Themenskizze
Entgegen dem Wissenschaftsideal der Universalität, Zeitlosigkeit und Unabhängigkeit von externen Einflüssen, war und ist der Wissenschaftsbetrieb zu jeder Zeit von internen Faktoren, aber auch von religiösen, politischen und kulturellen Einflüssen geprägt. Empirische Forschung ist definitionsgemäß nicht das Werk eines Einzelnen, sondern eine kollektive Angelegenheit, bei der sich heterogene und fluktuierende Gemeinschaften um bestimmte Fragestellungen oder Experimentalstrategien scharen. So lassen sich nicht nur aus der Geschichte zahlreiche Beispiele für gewisse Tendenzen und Trends nennen, wie die Romantische Naturwissenschaft mit ihrer Vorliebe für Einheit, allgemeine Baupläne und organische Erklärungsmodelle, die verschiedenen Konjunkturphasen epigenetischer Entwicklungsideen, die stark vereinfachten Modellen und die exklusive Fokussierung auf einzelne DNA-Abschnitte der reduktionistischen Molekulargenetik der 1970er bis 1990er Jahre oder die Vorliebe für systemische multilevel Sichtweisen der heutigen „omics Revolution”.
Seit der „zweiten akademischen Revolution“ im 19. Jahrhundert bestimmen zudem Gedanken zur gesellschaftlichen Relevanz die staatliche Förderung gewisser Wissenschaftszweige und Forschungsprojekte, während andere Vorschläge und Bereiche benachteiligt werden. Jeder, der schon einmal ein Forschungsprojekt eingereicht hat, weiß aus Erfahrung, dass die Bedienung bestimmter Themen und die Nutzung bestimmter Schlagwörter die Aussicht auf Erfolg signifikant begünstigen. Die Verteilungspolitik von wissenschaftlichen Gesellschaften, privaten Stiftungen und Förderorganisationen ist hierbei besonders aufschlussreich. Auch die Medienwirksamkeit bestimmter Themen wie Biodiversität und Virusforschung kann erheblichen Einfluss auf die Bewilligung von Geldern und die mediale Aufmerksamkeit haben und so Tendenzen verstärken oder verändern. Einige Trends scheinen jedoch „zufällig“ zu entstehen und sich gesellschaftlicher Lenkung zu entziehen.
Neben den Erfolgsgeschichten können auch „vergessene“ oder „übergangene“ Forscher und Projekte aufschlussreiche Einsichten in das Thema „Trends und Tendenzen in den Biowissenschaften“ liefern. So beklagte Conrad Waddington 1975 in seiner Autobiographie die Dominanz der molekularbiologischen Genetik in den 1960er und 1970er Jahren und zog das bittere Urteil: “[All] of us who want to understand living systems in their more complex and richer forms are fated to look like suckers to our colleagues who are content to make a quick (scientific) buck wherever they can build up a dead-sure pay-off” (Waddington 1975, 10). Damals erhielten Projekte mit Fokussierung auf einzelne Gene den Vorzug, heute wären Waddingtons inhaltlich und zeitlich breiter angelegte Programme sicherlich sehr viel positiver begutachtet worden.
Dennoch gilt es, nicht nur Tendenzen und Trends, sondern auch deren Infragestellung kritisch zu beleuchten. Paradoxerweise ist es seit geraumer Zeit eine mainstream-Bewegung geworden, historische Akteure oder gar sich selbst explizit als Anti-Konformist und als außerhalb des konventionellen Wissenschaftsbetriebs lokalisiert darzustellen (siehe die Beispiele in Harman und Oren, 2013). Outsider, Rebellen, unerkannte Genies, Märtyrer und David gegen Goliath-Geschichten erwirken in der Leserschaft einen positiven emotionalen Bonus. Derartige Narrative, die die angebliche Neuheit und Andersheit hervorheben, sollen häufig aber auch die Wichtigkeit gewisser Entdeckungen oder Errungenschaften propagieren und verdecken dabei Aspekte, die eher für Kontinuität und Kontiguität sprechen. Gern stellen sich Naturwissenschaftler, wie auch Vertreter anderer Wissens- und Kulturbereiche, an den Beginn eines neuen Trends oder gar einer Revolution. Niemand gibt gern zu, dass er nur „normale Wissenschaft“ (Thomas Kuhn) betreibt. Besonders die jüngeren Nachwuchsforscher werden vielfach von dem Wunsch, etwas Neues zu entdecken oder etwas „anderes“ zu machen, beseelt. Schon in der Frühen Neuzeit waren sich Naturphilosophen wie Rene Descartes und Galileo Galilei der innovativen oder gar subversiven Bedeutung ihrer Thesen bewusst. Im Jahr 1803 schwärmte Jean-Baptiste de Lamarck in seiner Einführungsvorlesung von seiner Evolutionstheorie, sie sei fern von alledem, was zur Entwicklung der Lebewesen je gedacht wurde (Lamarck 1803 aus: Packard 1901, 259-260). Aber auch die Beiträge zur Entwicklung des anti-darwinistischen Intelligent Design-Konzepts werden von dessen Anhängern gern als wichtige Bausteine eines gerade stattfindenden allgemeinen Paradigmenwandels bezeichnet (Davis and Kenyon 1993). Aufgabe der Wissenschaftsgeschichte ist es, zu beurteilen, ob es sich dabei tatsächlich um eine neue Tendenz oder vielmehr um alten Wein in neuen Schläuchen handelt. Andere Trends und deren Ursprünge sind von der Wissenschaftsgeschichte erst im Nachhinein rekonstruiert worden und entsprechen häufig den Vorlieben späterer Epochen, was zu Verzerrungen und Anachronismen führen kann.
Dieser Call for Papers lädt zu Vorträgen ein, die die Entstehung, Entwicklung und Beurteilung von Trends und Tendenzen in den Biowissenschaften sowohl aus historischer als auch aus aktueller Sicht untersuchen. Wir freuen uns über Beiträge, die sich mit den verschiedenen biologischen, sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Faktoren befassen, die gewisse Trends und Tendenzen entstehen lassen, begünstigen, behindern oder auch zu deren Enden führen.
Mögliche Themenschwerpunkte sind unter anderem:
‒ Die historischen Ursprünge und die Geschichte von wichtigen Trends und Tendenzen
‒ Überlegungen zu Trends und Tendenzen der Biowissenschaften der Gegenwart und der Zukunft
‒ Die kritische Hinterfragung von Metanarrativen historischer Trends und Tendenzen und ihren sogenannten “Gründervätern”
‒ Die Rolle von outsidern und Wissenschaftlern, die sich gegen die Konventionen ihrer Zeit stellten
‒ Die Rolle politischer, finanzieller und gesellschaftlicher Faktoren, die die Entwicklung gewisser Strömungen begünstigt oder dies zumindest versucht haben
‒ Freie Themen
Die interdisziplinäre und multidisziplinäre Auseinandersetzung ist explizit erwünscht. Wir freuen uns über Beiträge aus der Biologiegeschichte und verwandten Fachrichtungen, einschließlich Philosophie, Politikwissenschaft, Soziologie und Naturwissenschaften.
Zur Bewerbung
Es besteht die Möglichkeit, Panels anzubieten. Besonders erwünscht sind Beiträge, die mehrere Aspekte des Themas zusammenführen. Die Tagungssprachen sind Deutsch und Englisch. Für die Tagung sind für die einzelnen Vorträge Zeitfenster im Umfang von 15–20 Minuten mit anschließender Diskussion (5–10 Minuten) vorgesehen.
Die Beiträge der Jahrestagung können nach Begutachtung im 28. Band der Verhandlungen zur Geschichte und Theorie der Biologie, dem zentralen Publikationsorgan der DGGTB, veröffentlicht werden.
Themenvorschläge im Umfang von ca. 2.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) werden bis zum 30. April 2024 erbeten an: Dr. Karl Porges, Friedrich-Schiller-Universität Jena, AG Biologiedidaktik, E-Mail: karl.porges@uni-jena.de (Postanschrift: Am Steiger 3, 07743 Jena). Bitte teilen Sie auch einige kurze Angaben zu Ihrer Person (Funktion, Wirkungsstätte) mit. Die Rückmeldung über die Annahme oder Ablehnung des Vorschlags erfolgt bis zum 7. Mai 2024.
Weitere Neuigkeiten sowie Informationen zur Organisation der Veranstaltung folgen auf unserer Webseite unter: https://www.geschichte-der-biologie.de/jahrestagungen/32-jahrestagung-2024
Zur DGGTB
Die Deutsche Gesellschaft für Geschichte und Theorie der Biologie e.V. (DGGTB) verfolgt das Ziel, die Erforschung und Vermittlung der Geschichte und Theorie der Biologie zu fördern. Unsere Jahrestagungen sollen den wissenschaftlichen Austausch zwischen unseren Mitgliedern, Institutionen mit ähnlichen Themenschwerpunkten und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, sowie interessierten Lehrkräften ermöglichen und so das gesellschaftliche Bewusstsein für die wissenschaftshistorischen und theoretischen Grundlagen unseres heutigen Verständnisses von Biologie zu schärfen.