Die Frühe Neuzeit verfügt über kein einheitliches Verständnis und keinen Kollektivsingular von ‚Ökonomie‘. Vielmehr lassen sich in Europa zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert vielschichtige Prozesse der Adaption, Zirkulation und Transformation ökonomischen Wissens beobachten. Diese Dynamik zeichnet sich nicht zuletzt in gattungspoetologischen Ordnungszusammenhängen ab, die die Augsburger Tagung aus interdisziplinärer Perspektive systematisch erschließen will. Ausgangspunkt der Überlegungen ist, dass verschiedene literarische und nicht-literarische Gattungen und Textsorten mit ihren je unterschiedlichen Funktionen eine Distribution des ökonomi-schen Wissens in der Frühen Neuzeit leisten.
Wissenskompilation
Die frühneuzeitliche Konjunktur wirtschaftlicher Wissensdarstellung geht zunächst von den sogenannten Ökonomiken aus. Diese Sammlungen kompilieren ökonomisches Wissen und bedienen ganz unterschiedliche Darstellungsmuster. Im deutschsprachigen Raum sind etwa Justus Menius’ Oeconomia Christiana (1529), Johann Colers Oeconomia (1609), Wolf Helmhards von Hoh-berg Georgica Curiosa (1682), Franz Philipp Florins Oeconomus Prudens et Legalis (1702) ein-flussreich. Hier werden Bauernregeln, Traumbücher, Lehrgedichte, Kalendarien, Embleme, klimatologische und geographische Abhandlungen in unterschiedlicher Gewichtung zueinander geführt. Die Menge an zusammengestellten Autoritäten und Gattungen vielfältiger Provenienz ist aber nicht nur Ausweis enzyklopädischer, ahistorischer Gelehrsamkeit, sondern lässt zusehends auch einen Rückgriff auf zeitgenössisches Schrifttum und Erfahrungswissen erkennen. Zu klären ist daher, ob und inwiefern zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert von einer diskurshistorischen Aktualisierung der ökonomischen Wissensbestände zu sprechen ist.
Gattungsdiffusion
Ökonomisches Wissen wird jedoch nicht nur in umfangreichen Kompendien vermittelt. Bereits die Ökonomieliteratur des 16. Jahrhunderts ist nicht denkbar ohne die Predigtliteratur über den christlichen Hausstand (aller Konfessionen). Doch ebenso in Beichtspiegeln und Kirchenliedern wäre zu erforschen, inwiefern hier Arbeitsethik und Ökonomie die Alltagswelt der Gläubigen durchdringen. Ganz anders organisieren Flugblätter über das Haushalten (z.B. Ich will ein huswirt werden oder Ich wart groß erbs) ihre Wissensvermittlung, nämlich über Text-Bild-Kombinationen. Sie stellen einen konkreten Alltags- oder Situationsbezug her und operieren mit einprägsamen, kurzen Merksätzen. In diesem Zusammenhang lassen sich auch die kunstgeschichtlichen Einflüsse der Andachts-, Markt- und Küchenbilder fruchtbar machen, die wirtschaftliches und häusliches Leben visualisieren. Insgesamt ist ein Spannungsverhältnis zwischen den in mehrbändigen Folianten ausgebreiteten Wissensbeständen und den literarisierten Kleinformen, wie den knappen Registern der Haussorge oder den nur wenige Seiten umfassenden Hausordnungen, festzustellen, die somit aber ebenfalls zentrale Fragen der Ernährung, des sozialen Verhaltens oder der Geschlechterrollen verhandeln.
Transnationale Zirkulation
Bemerkenswert ist, wie ökonomisches Wissen über die Gelehrten- und Nationalsprachen hinweg zirkuliert, übersetzt und transformiert wird. Auch finden sich in den unterschiedlichen Gattungen über einen langen Zeitraum hinweg kontinuierlich Beispiele für die Weitergabe ökonomischen Wissens. Autoren wie Giovanni Rucellai (Le Api, 1539), John Philipps (Cider. A Poem, 1708) oder José de Viera (Los aires fijos, 1779) bedienen innovativ die Gattung des ökonomischen Lehrgedichts. Vielfach zirkulieren die Texte in Übersetzungen, wie etwa Jacques Vanières Praedium rusticum (1706) in deutscher (Vollständiger Meyerhof, 1772) oder französischer Übertragung (Œconomie rurale, 1756). Fragen, wie ökonomisches Wissen in multilingualen Kontexten vermittelt wird, rücken bei Übersetzungsprozessen folglich in den Fokus. Des Weiteren sind Ehebüchlein und Ehezuchten über nationale Grenzen hinweg ebenso vergleichend zu berücksichtigen wie etwa populäre Sprichwörtersammlungen (z.B. Hernán Núñez de Toledo, Gabriel Meurier, Johannes Agricola). Lohnenswert erscheint zudem die transnationale Perspektive auf die höfischen und pikarischen bzw. satirischen Romane, Schwank- und Kurzprosasammlungen sowie Theaterstücke, in denen ökonomisches Fehlverhalten über die Verfahren des Komischen und Satirischen entlarvt werden können.
Vor dem skizzierten Hintergrund erbitten wir literatur-, geschichts- und buchwissenschaftliche Beiträge, die sich konzeptionell oder anhand von konkreten Fallbeispielen mit den folgenden Fragen befassen:
- Welche Gattungen erscheinen besonders geeignet, ökonomisches Wissen zu vermitteln? Gibt es hier historische Konjunkturen? Welchen Beitrag leisten spezifische Gattungen für die Distribution ökonomischen Wissens? Inwiefern wirken ökonomische Bedingungen auf die formal-gestalterische Ebene spezifischer Gattungen, aber auch konkrete Werke ein? Wie können die Wechselwirkungen methodisch und theoretisch gefasst werden? Wie lässt sich das Verhältnis von ästhetischer Qualität und ökonomischem Nutzen beschreiben? Welche Bedeutung kommt hierbei gattungspoetologischen Normierungen zu?
- Auf welche gattungshistorischen wie auch autoritativen Vorbilder rekurrieren die Ökonomiken der Frühen Neuzeit? Welche Darstellungsmuster erweisen sich als besonders persistent, in welchen Kontexten kommt es zu Neuerungen?
- Wie zirkuliert ökonomisches Wissen über nationale Grenzen hinweg? Werden bestimmte Gattungen in transnationaler Perspektive besonders häufig herangezogen? Wie wird ökonomi-sches Wissen übersetzt, adaptiert und transformiert? Welche Gesellschaftsschichten und Gruppierungen – Höfe, Universitäten, wirtschaftliche Vereinigungen (Hanse) und Handelskompagnien – spielen hierbei eine bedeutsame Rolle?
- Welchen Einfluss hat der spezifische historische, soziale, religiöse und konfessionelle Kontext auf die Darstellung ökonomischen Wissens? Gibt es etwa ein konfessionell gebundenes ökonomisches Wissen, das wiederum mit spezifischen Gattungen oder Schreibweisen verknüpft ist?
- Inwiefern beeinflussen Schemata geschlechtlicher Typisierung die frühneuzeitliche Ökonomieliteratur? Dient sie zur Durchsetzung von normativen Genderkonzepten oder lassen sich auch subversive Verfahren erkennen (Satire, Komödie)? Inwiefern ermöglichen bestimmte Gattungen und Textsorten Spiel- und Entfaltungsräume jenseits normierter Geschlechterrollen oder affirmieren diese?
Bitte senden Sie Ihre Beitragsvorschläge (max. 300 Wörter) für einen Vortrag und kurze biobibliographische Angaben zu Ihrer Person in einer Datei an franz.fromholzer@uni-a.de, victo-ria.gutsche@fau.de, meierhofer@uni-bonn.de und np@vonpassavant.net. Einsendeschluss für Abstracts ist der 30. April 2024. Eine Übernahme der Reise- und Unterbringungskosten wird beantragt.
Die Tagung ist Teil des Projekts „Ökonomien der Frühen Neuzeit. Gattungen – Religion – Geschlecht“, das am Jakob-Fugger-Zentrum angesiedelt ist. Weitere Informationen unter: https://www.uni-augsburg.de/de/forschung/einrichtungen/institute/jfz/forschung/forschungsprojekte/kultur-und-wissenstransfer/okonomien-der-fruhen-neuzeit-gattungen-religion-geschlecht/