Im Jahre 2024 jährt sich das Erscheinen von Helmuth Plessners Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus zum 100. Mal. Dieses Jubiläum stiftet den Anlass einer Tagung, die vom 7.-9.11.2024 von der Helmuth-Plessner-Gesellschaft in Kooperation mit der Deutschen Sporthochschule Köln, der Hochschule Düsseldorf (HSD) und der Karl-Jaspers-Gesellschaft Oldenburg ausgerichtet wird. Das Werk verhandelt Themen, wie sie aktueller und brisanter kaum sein könnten. Es handelt sich um ein vehementes Plädoyer für die Notwendigkeit, personale Beziehungen prinzipiell als vermittelte denken zu müssen und zu sollen. Deshalb ist es ein Plädoyer für das Recht auf Distanz, also für Takt, für die soziale Unhintergehbarkeit von Diplomatie. Das Werk macht den Gedanken stark, dass das Private zwar ein Rückzugsort und Schutzraum sein mag, dass diese Sphäre des Privaten aber, wie wir leidvoll durch Fälle häuslicher Gewalt und des Missbrauchs an Schutzbefohlenen wissen, seinerseits durch Öffentlichkeit geschützt werden muss. Wenn man Öffentlichkeit als Schutzraum denkt, dann funktioniert die einfache Verteilung von sozialer Nähe und Ferne nicht mehr, und erst recht nicht die Zuordnung von gemeinschaftlicher Wärme und gesellschaftlicher Kälte. Im Gegenteil stellen sich solche Zuordnungen als Formen »des sozialen Radikalismus« heraus, der Privates und Öffentliches gleichermaßen zu kolonisieren und damit aufzulösen droht.
Grenzen der Gemeinschaft zu bestimmen, heißt vor allem, noch einmal über den Unterschied und das Verhältnis von Gemeinschaft und Gesellschaft nachzudenken. Plessners Philosophie bedenkt die Wir-Sphäre als solche, in der Gemeinschaften und andere Formen des Sozialen unterscheidbar werden. Er weigert sich – wie er es später in den Stufen von 1928 ausdrücken wird –, diese Sphäre der Personalität zusammenfallen zu lassen mit einer schon bestimmten Gruppe von Menschen, die »Wir« zu sich sagen. Die anwachsende Pluralität und Diversität moderner Gesellschaften verlangt, jedes »Wir« kritisch zu durchdenken und zu hinterfragen. Gesellschaft ist daher mit Plessner vertragstheoretisch nicht zu haben, da die WirSphäre ein republikanisches WirüberUns-Format ist, das Individuen und Zusammenschlüsse von Individuen je schon prägt. Die rechtsstaatliche Verfasstheit moderner Gesellschaften hat daher die Sonderrolle von Verfassungs und Völkerrecht innerhalb des Rechtssystems zu bedenken.
Die Tagung verfolgt die Frage, ob Plessners Verhältnisbestimmungen von Gemeinschaft und Gesellschaft, von Privatheit und Öffentlichkeit, von sozialer Nähe und Distanz heute noch bedenkenswert sind. Sind seine Antworten veraltet? Oder sind sie, umgekehrt, weitgehend unabgegolten? In welchem Verhältnis stehen diese Antworten zu seinerzeitigen Alternativen? Könnten sie heutige Debatten bereichern? Haben sie angesichts eklatanter Völkerrechtsbrüche oder angesichts des offensiven populistischen Madigmachens einer Personalität für Alle noch etwas zu sagen? Halten sie feministischer und dekolonialer Kritik stand? Lässt sich das Recht auf individuelle Autonomie, dass Plessner formuliert, innerhalb aktueller Menschenrechtsdiskurse reformulieren? Und stellen sie Denkansätze bereit, die es ermöglichen, das Recht auf individuelle Autonomie und Privatheit der Klient:innen sozialer Arbeit hervorzuheben?
Neben einem öffentlichen Abendvortrag von Christoph Möllers ist die Tagung mit folgenden Schwerpunktsetzungen geplant, die je historisch und systematisch thematisiert werden sollen:
I. Systematisches zu den Hauptthemen der Grenzschrift, etwa
- Verständnis von Person, Rollen, Masken
- Verhältnis von Gemeinschaft und Gesellschaft, auch im interkulturellen Vergleich
- Verständnis von Privatheit – Öffentlichkeit als Schutzraum
- Plädoyer für soziale Distanziertheit, für Takt und Diplomatie
- Bewährungsproben: Hält die Grenzschrift antipatriarchaler, antirassistischer, dekolonialer, antiklassistischer, antiableistischer etc. Kritik stand?
II. Fragen der Einordnung der Grenzschrift in das Gesamtwerk von Plessner und ihre systematische Einordnung im Spannungsfeld von Natur – Leben – das Soziale – das Politische.
III. Fragen der Einordnung in den politischen und geistesgeschichtlichen Kontext (z.B.: Tönnies, Jaspers, Smend, Kelsen, Troeltsch, Freyer, Th. Litt, C. Schmitt, Weber, Scheler, Mannheim, Westphal, Löwith, Freud, Klages, Misch, Heidegger – Th. Mann, St. Zweig, R. Musil, Lebensreformbewegung) sowie moderate Aktualisierungen (Formen des sozialen Radikalismus heute)
Wir rufen dazu auf, sich mit einem Vortrag, einem Zwiegespräch oder einem analogen Format an der Tagung zu beteiligen. Dazu bitten wir um entsprechende Abstracts (im Umfang von ca. 500 Wörtern) mit der Angabe eines Arbeitstitels und der Bitte um Zuordnung zu einem der genannten (Unter)Schwerpunkte. Bitte reichen Sie diese Abstracts bis zum 15. April 2024 unter einer der folgenden Adressen ein:
nils.baratella@hs-duesseldorf.de
v.schuermann@dshs-koeln.de