„Critical Fabulation“ und die Leerstellen in der Geschichte

„Critical Fabulation“ und die Leerstellen in der Geschichte. Ein Workshop zum methodisch reflektierten Umgang mit Überlieferungslücken für fortgeschrittene Studierende, Promovierende und Postdocs der Geschichtswissenschaften

Veranstalter
Veronika Duma, Nikolaus Freimuth, Xenia von Tippelskirch
Veranstaltungsort
Historisches Seminar, Goethe-Universität
PLZ
60629
Ort
Frankfurt
Land
Deutschland
Findet statt
In Präsenz
Vom - Bis
03.05.2024 - 12.07.2024
Deadline
24.04.2024
Von
Xenia von Tippelskirch, Historisches Seminar, Goethe Universität Frankfurt

Die US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Saidiya Hartman hat vorgeschlagen, die Leerstellen historischer Überlieferung auf kreative Weise zum Ausgangspunkt zu nehmen, um dem Schweigen des Archivs eine „critical fabulation“ entgegenzusetzen. Wie eine solche kritische Fabulation aussehen kann und was es überhaupt bedeutet, kritisch zu fabulieren, wollen wir in diesem Workshop für Early Career Researchers sowohl theoretisch diskutieren als auch in praktischer Arbeit ausprobieren.

„Critical Fabulation“ und die Leerstellen in der Geschichte. Ein Workshop zum methodisch reflektierten Umgang mit Überlieferungslücken für fortgeschrittene Studierende, Promovierende und Postdocs der Geschichtswissenschaften

“By playing with and rearranging the basic elements of the story, by re-presenting the sequence of events in divergent stories and from contested points of view, I have attempted to jeopardize the status of the event, to displace the received or authorized account, and to imagine what might have happened or might have been said or might have been done.”

So definiert die Literaturwissenschaftlerin Saidiya Hartman in ihrem grundlegenden und vielzitierten Aufsatz Venus in Two Acts (2008) das Verfahren der „critical fabulation“. Dieser methodische Entwurf ist ein Aufruf zur Kreativität im Umgang mit den Leerstellen der historischen Überlieferung. Anstatt die Vergangenheiten, von denen die Quellen keine Kunde geben oder die die Quellen nur in deformierter Weise erkennen lassen, aus der historischen Erzählung auszublenden (bestenfalls heißt es: „darüber können wir nichts sagen“), soll die „critical fabulation“ auch diesen Vergangenheiten einen Platz in der historischen Erzählung ermöglichen. Wie das gelingen kann, ist jedoch alles andere als selbsterklärend. Schließlich soll es sich nicht um eine bloße Fabulation handeln, sondern um eine „kritische“ Fabulation.

Die „critical fabulation“ reiht sich in eine lange Reihe von Ansätzen, Geschichte „von unten“ zu betreiben (history from below, Mikrogeschichte, Subaltern Studies, etc.). Was sie von diesen Zugängen unterscheidet, ist einerseits der Anspruch, mit dezidiert literarischen Mitteln auf das Schweigen der Archive zu reagieren, andererseits ihre Verortung in der feministischen Standpunkttheorie. Damit gehen sowohl ästhetische als auch erkenntnistheoretische Implikationen einher. In der deutschen Geschichtswissenschaft wurde die „critical fabulation“ bislang kaum rezipiert. Dabei böte sie das Potential nicht nur zu einer anderen Quellenkritik, sondern vielmehr noch zu einer Kritik der silences: Wie sollen, können und dürfen Historiker:innen mit dem umgehen, was nicht zur „Quelle“ wurde? Ist es genug, darüber zu schweigen? Oder gibt es Wege, auch über diese Vergangenheiten methodisch zu mutmaßen und dies auf historisch valide Weise darzustellen?

In einer Zeit, in der in der Geschichtswissenschaft über „fragile Fakten“ diskutiert und auch im öffentlichen Raum mit Vehemenz über Geschichtsbilder und Sagbarkeiten gestritten wird, bietet der Ansatz der „critical fabulation“ die Möglichkeit, theoretisch und auch praktisch auf diese Fragen zu reflektieren. Ursprünglich entwickelt, um die Geschichte von Schwarzen Menschen widerzugeben, wird zu diskutieren sein, inwiefern der Ansatz auch Anregung in anderen historiographischen Kontexten bieten kann.

Zu diesem Zweck wird am Historischen Seminar der Goethe-Universität (Frankfurt) im Sommersemester 2024 ein zweitägiger Workshop für fortgeschrittene Studierende, Promovierende und Postdocs stattfinden, im Rahmen dessen am 3. Mai auf der Grundlage gemeinsamer Lektüren über den methodischen Zugriff der „critical fabulation“ diskutiert werden soll und am 12. Juli am Beispiel von in der Zwischenzeit angefertigten Entwürfen „kritischer Fabulation“ über die Chancen und Herausforderungen dieses Ansatzes gesprochen werden kann. Spezielle Vorkenntnisse sind nicht erforderlich, wohl aber die Bereitschaft, sich auf intensive Lektüre und kollegiale Diskussionen einzulassen. Reisekosten können nicht übernommen werden.

Um Anmeldung per E-Mail bis zum 24.4.2024 wird gebeten bei Nikolaus Freimuth nfreimut@em.uni-frankfurt.de

Auswahlbibliographie
Hartman, Saidiya, „Venus in Two Acts“, in: small axe 26 (2008), S. 1-14.
Hartman, Saidiya, Wayward Lives, Beautiful Experiments: Intimate Histories of Riotous Black Girls, Troublesome Women, and Queer Radicals, London 2021.
Knott, Sarah, Mother is A Verb. An Unconventional History, 2019.
Ofer, Dalia, „‘Will You Hear My Voice?‘ Women in the Holocaust: Memory and Analysis“, in: Denisa Nešťáková/Katja Grosse-Sommer/Borbála Klacsmann/Jakub Drábik (Hg.): If This Is a Woman. Studies on Women and Gender in the Holocaust, Boston 2021, 3-19.
Santos, Fabio, „Mind the Archival Gap“, in: Historical Social Research / Historische Sozialforschung 48/4 (2023), S. 330-353.
Topouzova, Lilia, „History Unclassified. On Silence and History“, in: American Historical Review 126/2 (2021), S. 685-699.

Programm

Blockveranstaltung am 3.5. und 12.7. 2024 (jeweils 9:00–16:00)

Kontakt

nfreimut@em.uni-frankfurt.de