Kulturelles Erbe ist mehr als etwas Überliefertes, Bewahrenswertes, Identitätsstiftendes. In einem praxeologisch-konstruktivistischen Verständnis meint Kulturerbe bzw. Heritage eine soziale Praxis. Anders als die lange vorherrschenden essentialistischen Vorstellungen, wonach die Vergangenheit ‚nur‘ wiederentdeckt werden müsste, um sie zu bewahren, nimmt der praxeologische Zugriff die komplexen und vielfältigen Verflechtungen verschiedener Entitäten in den Blick. Wenn wir von Kulturerbe/Heritage (oder synonym auch nur von Erbe) sprechen, dann ist damit nicht ein materielles Objekt oder ein bestimmter Traditionsbestand gemeint, vielmehr steht die Praxis der Aneignung von Vergangenheit im Vordergrund. In der Kulturerbeforschung ist wiederholt hervorgehoben worden, wie zentral dabei Prozesse der Autorisierung und der Auszeichnung sind. Unbestimmter ist jedoch, wann diese Prozesse der heritagization beginnen und enden. Was hemmt die ‚Erbewerdung‘, wann kommt sie sozusagen zum ‚falschen Zeitpunkt‘, wann kann sie als gescheitert angesehen werden? Und mehr noch: Gibt es Relikte, Praktiken und Traditionen, die sich einer Aneignung langfristig oder sogar grundsätzlich verweigern oder gar (dauerhaft) in einem Zwischenfeld changieren?
Die Tagung widmet sich diesem Davor, Dazwischen oder Danach unter dem Begriff der „Latenz“. Dem latenten Erbe-Status, über den wir gemeinsam diskutieren möchten, wurde bisher nur selten die nötige Aufmerksamkeit geschenkt. Hier scheint das zu gelten, was der Ethnologe Hans Peter Hahn mit Blick auf die materielle Kultur vor einigen Jahren angemahnt hat: Der Fokus werde allzu oft auf die „hoch bewerteten, alle Aufmerksamkeit auf sich ziehenden Objekte“ gelegt; dabei sei es gerade interessant, sich den „’inerten‘, stillgestellten, wenig beachteten Objekten“ zu widmen, die zu „anderen Momenten eine außerordentliche Bedeutung gehabt haben“ oder zukünftig möglicherweise noch eine besondere Bedeutung haben werden. Übertragen auf Kulturerbe heißt dies, die Rückseiten des ‚Sehenswürdigen‘ in den Blick zu nehmen.
Die Tagung möchte nicht nur ‚stilles‘, verborgenes und übersehenes Erbe exemplarisch ans Tageslicht holen, sondern zugleich auf einer (meta-)theoretischen Ebene über dessen paradoxalen Status zwischen An- und Abwesenheit, Nähe und Ferne, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit reflektieren. Es geht mithin um Werte-Fragen, um Aspekte der Absenz, Präsenz und Latenz, aber auch um Formen der (Nicht-) Aneignung: Unter welchen Bedingungen bleibt Überliefertes ‚unter dem Radar‘? Durch was oder wen vermag sich dieser Status zu wandeln? In welchen Kontext kommt dem Latenten ein Eigenwert zu? Nicht zuletzt werden damit übergeordnete, gesellschaftsrelevante Fragen adressiert: Wo verläuft die Grenze zwischen Übersehen, Vergessen und Verdrängen? Wie wirkt dieses ‚stille‘ Erbe – unbewusst und im wahrsten Sinne des Wortes ‚verborgen‘ – in die Gesellschaft bzw. in den Alltag hinein?
Um Anmeldung bis zum 5. April 2024 an sabine.stach@leibniz-gwzo.de wird gebeten.