Die moderne Stadt, verstanden als ein baulich und kulturell verdichteter Raum, ist ein Brennglas gesellschaftlicher Entwicklungen, unter dem sich soziale Konflikte, Kämpfe um Anerkennung und Teilhabe ebenso wie um Abgrenzung und wirtschaftliche, politische, kulturelle Leitbilder zeigen. Sie eignet sich daher für die Erkundung der dringendsten Themen, mit denen sich eine Gesellschaft auseinandersetzen muss. Insbesondere die Diskussion da-rum, wem die Stadt gehört, welche Anspruchsgruppe den Stadtraum baulich gestalten, ihn vorrangig nutzen, Deutungshoheit über ihn ausüben darf, ist so alt wie die Stadt selbst. Gegenwärtige Diskussionen wie die um die Aufteilung der Verkehrswege häufig mit Blick auf die Bedürfnisse von Fußgängern oder Radfahrern oder um die Entsiegelung von Flächen und damit einhergehend die Begrünung der Stadt, um den Einflüssen des Klimawandels besser gewachsen zu sein, lassen sich einordnen in Diskurse, die spätestens seit dem Entstehen der modernen Stadt bestehen. Deren Analyse, so die Überlegung, lässt die Distinktions- und Integrationsbemühungen, den Kampf um die „feinen Unterschiede“ der durch multiple Kategorien der Zugehörigkeit definierten Gesellschaftsgruppen innerhalb eines verdichteten gebauten wie kulturellen Raums sichtbar werden und kann so die Diskussionen der jeweiligen Zeit einordnen helfen.
Dabei ist es wichtig, nicht nur die Genese einer Stadt als Ergebnis des interessengeleiteten Handelns sozialer Gruppen zu begreifen, sondern auch ihre mentale Konstruktion und Aneignung herauszuarbeiten. Es ist Ziel des Workshops, dies zu untersuchen und im Rahmen einer Neuen Kulturgeschichte die bisher vor allem politisch und sozioökonomisch ausgerichtete Urbanisierungsforschung durch die Thematisierung der kulturellen Urbanisierung in historischer Perspektive zu erweitern.
Der Workshop lehnt sich damit an eine kulturanalytisch motivierte Stadtforschung an, die an den sozialen und kulturellen Herstellungsprozessen von Stadt interessiert ist und das wechselseitige Verhältnis zwischen Struktur und Handlung in den Blick nimmt. Dieser komplexe Prozess des Interagierens wird in der Stadtethnologie beispielsweise als „innere Urbanisierung“ (Korff 1985), in der Stadtsoziologie als „Vergesellschaftungskontext einer Stadt“ (Löw 2011), und in einer kulturgeschichtlich orientierten Stadtgeschichte als „kulturelle Urbanisierung“ (Schürmann 2005) bezeichnet. Seine Analyse fußt auf raumtheoretischen Überlegungen, die Raum nicht nur essentialistisch als objektiv gegebene Entität begreifen, sondern als relationale soziale Konstruktion (u.a. Rau).
Im Rahmen einer stadtraumbezogenen Kulturgeschichte sollen demnach
- der individuelle und der kollektive Umgang mit dem urbanen Raum als ein Vorgang der Aneignung und Sinnzuschreibung interpretiert,
- Spannungen und Widersprüche zwischen strukturellem und mentalem Wandel und ihr Einfluss auf die Entwicklung einer Stadt untersucht,
- sich überlagernde mentale Räume ausgewiesen und in ihren Beziehungen zueinander erforscht
sowie
- die konkurrierenden Distinktionsbemühungen und Machtverhältnisse innerhalb des Stadtraums in seiner subjektiven Dimension sichtbar gemacht werden.
Bei dem Versuch, die oben skizzierten Fragen nach Aneignung des Stadtraums, nach Distinktion durch diese Aneignung sowie nach den darin sichtbaren Machtverhältnissen zu beantworten, sollen Kategorien der Zugehörigkeit wie Schicht, Geschlecht, Ethnizität, Alter und sexuelle Orientierung als Untersuchungsleitlinien dienen, die, wie die Urbanisierungsforschung vermehrt vermerkt hat, untrennbar mit Fragen der Ermächtigung im sozialen Raum verbunden sind.
Der Workshop will die Möglichkeit geben, das Themenfeld sowohl für verschiedene Länder und Regionen als auch für die gesamte Epoche der Moderne zu erschließen. Mögliche Vor-träge können
- sowohl in synchroner als auch in diachroner Perspektive vergleichend arbeiten
- Fallstudien präsentieren
- sich auf verschiedene Gesellschaften beziehen
- sich mit unterschiedlichen Kategorien der Zugehörigkeit wie Schicht, Geschlecht, Ethnizität, Alter und sexuelle Orientierung beschäftigen,
sofern die oben genannten Überlegungen zum sozialen Raum berücksichtigt werden.
Der Workshop will insgesamt dazu beitragen, dass Stadtgeschichtsschreibung in Zukunft mehr sein soll als Heimatgeschichte, dass neuere Trends in der Geschichtswissenschaft mehr berücksichtigt bzw. neu schaffen, wobei insbesondere aufgrund vielfältig verschränkter Benachteiligungen marginalisierte soziale Gruppen und hierin das Individuum als kleinste Einheit in seiner speziellen – auch mentalen – Aneignung von Raum in den Vordergrund rücken sollen.
Einen Abstract von max. 1 Seiten Länge, der eine klare Leitfrage sowie übergeordnete theoretische Bezüge enthält, einen kurzen Lebenslauf sowie eine Liste Ihrer Veröffentlichungen senden Sie bitte
bis spätestens 15.08.2024
an fleiss@geschichte.uni-siegen.de.
Eine Nachricht über die Auswahl erhalten Sie zeitnah.
Die Vorträge sollen eine Länge von 25-30 Minuten haben und werden jeweils von einer 15-20-minütigen Diskussion begleitet.
Eine spätere Veröffentlichung der Tagungsergebnisse ist geplant.
Die Finanzierung von Reise- und Übernachtungskosten ist vorbehaltlich der erfolgreichen Einwerbung von Fördergeldern möglich.