Wohnen und Klasse hängen zusammen und bedingen sich – spätestens seit der Diskursivierung des Wohnens in der Moderne – wechselseitig. Die Unterscheidung von ‚gutem‘ und ‚schlechtem‘, ‚richtigem‘ und ‚falschen‘ Wohnen ist Teil einer (modernen) Ästhetiktradition, die sowohl mit moralischen Prinzipien als auch mit einer erheblichen (Vor-)Bildproduktion in Kunst und Architektur verschränkt ist – und damit Klassengrenzen markiert. Milieutheorien und Wohnratgeber amalgamieren spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts Wohnung und Bewohner:innen: Architektonische Strukturen, die darin (an)geordneten Wohndinge, ‚Einrichtungsgeschmack‘ und ‚Lifestyle‘ würden demnach direkte Rückschlüsse auf deren ‚Charakter‘ erlauben. Aus einer klassenbewussten Perspektive lässt sich kritisch fragen, inwiefern hier ökonomische und gesellschaftliche Strukturen un/sichtbar gemacht und Klassenverhältnisse in Bildern des Wohnens, Grundrissen, (Innen-)Architektur und Stadtplanung determiniert werden. Der Imperativ eines vermeintlich ,richtigen‘ Wohnens und Wohnhandelns sowie idealisierte Bilder davon begegnen uns in Kunst und Architektur genauso wie in (Wohn-)Zeitschriften, TV-Serien und auf Instagram. Hier werden Vorstellungen von Klassenverhältnissen im Wohnen verstetigt, die integral daran beteiligt sind, klassistische Ressentiments hinsichtlich Einrichtung, Geschmack und Konsum zu visualisieren und damit zu re/produzieren. Nach wie vor prägt das (Vor-)Bild des bürgerlichen Wohnens als unmarkierte Norm gängige Vorstellungen ,richtigen‘ Wohnens, die zumeist als heteronormativ, kleinfamiliär und weiß ausgewiesen und von Wertvorstellungen der Geschlechter- und Funktionstrennung, von Privatheit und Platz, Kleinfamilie und Komfort, ,geschmackvoller‘ Einrichtung und Eigentum durchdrungen sind. Das prekäre oder gar unbehauste Wohnen bleibt zumeist unerwähnt und wird damals wie heute als individualisiertes Verschulden oder als Scheitern am ‚richtigen‘ Wohnen abgetan.
Anknüpfend an die im deutschsprachigen Raum recht junge Klassismusforschung möchte das Themenheft der kritischen berichte verschiedene Perspektiven versammeln, die Wohnen kritisch entlang von Klassenverhältnissen befragen. Klassismus als Begriff einer Diskriminierungsform eröffnete dabei die Perspektive auf Aberkennungsprozesse, die auf kultureller, institutioneller, politischer und individueller Ebene passieren: Wohnungsanzeigen, die Sozialhilfeempfänger:innen, migrantisierte und rassifizierte Menschen im Vorhinein ausladen, spezifische Stadtplanung und Prozesse der Gentrifizierung sind Ausdruck klassistischer Verhältnisse, ebenso wie Architekturtheorien sowie künstlerische und mediale Darstellungen, die diskriminierende Stereotype aufrufen, produzieren und naturalisieren. Daher macht Klassismuskritik auch auf Strukturen aufmerksam, die zum Erhalt von Klassenverhältnissen beitragen. So wird die von Friedrich Engels thematisierte Wohnungsfrage heute (er)neu(t) gestellt: Die Kampagne Deutsche Wohnen & Co enteignen! steht weit über Berlin hinaus für eine aktionistische Intervention in den privatisierten Wohnungsmarkt und stellt einerseits Fragen nach der Kapitalisierbarkeit des Menschenrechts auf Wohnen und reartikuliert andererseits die Forderung von Vergesellschaftung und danach, das Soziale im Wohnungsbau wieder großzuschreiben.
Auch die disziplinäre Ordnung in Architektur- und Kunstgeschichte stellt Klassenverhältnisse dar und zugleich her. Gattungs- und Raumhierarchien, Typologien und Epochengrenzen, Medium, Stil und Autor:innenschaft definieren die Gegenstandsbereiche und bilden damit eine Basis der Kanonbildung von Wohn(vor)bildern: Zum Beispiel werden im Fokus auf barocke Palastanlagen und Villenarchitektur hauptsächlich Repräsentationsräume thematisiert; in der Gattungshierarchie des 19. Jahrhunderts werden alltägliche Wohn- und Interieurdarstellungen auf den unteren Rängen eingeordnet; die Wohnungsfrage wird erst dann zu einem prominenten Problem der Architektur, wenn sie sich mit dem Projekt des Neuen Bauens verknüpfen lässt.
Über Bild-, Architektur- und Diskursanalysen, Re-/Lektüren, historische Beispiele aus der Architektur-, Design- und Kunstgeschichte und (aktuelle) künstlerische wie aktivistische Praxen sollen im Themenheft ästhetische, gesellschaftliche und politische Wechselverhältnisse von Wohnen und Klasse perspektiviert werden. Dabei können folgende Fragen eine Rolle spielen: Wann und wie zeigt Wohnen Klasse (und umgekehrt)? Wie können kanonisierte Bilder vom Wohnen klassismuskritisch dekonstruiert werden? Welche Rolle spielen Kunst, Architektur und (Soziale) Medien bei der Vermittlung von Wohnbildern und Klassenverhältnissen? Wie lassen sich Geschlechterdifferenz, Rassismus und Klassenhierarchie historisch wie aktuell analytisch miteinander verknoten und wie zeigen sie sich in Visualisierungen des Wohnens? Inwiefern werden Klassenverhältnisse und -zugehörigkeiten über Wohndinge, Geschmacksdiskurse, Ästhetikgemeinschaften und Bild-, Design- bzw. Sprachpolitiken produziert und reflektiert? Welche proletarischen, revolutionären oder emanzipatorischen Wohnentwürfe hat es gegeben? Wie wird in der Geschichte und in Theorien zum Wohnen mit den Themen Klasse und/oder Klassismus umgegangen (und umgekehrt)?
Das Themenheft sucht Beiträge aller Art (Texte, künstlerische Positionen und Forschungen, Interviews etc.), die beispielsweise folgende Felder untersuchen und damit zu einer kritischen Auseinandersetzung beitragen:
- klassistische Strukturen im Architektur- und Wohnkontext der Vergangenheit und Gegenwart
- die Un/Sichtbarkeit prekärer Wohnverhältnisse
- das bürgerliche Wohnen als un/markierte Norm
- Klassismus und die Diskursivierung und Kultivierung von Kunst- und Architekturgeschichte zum Wohnen
- hegemoniale Kunst- und Architekturdiskurse und (ihre) Machtverhältnisse
- intersektionale Perspektiven auf das Zusammenwirken von class, race und gender im Wohnen
- queer_feministische (Raum-)Praxen aus anti-klassistischer Perspektive
- Aberkennungsprozesse und -strukturen im wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Kontext, in Theorie und Praxis
- Theorien und Utopien des Wohnens (im Kapitalismus und außerhalb)
- (künstlerische, aktivistische, architektonische) Interventionen in klassistische (Stadt- und Wohn-)Strukturen
Alle, die zu (bzw. gegen) Klassismus im Wohnen forschen und arbeiten, sind eingeladen, ein kurzes Abstract mit max. 300 Wörtern auf Deutsch oder Englisch sowie eine Kurzbiografie einzureichen, bitte per E-Mail an: amelie.ochs@uni-bremen.de und rosanna.umbach@uni-bremen.de. Deadline ist der 31. März 2024. Die Beiträge sollen auf einem internen Workshop im Sommer 2024 vorgestellt und gemeinsam diskutiert werden. Die Ergebnisse des Austauschs können im Anschluss in den eigenen Beitrag einbezogen werden. Die Einreichung der finalen Textfassungen (inkl. druckfähigem Bildmaterial) ist für Oktober 2024 geplant. Das Heft soll im Juni 2025 veröffentlicht werden.
Weiterführende Informationen:
https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/kb/index
http://mariann-steegmann-institut.de/