Interdisziplinäre Tagung, 11.–13. Februar 2025 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Jüdisches Erbe stellt eine geltungsstarke (kultur)politische und erinnerungskulturelle Ressource in Deutschland und Europa dar. Es firmiert als Ausdruck kultureller Vielfalt, als Beispiel einer gemeinsamen Geschichte und als Medium zur Versicherung geteilter Werte. Neben dem Fokus auf die Shoah, die als konstitutives Element des »European memory complex« (Macdonald 2013) gilt, wird bestimmten Aspekten des Judentums eine hohe gesellschaftliche Bedeutung attestiert: Jüngst ernannte etwa die UNESCO nach den SchUM-Stätten auch mittelalterliche, jüdische Baustrukturen in Erfurt zum Weltkulturerbe, und 2021 wurde das Festjahr »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« medienwirksam begangen. Ein sozialkonstruktivistischer Blick darauf, was als Erbe ausgewählt und valorisiert wird, hat sich in den Critical Heritage Studies institutionalisiert. Kulturerbe ist nie einfach vorhanden oder eindeutig, sondern stets das Ergebnis komplexer Aushandlungen multipler Akteur:innen, die entlang unterschiedlicher Ziele oder Bedürfnisse kulturelle Ausdrucksformen als schützenswert auszeichnen. Augenmerk lag bisher insbesondere auf den Wissensregimen des »authorized heritage discourse« (Smith 2006). Im Rahmen solcher Konstruktionsmechanismen entstehen häufig monolithische Vorstellungen kulturellen Erbes, die sich leichter mobilisieren lassen und Kultur potenziell essentialisieren.
Vor diesem Hintergrund mag es verwundern, dass bislang kaum systematische Arbeiten zu jüdischem Erbe vorliegen. Denn als sensibles und dynamisches Feld kann es geradezu paradigmatisch dafür gelten, umfassende Einblicke in den dissonanten Charakter kulturellen Erbes zu gewinnen. Hier setzt die Tagung an, indem sie Kulturerbe als grundsätzlich polyphon versteht und Vielstimmigkeit aus verschiedenen Richtungen in den Blick nimmt: Erstens soll das zuweilen konfligierende Verhältnis von emischer und etischer Perspektive auf kulturelles Erbe daraufhin ausgeleuchtet werden, wie Mehrdeutigkeiten verhandelt werden. Vielfach argumentiert wurde bspw., dass die Kultur- und Bildungspolitik in Deutschland jüdisches Erbe nur eingeschränkt repräsentiert und der Vielfalt jüdischen Lebens kaum Rechnung trägt. Zweitens lässt sich danach fragen, wie divergierende wissenschaftliche Zugänge mit der Polyphonie kulturellen Erbes verfahren. Während einige Ansätze jüdisches Erbe dokumentieren und nachhaltig vermitteln wollen, fragen andere nach der Art und Weise, wie etwas zu jüdischem Erbe gemacht wird und welche Effekte dies hat. Drittens sind auch emische Erbverständnisse nicht homogen, sondern Jüdinnen:Juden stellen bereits traditionalisierte Konzepte in Frage, stabilisieren oder aktualisieren sie. In all diesen Bereichen ist derweil der Blick auf Autorisierungen, Deutungshoheiten, Legitimationen und damit verbundene Machtverhältnisse sowie deren Reproduktion relevant.
Insbesondere folgende Fragen können adressiert werden:
- Welche Verständnisse jüdischen Erbes bzw. Kulturerbes in vergleichbaren Feldern werden in welchen gesellschaftspolitischen, erinnerungskulturellen oder lebensweltlichen Kontexten privilegiert? Wie wird Differenz hier (un)sichtbar gemacht?
- Wie wird die Polyphonie jüdischen Erbes vertreten, negiert, inszeniert oder limitiert? Wie firmieren Prozesse der Reduktion, die zwangsläufig etwa in Formaten der Repräsentation auftreten (u. a. in musealen oder schulischen Kontexten)? Wie kommt es dabei zu Dissonanzen? Wo und wie treten Prozesse der Dekonstruktion und Normalisierung in Erscheinung?
- Was sind die Spezifika in der Konstruktion jüdischen Erbes, von welchen Faktoren sind diese abhängig bzw. welche beeinflussen sie? Welche Rolle spielen Diskriminierungsformen wie Antisemitismus und Rassismus? Wie wird jüdisches Erbe zu einer (identitäts)politischen Ressource?
Eingeladen sind Beiträge, die sich in diesem Sinne mit komplexen Konstruktions-mechanismen jüdischen Erbes sowie den Agent:innen und Agenturen des Ver-Erbens (nicht nur in Deutschland) auseinandersetzen. Diese sind nicht nur im autorisierten Kulturerbe-diskurs zu verorten, sondern auch dort, wo Aspekte des »›being and doing Jewish‹« (Ross 2021) verhandelt und tradiert werden, ohne dass sie explizit als Erbe geltend gemacht werden.
Die Beiträge können empirische oder historische Fallstudien ins Zentrum stellen oder aber theoretisch-konzeptionell ausgerichtet sein. Willkommen sind ebenso Fallbeispiele aus vergleichbaren Feldern, die sich mit Minderheits- und Mehrheitsverhältnissen in der Formierung kulturellen Erbes auseinandersetzen oder die Verschränkung von Ethnizität, Konfession und Nationalität bezüglich der Polyphonie kulturellen Erbes problematisieren. Diese Fallbeispiele können sich auch mit kulturellem Erbe in kultur- oder erziehungs-wissenschaftlichen Kontexten im Aufgreifen von intersektionalen oder kritischen Fragen zu kultureller Aneignung, Dekolonisierung, Hegemonie und Essentialisierung bspw. in Feldern der Kultur, Musikwissenschaft/-pädagogik befassen.
Beiträge aus allen Fachdisziplinen und von Forschenden aller Qualifikationsstufen werden begrüßt. Vortragsvorschläge mit Vortragstitel und Abstract (max. 2000 Zeichen) sowie einen kurzen CV senden Sie bitte bis zum 31. Mai 2024 an Laura Marie Steinhaus (laura.steinhaus@ekw.uni-freiburg.de).
Konzeption und Organisation
Frantz! Blessing M.Ed.
VProf’in. Dr. Ina Henning
Laura Marie Steinhaus M.A.
Prof. Dr. Markus Tauschek