Martin Heidegger hat eine Vorliebe für vordergründig ‚einfache‘ Beispiele. Nicht zuletzt ihnen verdankt er den weltweiten Erfolg seiner Philosophie. Generationen von Studierenden erlernen am „Hammer“ oder am „Krug“, was „zuhandenes Zeug“ (SuZ, 69ff.) sei, das in seinem alltäglichen Umgang eine Lebenswelt freilegt, die nicht bloß aus toten Gegenständen besteht, um die sich die Naturwissenschaften kümmern sollen. Die Werkstatt des Vaters wie die Hütte in Todtnauberg werden zu Laboren der Fundamentalontologie. An den ausgetretenen Bauernschuhen Vincent van Goghs (Der Ursprung des Kunstwerks, 22ff.) lernen wir – quasi wie durch den Schlag eines Blitzes –, dass Kunstwerke jäh eine ganz andere Welt eröffnen als jene, in der wir beinahe selbstvergessen unseren Gewohnheiten nachgehen.
Rainer Marten hat von einer initiierenden Lehrszene berichtet, in der Heidegger auf den Katheder schlägt und danach fragt: „Wo ist hier das ist“? Dasein heißt, von Beispielen angesprochen, angegangen, ja ‚geschlagen‘ zu sein, und zwar im buchstäblichen Sinne: Heideggers schlagender Beispielgebrauch stellt nicht bloß etwas dar oder macht Abstraktes anschaulich. Er ist eine spezifische diskursive Praxis zur Destruktion abendländischer Metaphysik und zur Durchdringung der vermeintlichen Selbstverständlichkeit der Welt; und zudem ist er eine weitere Möglichkeit, philosophische Terminologie zu unterlaufen. Auch die Subsumptionslogik, durch die sich das Besondere einfach unter Allgemeines ordnen ließe, durchkreuzen diese Beispiele – das verbietet schon die ontologische Differenz. Hier geht es stattdessen um jene spezifische Performanz (im Modus der Plötzlichkeit), die nicht allein durch das bessere Argument überzeugt, sondern ‚Dasein‘ und d.h. Denken in seinen rationalen Voraussetzungen grundsätzlich erschüttern will. Es ist deshalb nur konsequent, wenn Heidegger in seinem Nachdenken über Sprache feststellt, dass es insofern etwas Besseres gebe als eine Sprachphilosophie, nämlich die antike Rhetorik, die es mit Sprachwirkungen zu tun hat.
Es lässt sich allerdings auch Gegenläufiges beobachten: Sein und Zeit versammelt eine große Menge an Beispielen. In dem heimlichen Hauptwerk Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) und den späteren esoterischen Schriften lässt sich jedoch beobachten, dass Beispiele zunehmend aus Heideggers Texten verschwinden. Während er in der späten exoterischen Lehrtätigkeit, z.B. den Zollikoner Seminaren, unumwunden auf ganz nahe liegende Gegenstände als Beispiele zugreift, kommt in den Beiträgen schon das Wort ‚Beispiel‘ nur noch zwei Mal vor. Anders als bei Platon, bleibt diese esoterische Lehre allerdings nicht geheim, sondern erschien nach seinem Tod sukzessive in der Gesamtausgabe.
Auf der Workshop-Tagung soll eng an den Beispielen diskutiert werden, um dem spezifischen Beispielgebrauch Heideggers auf die Spur zu kommen. Vor allem die folgenden Fragen und Dimensionen sind dabei relevant:
Werk: Wie verändert sich der Beispielgebrauch in verschiedenen Werkphasen? Lassen sich bestimmte (thematische) Häufungen oder bestimmte Organisationsformen wie Reihen, Serien, oder Isotopien erkennen? Warum verschwinden die Beispiele in den ‚esoterischen‘ Schriften? In welchem Sinne werden literarische Texte, insbesondere Gedichte, als Beispiele verhandelt?
Wirkung und diskursiver Effekt: Wie lässt sich die spezifische Pragmatik, Performativität und Evidenzherstellung des Beispielgebrauchs beschreiben (Geste, Stil, Sprechakt, Enthymem)? Welche Rolle spielt dabei Heideggers Auslegung von antiker Rhetorik und Logik?
Zitation und Iteration: Woher nimmt Heidegger seine Beispiele, welche zitiert er und welche werden von anderen zitiert? Gibt es typisch phänomenologische oder existenzphilosophische Beispiele? Welche Beispiele werden wiederholt aufgegriffen oder wechseln ihren diskursiven Ort?
Gegenbeispiele: Bringt Heidegger z.B. gegen den Neukantianismus und die Phänomenologie Husserls neue und andere Beispiele in Anschlag?
Krypto-Beispiele: Lässt sich beobachten, dass Beispiele nur noch angespielt, oder nicht mehr markiert, gar unsichtbar gemacht werden?
Formate: Geht mit unterschiedlichen Lehrformaten und literarischen Formen eine Veränderung des Beispielgebrauchs einher?
Normative Dimension: Welche Rolle spielen Beispiele für das Verhältnis zwischen Lehrer (Meister) und Schüler?
Format der Veranstaltung: Die Tagung möchte die gemeinsame Arbeit über die Frage nach dem Beispiel ins Zentrum stellen und hat insofern den Charakter eines Workshops: Es sollen einzelne Beispiele aus Heideggers Texten in bündigen Vorträgen (20 Minuten) vorgestellt und anschließend gemeinsam diskutiert werden. Alle von den Teilnehmer:innen vorgeschlagenen Beispiele bzw. Textstellen werden im Vorfeld über einen Reader zugänglich gemacht. Prof. Dr. Peter Trawny ist für einen Keynote-Vortrag angefragt.
Bewerbung: Der Beitragsvorschlag soll zu Beginn ein Beispiel vorstellen und es im Anschluss kommentieren, und insgesamt nicht mehr als 3000 Zeichen umfassen. Zusätzlich bitten wir alle Bewerber:innen, einen kurzen Lebenslauf beizufügen. Bitte schicken Sie Ihre Bewerbung für die Teilnahme bis zum 01.08. 2024 per E-Mail an: peter.risthaus@fernuni-hagen.de
Publikation: Die Ergebnisse der Tagung werden anschließend zeitnah in einem Themenheft der z.B. Zeitschrift zum Beispiel (https://hagen-up.de/z-b-zeitschrift-zum-beispiel/) publiziert. Eine Übernahme der Reisekosten (DB Ticket, 2. Klasse innerhalb Deutschlands) und Übernachtungskosten ist vorgesehen.
Die Workshop-Tagung findet vom 11.-13.12. 2024 an der FernUniversität in Hagen statt. Sie wird veranstaltet von „z.B. – Zeitschrift zum Beispiel“ (Prof. Dr. Peter Risthaus, Prof. Dr. Michael Niehaus, Dr. des. Carolin Blumenberg und Dr. Jessica Güsken).