Dem ‚Stil‘ kommt im umfangreichen Werk des Soziologen Pierre Bourdieu eine entscheidende Rolle zu: Für ihn gibt es keine „Domäne der Praxis“ […], wo die ‚Stilisierung des Lebens‘, d. h. der Primat der Form über die Funktion, „keinen […] Einfluß ausübt“ (Bourdieu 1987: 288). Der Stil ist, so die zentrale Annahme, die Hervorbringung eines positionsspezifischen Habitus und insofern ein Komplex „distinktiver Präferenzen, in dem sich in der jeweiligen Logik eines spezifischen symbolischen Teil-Raums […] ein und dieselbe Ausdrucksintention niederschlägt“ (Bourdieu 1987: 283). Welche Kleidung ein Mensch trägt, ob er lieber Klassik oder Pop hört, ob er Fußball oder Tennis spielt – kurzum: sein Lebensstil –, ist, wie Bourdieu in seinem Hauptwerk Die feinen Unterschiede deutlich macht, also Ausdruck seiner kulturellen bzw. klassenspezifischen Prägung. Das gilt auch für die Produktion und Rezeption von literarischen Texten: Stilistische Merkmale und Eigenheiten von Werken stehen für Bourdieu in einem direkten Zusammenhang mit den Dispositionen ihrer Autor:innen (Strukturhomologie), der Schreibstil ist insofern untrennbar mit dem Lebensstil verknüpft: „Es gibt nahezu keine Abhandlung während der klassischen Epoche, die nicht zwischen Ungezwungenheit und Eleganz des Stils sowie Wohlhabenheit und Eleganz des Lebensstils einen expliziten Zusammenhang herstellte. Man denke nur an die Lehre von der sprezzatura, der Nonchalance, die nach Baldassare Castiglione den vollkommenen Hofmann und den vollkommenen Künstler auszeichnet.“ (Bourdieu 1987: 103, Anm. 57)
Dem umfangreichen Komplex des ‚Stils‘ bei Bourdieu und seinen verschiedenen Bedeutungsnuancen möchte sich das Netzwerk „Bourdieu in den Geisteswissenschaften“ (BiG) nun im Rahmen des geplanten Workshops widmen. Wir laden interessierte Wissenschaftler:innen aller Qualifikationsstufen und aus allen geisteswissenschaftlichen Disziplinen ein, ihre eigenen Überlegungen und Forschungsergebnisse zum Thema vorzustellen. Neben literatur- und kulturwissenschaftlichen Beiträgen sind mit Blick auf Bourdieus Werk Die feinen Unterschiede ausdrücklich auch soziologische Perspektivierungen gewünscht. Möglich sind sowohl Theoriebeiträge als auch Fallstudien, die sich vor dem Hintergrund der von Bourdieu skizzierten Annahmen konkreten Stilphänomenen widmen. Mögliche Beitragsvorschläge, die den Gegenstandsbereich erkunden, könnten weiters sein:
- Stil als Ausdruck sozialer und/oder literarischer Positionierung (posture) und Distinktion bzw. Zusammenhänge von Lebens- und Schreibstil
- Stil als Ausdruck eines klassenspezifischen Musters
- Stil, Stilgemeinschaften und Stil-Begründungen in Literatur, Kunst, Musik und anderen kulturellen Ausdrucksformen (Fallbeispiele)
- Wechselwirkungen zwischen individuellem und kollektivem Stil
- Methodische Herausforderungen bei der Erforschung von Stil und künstlerischer Form
- Aktuelle Rezeption und Weiterentwicklung von Bourdieus Stilkonzept
- Vergleichende Perspektiven auf Stilbegriffe in den Geisteswissenschaften im Allgemeinen oder in der Literaturwissenschaft und -soziologie im Besonderen
Für die Teilnahme mit einem Vortrag (ca. 30 Minuten) bitten wir bis zum 22. Juni 2024 um die Einsendung von Abstracts (max. 250 Wörter) einschließlich Titel, Kurzbiografie und institutioneller Verankerung an Haimo Stiemer (haimo.stiemer@tu-darmstadt.de) und Lydia Rammerstorfer (lydia.rammerstorfer@univie.ac.at).
Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt 1987.
Bourdieu, Pierre: Klassenstellung und Klassenlage. In: Ders. (Hg.): Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt/M. 1983. (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft. 107.)
Georg, Werner: Lebensstil (style de vie). In: Fröhlich, Gerhard/ Boike Rehbein (Hg.): Bourdieu- Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart 2008, S. 165-168.