Filmproduktion und Filmkultur haben seit ihren Anfängen nicht nur durch den Vertrieb und Verleih von Filmkopien und Technologien, sondern auch durch die Vernetzung von Personen transnationale Netzwerke geschaffen. Ebenso war das frühe Schreiben über Film und die angehende Filmtheoriebildung von der Pluralität der Stimmen aus den verschiedenen Bereichen und europäischen Kontexten geprägt. Transnationale Ansätze in der Forschungsliteratur haben Analysebeispiele zutage gebracht, wie die Untersuchung verschiedener (Sprach-)Versionen von Filmen und der personellen Vernetzungen im internationalen Starsystem, die neue Erkenntnisperspektiven auf Filmgeschichte und Filmgeschichtsschreibung ermöglichen. In diesem Geflecht von Film und Kinokultur können jüdische Erfahrungen und europäische Migrationsgeschichten als spezifische Erfahrungen und eigene Diskursnetzwerke sichtbar gemacht werden. Werden jüdische Filmgeschichte(n) durch europäische Perspektiven angereichert, werden sie nicht nur der thematischen Vielfalt und Transnationalität des Gegenstandes selbst, sondern auch der Interdisziplinarität und Internationalität dieses jungen Forschungszusammenhangs gerecht.
Wie werden historische Ereignisse und Filmentwicklungen in den verschiedenen europäischen Kontexten interpretiert, wie unterscheiden sich jüdische Filmgeschichte(n) in den europäischen Ländern und wo können Verbindungslinien gezogen werden? Diese Perspektive nähert sich der Gegenstandsbestimmung ‘Jüdischer Film', indem sie transnationalen Austausch zwischen europäischen Filmkulturen und ihren Akteur:innen berücksichtigt und dabei die jüdischen Perspektiven in den Fokus rückt. Die Beispiele in der Forschungsliteratur betreffen nicht nur die spezifischen Akteur:innen (z.B. Richard W. McCormick: Sex, politics, and comedy: the transnational cinema of Ernst Lubitsch. Bloomington 2020), sondern auch die Filme selbst. So haben sich jüdische Erfahrungen der (erzwungenen) Migration in die Filme von Re-migrant:innen als “films de remigration” und “films du remigration” (Nedjma Moussaoui) eingeschrieben und so einen spezifischen filmischen Diskursraum eröffnet. Solche transnationale Verbindungen können bis in aktuelle Filmkulturen nachverfolgt werden, wenn beispielsweise Filme durch ihre Zirkulation auf jüdischen Filmfestivals durch den Austausch eine “jüdische Vita” (Pizaña Pérez 2022) entwickeln. Jüdische Filmgeschichte(n) werden also nicht mehr nur auf nationalen Ebenen betrachtet, sondern als transnationale Netzwerke, die einen gesamteuropäischen Diskursraum schaffen. So können Motivgeschichten über europäische Grenzen hinweg nachgezeichnet, die Bewahrung des jüdischen Filmerbes als gesamteuropäische Aufgabe verstanden oder analysiert werden, sowie beschrieben werden wo ‘Jewish Readings’ in der Rezeption in den verschiedenen europäischen Kontexten jeweils anders erfahren und diskutiert werden.
Nach zwei erfolgreichen (Post-)Doktorand:innen Kolloquien sollen in dem nächsten Treffen “Jüdische Filmgeschichte(n) transnational: Europäische Perspektiven“ neue Forschungsperspektiven diskutiert und die Möglichkeiten und Grenzen inter- und transnationaler jüdischer Filmforschung erörtert werden. Dabei sollen nicht nur die Themen und methodischen Ansätze verschiedener Disziplinen in Beziehung gesetzt werden, sondern auch das Forschungsnetzwerk innereuropäisch ausgebaut und europäische Forscher:innen und ihre Perspektiven eingebunden werden.
Das diesjährige Kolloquium bietet wieder die Möglichkeit, Ideen und Forschungsergebnisse zu präsentieren und methodische und theoretische Neuerungen mit etablierten PostDocs zu diskutieren. Dabei sind sowohl nationale als auch transnationale Perspektiven erwünscht.
Exemplarische Themenbereiche können sein:
- Transnationale und nationale Jüdische Filmgeschichte(n) in Europa
- Transnationale und nationale (Austausch-)Bewegungen/Verbindungen von Film & ihren Akteur:innen
- Neue Ansätze und Methoden der Erforschung ‚Jüdischen Films‘
- Filmische Erinnerung an die Shoah aus nationaler/ gesamteuropäischer Perspektive
- Jewish Moments in Rezeption und Filmkultur
- Antisemitismus und Umgang mit belastetem Filmerbe
- Musealisierung, Kuratierung und Archivierung Jüdischen Films
- Jüdische Filmkultur und Videokunst
- Jüdische Filmschaffende und Fragen der Biografieforschung
- Religion, Orthodoxie und Film
- Jüdische Ästhetik und Medienphilosophie
- Exil- und Migrationsforschung
- Schnittstellen von Film und Jüdischen Literaturen
Das Kolloquium findet online statt und richtet sich an Promovierende sowie PostDocs aller Fachrichtungen in Europa, die zu audiovisuellen Auseinandersetzungen mit jüdischer Erfahrung forschen. Es werden deutsche und englische Panels zusammengestellt. Bewerbungen von Teilnehmenden der letzten Kolloquien sind ausdrücklich erwünscht.
Das Kolloquium kann zu gleichen Teilen aus Vorträgen und Projektvorstellungen bestehen. Neben klassischen Kurzvorträgen sind besonders auch andere Formate, wie beispielsweise gemeinsame Sichtung von Filmausschnitten, Videoessays, Workshops und Diskussionsrunden, erwünscht.
Bewerber:innen werden gebeten, bis zum 22. Januar 2024 ein kurzes Abstract (400-500 Wörter), das den geplanten Beitrag für das Kolloquium beschreibt, und eine Kurzvita (max. 1/2 Seite) an folgende Email Adresse zu schicken: t.seene@filmuniversitaet.de
Die Benachrichtigung erfolgt Anfang Februar 2024.