie für den eigenen Ansatz deutlich gemacht.

Die – in den meisten Fällen sicher studentischen – Leser/innen werden so an die Hand genommen und durch ein Feld geführt, das von Möglichkeiten vorurteilshafter Vereinfachung nur so strotzt. Die Minenfelder der Klischees werden jedoch erfolgreich umgangen. So wird eine longue durée beschrieben, ohne dass es zu den hinlänglich bekannten Verallgemeinerungen käme, die eine direkte Linie zwischen Ivan dem Schrecklichen und Putin konstruieren und diese wahlweise mit der russischen Seele, dem Wodka, dem autokratischen Denken oder vorzugsweise einer Kombination all dieser Elemente begründen.

Im zweiten Abschnitt ihrer Texte arbeiten die Autoren/innen mit ausgewählten Quellen. Ob Briefmarken, Filme, Architektur oder fiktionale Literatur: die Analyse ergibt keine wirklich neuen Ergebnisse. Stattdessen werden Praxis, Methode und Inhalt kulturhistorischer Forschung auf nachvollziehbare Weise präsentiert. Die Autoren/innen lassen die Leser/innen an ihren Fragestellungen, Problemen und Gedankengängen teilhaben. Hier wie auch schon in den Darstellungsabschnitten wird Theorie nutzungsorientiert vorgestellt und somit verständlich.

Auf überzeugende Weise beginnt der Band mit dem Kapitel “Russia in Time”, in dem die Bedeutung von Zeitkonzepten und historischen Narrativen verschiedener Art beschrieben wird. Simon Franklin, dessen Beiträge zu den gelungensten des Buches gehören, bespricht auf gerade einmal 19 Seiten so verschiedene und zentrale Aspekte der russischen Geschichte wie die Christianisierung und die byzantinische Tradition sowie das Konzept des “Dritten Rom”, die Diskussionen um die historische Zäsur durch die petrinischen Reformen und die Rekonzeptualisierung der Geschichte in postsowjetischer Zeit.

In seiner anschließenden Fallstudie verknüpft er weit auseinander liegende Phasen der russländischen Geschichte, indem er russische Briefmarken und ukrainische Banknoten aus den 1990er-Jahren analysiert und die Bedeutung von Ikonen, historischen Urkunden und Heldenbildern für moderne Identitäten deutlich macht. All dies ist, wie bereits erwähnt, für den Russlandspezialisten nicht unbedingt neu. Es ist nicht die Brillanz der Analyse, sondern die Form der Darstellung, die den Wert dieses Lehrbuches ausmacht. Forschung wird nachvollziehbar und auch für Studienanfänger/innen transparent.

Emma Widdis macht die Implikationen der neueren Forschung zu Raumerfahrungen und -darstellungen deutlich. Ähnlich wie im Kapitel zur Zeit wird auch hier ein abstraktes und oft sehr kompliziert beschriebenes Thema greifbar und verstehbar gemacht.

Hubertus Jahn unternimmt einen beeindruckenden Parforceritt durch die Geschichte russischer Selbstbilder. Obwohl er von der Staatsideologie des Moskauer Reiches über imperiale Phantasien und slavophile Selbstbilder bis hin zu den Krisen nach 1991 eine atemberaubende historische Strecke hinter sich bringt, wird die Darstellung doch nie unübersichtlich. Die Fragestellung gerät nicht aus dem Blick, und die einzelnen Elemente werden als Entwicklung oder Kontrast aufeinander bezogen. Dass dabei auch noch Elitenkultur und ein “Blick von unten” sowie die Problematik des Vielvölkerreiches Russland einbezogen werden, macht die Leistung Jahns umso beeindruckender.

Es folgen weitere Artikel, von denen insbesondere diejenigen von Lindsey Hughes über Denkmale und Architektur sowie von Stephanie Sandler über Puschkin ebenfalls lange Abschnitte russischer Geschichte ins Auge fassen, ohne die Leser/innen zu überfordern oder durch klischeehafte Vereinfachungen zu verärgern.

Wenn auch all diese Analysen und Darstellungen angenehm unprätentiös sind und ihren Gegenstand behandeln, ohne sich auf Modebegriffe und sich fast täglich vermehrende “turns” zu berufen oder seitenweise Fußnoten zu produzieren, so wäre eine kurze und überblicksartige Vorstellung von Forschungskontroversen und -entwicklungen doch hilfreich gewesen. Und auch ein wenig name-dropping hätte der Orientierung der Studierenden im Feld nur nützen können. Schade ist vor allem, dass die Bibliografie nicht besser strukturiert wurde und ohne Kommentierung bleibt. Ein wenig von der Mühe, die investiert wurde, um den Lesern/innen die Geschichte nahezubringen, hätte auch für den nächsten Schritt des Weiterlesens aufgewandt werden können.

Insgesamt ist hier ein Buch vorgelegt worden, das Forschung verständlich und spannend macht, das Interesse an Russlands Vergangenheit und Gegenwart weckt, das nicht zuletzt den Blick vom häufig so stark betonten späten 19. und 20. Jahrhundert auf frühere Zeiten und deren Faszination lenkt – ein Buch also, das Lehren und Lernen in Grundstudium sicher in mancher Hinsicht einfacher und angenehmer machen wird.

1 Brubaker, Rogers; Cooper, Frederick, Beyond Identity, in: Theory and Society 29 (2000), S. 1-47.

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