Kontinuität und Permanenz: Phänomene sozialer Dauer in Zeiten proklamierten Wandels

Kontinuität und Permanenz: Phänomene sozialer Dauer in Zeiten proklamierten Wandels

Veranstalter
Vorstand des AK Historische Soziologie (Clemens Boehncke, Christoph T. Burmeister, Vera Linke, Matthias Leanza, Takemitsu Morikawa und Daniela Russ).
Veranstaltungsort
Institut für Sozialwissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin
PLZ
10117
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Findet statt
In Präsenz
Vom - Bis
05.10.2023 - 06.10.2023
Deadline
30.04.2023
Von
Matthias Leanza, Departement Gesellschaftswissenschaften, Universität Basel

Call zur Jahrestagung 2023 des AK Historische Soziologie, DGS-Sektion Kultursoziologie

Kontinuität und Permanenz: Phänomene sozialer Dauer in Zeiten proklamierten Wandels

Vor dem Hintergrund einer immer schon dynamischen Moderne erscheint unsere Gegenwart als ein Zeitalter disruptiven Wandels. Vermeintliche Sicherheiten geraten auf den Prüfstand und etablierte Routinen werden infrage gestellt. Die Rede von der »Zeitenwende« in der Politik, aber auch die Klimabewegung mit ihren öffentlichkeitswirksamen Aktionen beschwört die Veränderung: Der Status Quo soll nicht einfach fortgesetzt und in die Zukunft verlängert werden, weil dies unsere Existenzgrundlagen gefährden würde. Gleichzeitig versuchen Tech-Giganten ihre »disruptiven Technologien« und »innovativen Lösungen« unter die Leute zu bringen, sollen diese doch dazu geeignet sein, Menschheitsprobleme zu lösen, sofern man ihrer solutionistischen Rhetorik folgt. Wenn etwas Permanenz zu besitzen scheint, dann allenfalls der Wandel, der wahlweise als Fortschritt oder als Katastrophe – oder mit Walter Benjamin als beides zugleich – begriffen wird.

Auch in der Soziologie besteht eine thematische Präferenz für sozialen Wandel und Phänomene der Diskontinuität. So postulieren Gegenwartsdiagnosen (wie etwa die der Risikogesellschaft, der Informationsgesellschaft oder der Generation X) genretypisch den Bruch mit allem Vergangenen in ihrem Versuch, das in der Gesellschaft vorherrschende Zeitgefühl auf den Begriff zu bringen. Noch grundlegender setzen sozialtheoretische Debatten an: In ihnen ist der Eindruck einer stabilen, quasi-objektiven Sozialwelt in immer wieder neuen Anläufen grundlegend erschüttert worden. Diese wird stattdessen als Effekt von Gewohnheitsbildung und Sozialisation, aber auch als Resultat iterativer Handlungsprozesse und performativer Sprechakte erkennbar, welche die Gegenstände, auf die sie referieren, als konstante Sachverhalte allererst hervorbringen. Im Zentrum der Historischen Soziologie stehen ebenfalls Fragen nach der Genese und dem Wandel sozialer Ordnung, wenn auch stärker empirisch orientiert und auf konkrete Gegenstände bezogen. Ordnung wird dabei nicht als gegeben vorausgesetzt, sondern hinsichtlich ihrer kontingenten Entstehungsbedingungen untersucht. In der dynamischen Moderne, in der alles Stehende und Ständische verdampft, gilt permanente Veränderung und krisenhafte Transformation weniger als Ausnahme denn als zu erwartender Normalfall, den die Soziologie zu Prozessbegriffen verdichtet und generalisiert.

Die Jahrestagung 2023 des Arbeitskreises Historische Soziologie (DGS-Sektion Kultursoziologie) möchte demgegenüber die Akzente verschieben. Anstatt ein weiteres Mal die Gewordenheit und den fortwährenden Wandel sozialer Wirklichkeit aufzuzeigen, soll umgekehrt diskutiert werden, wie diese zuallererst Kontinuität und Permanenz erlangt. Das Anliegen mag auf den ersten Blick paradox erscheinen: Lassen sich Phänomene des ununterbrochenen Fortgangs (Kontinuität), wenn nicht des dauerhaften, grundsätzlich unbefristeten Fortbestands (Permanenz) überhaupt historisieren? Stellen sie nicht vielmehr das Gegenteil von Geschichte dar? Dies wäre indes nur dann der Fall, wenn man Phänomene sozialer Dauer als gegeben voraussetzte, anstatt sie als erklärungsbedürftige Größen zu begreifen. Die auf der Tagung angestrebte Perspektivverschiebung berührt insbesondere Fragen nach:
– der Herstellung von Kontinuität: Mithilfe welcher Praktiken und materieller Dispositive stellen Akteure, individueller und kollektiver Art, soziale Dauer her? Was sind dabei verwendete Strategien und Taktiken? Und welche Rolle spielen Reparatur- und Präventionstechniken, aber auch Aufbewahrungs- und Speicherungsmedien, um einer drohenden Unterbrechung des sozialen Bandes, wenn nicht dessen vollständigem Abbruch, in der Zukunft entgegenzuwirken?
– den Beharrungskräften des Sozialen: Was sind umgekehrt Beharrungskräfte gesellschaftlicher Ordnungsformen? Welche Mechanismen, Dynamiken und Konstellationen verhindern, dass soziale Transformation stattfindet, so dass etablierte Muster sich ad infinitum perpetuieren, selbst wenn sie als problematisch erkannt worden sind?
– Konzepten und Theoriefiguren: Welche konzeptionellen Ressourcen bietet die Soziologie, um Phänomene sozialer Dauer auf den Begriff zu bringen? Was sind Theoriefiguren jenseits statischer Norm- und Sozialisationsvorstellungen, die uns ein komplexeres Verständnis der Beständigkeit des Sozialen erlauben, sich zugleich aber auch für quellenbasierte Forschung fruchtbar machen lassen?
– der Darstellung von Kontinuität: Auf welche Schwierigkeiten stößt man bei der Darstellung sozialer Kontinuität und Permanenz in historisch-soziologischen Studien? Wie sind Phänomene der Dauer(-haftigkeit) zu beschreiben oder zu erzählen, ohne ihnen den historischen Charakter zu nehmen?

Erwünscht sind Beitragsvorschläge, die auf eigener historischer Forschung beruhen und sich darum bemühen, Quellen- mit Theoriearbeit zu verbinden. Die Tagung trägt einen explorativen Charakter und ist offen für Beiträge zu unterschiedlichen Epochen und Gegenstandsbereichen. Einreichungen (ein- bis zweiseitiges Abstract und CV) bitte bis zum 30. April 2023 an: akhistorischesoziologie@gmail.com.

Kontakt

akhistorischesoziologie@gmail.com

Redaktion
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Land Veranstaltung
Sprach(en) der Veranstaltung
Deutsch
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