D. Müller: Staatsbürger auf Widerruf

Titel
Staatsbürger auf Widerruf. Juden und Muslime als Alteritätspartner im rumänischen und serbischen Nationscode. Ethnonationale Staatsbürgerschaftskonzepte 1878-1941


Autor(en)
Müller, Dietmar
Reihe
Balkanologische Veröffentlichungen 41
Erschienen
Wiesbaden 2005: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
537 S.
Preis
€ 98.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Troebst, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig (GWZO)

In der mittlerweile einen deutlichen Aufschwung erfahrenden sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung zu Fragen von Staatsangehörigkeit, Staatsbürgerschaft und Nationalität spielt die diesbezüglich “märchenhaft komplexe Welt des Habsburgerreiches” (Rogers Brubaker) samt dem übrigen östlichen Mitteleuropa lediglich eine Nebenrolle, wie überdies Südosteuropa nahezu gänzlich ausgeblendet wird. Um so willkommener ist daher der regionale Fokus von Dietmar Müllers umfangreicher vergleichender Untersuchung zu Staatsbürgerschaftsdiskursen und Staatsangehörigkeitsgesetzgebung Rumäniens und Serbiens bzw. Jugoslawiens vom Berliner Kongress bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs in Südosteuropa. Bereits der Übertragung der Frage nach den Spezifika und Unterschieden europäischer Staatsbürgerschaftskonzeptionen auf den Donau-Balkan-Raum wegen stellt sein Buch eine Pionierstudie dar.

In Müllers Sicht sind es die jeweiligen Nationscodes, welche die nationalstaatlichen Konzeptionen zur Frage der Staatsbürgerschaft formen. Ihm zufolge werden diese Nationscodes mit Blick auf solche Gruppen von Staatsbürgern formuliert, die als “signifikant anders” perzipiert werden und denen daher sowohl kollektiv wie individuell der Status von “Staatsbürgern auf Widerruf” beigemessen wird. In einer originären wie glücklichen Begriffsprägung spricht der Autor diesbezüglich von innerstaatlichen “Alteritätspartnern” der Titularnation – gemäß der Erkenntnis, dass Identität ohne Alterität nicht vorstellbar ist. “Staat” nimmt sich so als eine ethnonational geschlossene Veranstaltung aus, in der Titularnation und Staatsvolk seitens der Mehrheit in eins gesetzt werden und entsprechend nationale wie ethnokulturelle Minderheiten samt anderen Teilen der Wohnbevölkerung aus dem Staat im Wortsinne herausfallen. So wie seit 1992 in Estland und Lettland die große Minderheit der Russ(ischsprachig)en als Gegenlager der kleinen Titularnationen figuriert und entsprechend auch über den EU-Beitritt hinaus nur zu Teilen die neue estnische und lettische Staatsangehörigkeit zuerkannt bekam, so spielten im Zeitraum vom Berliner Kongress bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs in Südosteuropa Juden in Rumänien und albanische Muslime in Serbien bzw. Jugoslawien die Rolle solcher autochthoner, aber dennoch beständig bedrohter Alteritätspartner. Zu diesem Urteil gelangt der Autor im Zuge einer akribischen Analyse zum serbischen Albanerstereotyp und zum rumänischen Judenbild, wie sie hier erstmalig auf breiter Basis rumänischer Primärquellen sowie serbisch-jugoslawischer und rumänischer juristischer Literatur samt ethnozentrischen Diskursen unternommen wird. Das fast fünfzigseitige Quellen- und Literaturverzeichnis vermittelt dabei eine Vorstellung von der verarbeiteten Materialfülle.

Seine Leitfragen nach der Rolle der genannten Alteritätspartner in der jeweiligen “Identitätserzählung”, nach den Parallelen und Divergenzen seiner beiden Fallbeispiele, nach den juristischen und politischen Hebeln zu Vergabe bzw. Entzug von Staatsangehörigkeit sowie nach Prozessen von Assimilation und Dissimilation sucht der Autor mittels zweier zentraler methodischer Zugriffe zu beantworten. Zum einen nimmt er eine Analyse der Diskurse über Nation und Staat in Serbien und Rumänien vor und zum anderen untersucht er die Umsetzung des jeweiligen Nationscodes in Maßnahmen sowohl der juristischen Purifizierung des Nationalstaates mittels Staatsangehörigkeitsgesetzen als auch der physischen mittels “forcierter Emigration” per Aussiedlungsabkommen mit anderen Staaten sowie schließlich der politischen mittels ungleicher Partizipation am Gemeinwesen.

Zusätzlich zur rumänischen Perzeption der Juden Rumäniens und zur serbischen der – überwiegend albanischen – Muslime Serbiens samt maßgeschneiderter Staatsangehörigkeitsgesetzgebung nimmt Müller in einem interessanten Exkurs über “Leerstellen im Nationscode” auch die (jeweils deutlich kleineren) Gruppen der Juden Serbiens und der Muslime Rumäniens in den Fokus. Dieser Perspektivwechsel zeigt, dass weder die sephardischen Juden Belgrads und Sarajevos noch die muslimischen Türken und Tataren der Dobrudscha Ausgrenzungsobjekte von Staat und Titularnation waren. Folglich kann Müller überzeugend demonstrieren, dass als Alteritätspartner titularnationaler Nationscodes nicht Minderheiten im Allgemeinen, auch nicht Juden oder Muslime im Besonderen fungieren. Vielmehr betont er, dass der Alteritätspartner zwei Bedingungen erfüllen müsse, nämlich einerseits Signifikanz – vor allem was Zahl und Einfluss betrifft –, andererseits das, was er als “Usurpatorenparadigma” bezeichnet, also historische Konkurrenz um die Herrschaft über den Nationalstaat oder über Teile seines Territoriums, sei sie real oder nur vermeintlich.

Überraschend, aber auch überzeugend ist die Quintessenz des Autoren zum Gegenwartsbezug seiner Forschungsergebnisse: Der in Südosteuropa auch weiterhin gängigen Gleichsetzung von Staatsvolk und Titularnation und der daraus resultierenden Folge der Ausgrenzung ethnokultureller Minderheiten als “Bürger zweiter Klasse” wegen reichten Minderheitenrechte auf individueller Basis für solche “strukturellen Minderheiten” nicht aus, sondern müssten durch Kollektivrechte ersetzt werden. Nur wenn dem übermächtigen Kollektiv der Titularnation in rechtlicher Hinsicht minoritäre Kollektive statt minoritäre Individuen gegenüber stünden, könnten deren Rechte wirksam geschützt werden. Mit dieser historisch hergeleiteten und empirisch am Beispiel von Juden in Rumänien und Albanern in Serbien eindrücklich belegten Schlussfolgerung leistet der Autor einen profunden Beitrag zu der intensiven internationalen Debatte von VölkerrechtlerInnen, DiplomatInnen und PolitikerInnen zu den Themenbereichen “Inter-Ethnic Power-Sharing” und “Managing Diversity” – und er baut damit zugleich einer Tendenz aus jüngster Zeit vor, in zum Teil bewusster Verwechslung von Ursache und Wirkung minderheitenrechtliche Regelungen im internationalen, zwischenstaatlichen und innerstaatlichen Bereich als eskalierendes Moment in Situationen gespannter interethnischer Beziehungen und in ethnopolitischen Konflikten zu sehen.

Dass die Gewichte in Müllers Darstellung deutlich zugunsten des rumänischen Falles verteilt sind, sein Vergleich also partiell ungleichgewichtig ausfällt, liegt zum einen in seiner Prägung als Rumänienhistoriker 1, entspricht zum anderen aber auch den regionalen Proportionen. Und dass er aus Gründen der Arbeitsökonomie auf die Einbeziehung Bulgariens als drittem Fallbeispiel verzichtet hat, ist nachvollziehbar, wenngleich angesichts einer von ihm vorgelegten Skizze eines solchen viel versprechenden Dreiervergleichs auch bedauerlich.2 Denn wie selbst die neue demokratische Verfassung von 1990 zeigt, ist Bulgarien ein Extrembeispiel für die von Müller diagnostizierte Ineinssetzung von ethnonationalen Mehrheitsstandards als (nicht-ethnisch definierte!) Norm und ethnonationaler Minderheitsrelation als politisch, gesellschaftlich und partiell auch juristisch kaum tolerierbare Devianz. Dass die bulgarische Verfassungswirklichkeit sich im Zuge der Vorbereitung auf den Beitritt zur Europäischen Union mittlerweile stark verändert hat, steht auf einem anderen Blatt – die minderheitenfeindliche Verfassung von 1990 mit ihrem de facto-Verbot von Parteien, die nicht von der Titularnation majorisiert werden, ist indes weiterhin in Kraft.

Dietmar Müllers ebenso scharfsinniger wie quellengesättigter Langzeitvergleich von Staatsbürgerschaftsdiskurs und Staatsangehörigkeitsrecht in zwei südosteuropäischen Gesellschaften bietet über seine (geschichts-)regionale Dimension hinaus eine Fülle von Schnittstellen für künftige komparative Forschung zu anderen europäischen und eurasischen Fallbeispielen. Ein synchroner wie vor allem auch diachroner Vergleich der ethnonationalen Staatsbürgerschaftskonzepte Rumäniens und Serbiens mit den Nationscodes der Gesellschaften Süd-, West-, Nord-, Mittel- und Osteuropas wird – neben einigen Unterschieden – mutmaßlich grundlegende Gemeinsamkeiten erbringen.

Anmerkungen:
1 Siehe Müller, Dietmar, Agrarpopulismus in Rumänien. Programmatik und Regierungspraxis der Bauernpartei und der Nationalbäuerlichen Partei Rumäniens in der Zwischenkriegszeit, St. Augustin 2001.
2 Müller, Dietmar, Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft in Südosteuropa. Der Staatsbürger in den "nationalen Codes" Rumäniens, Bulgariens und Serbiens, in: Osteuropa 56 (2002), S. 752-773.

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