Die letzten Jahrzehnte erbrachten in den Geschichtswissenschaften hervorragende Beispiele deutsch-polnischer Zusammenarbeit, auf denen für die Tagung aufgebaut werden kann. Zu nennen sind etwa die fünfbändige Ausgabe "Deutsch-polnische Erinnerungsorte"/"Polsko-niemieckie miejsca pamięci", die ebenfalls fünfbändige "WBG-Deutsch-Polnische Geschichte" sowie "Polen in der europäischen Geschichte. Handbuch in vier Bänden". Diese erfolgreichen Kooperationen zeigen ein gesteigertes gesellschaftliches und wissenschaftliches Interesse füreinander für Wahrnehmungs- und Vorstellungswelten von beiden Seiten der gemeinsamen Grenze. Zudem setzten sie der politischen Realität der letzten Jahre (verstärktes Abzielen auf nationale Sichtweisen) ein inhaltlich gut unterfüttertes Gewicht entgegen.
Die bisherige Forschung zu Stereotypen und Eigen-/Fremdwahrnehmungen hat herausgestellt, dass das Bild des ‚Anderen‘ durch bestimmte Konstellationen oder traumatisch-kollektive Ereignisse in der Geschichte geprägt wird – man spricht von ‚historischer Situativität‘. Wenn sich jedoch situativ entstandene Fremdbilder verstetigen, gehen sie ins kollektive Gedächtnis über. Dieses ist vielfach im deutsch-polnischen Kontext geschehen und daher scheint es wichtig, den historischen Grundkonstellationen nachzugehen.
Gegenseitige Wahrnehmungen und nationale Stereotype werden zwar im deutsch-polnischen Kontext seit vielen Jahren erforscht – bislang fokussiert man allerdings allzu oft lediglich auf das 19.-21. Jahrhundert. Genau hier möchte die Tagung ansetzen. Einige zentrale Fragestellungen seien genannt: Ab wann kann man überhaupt von einem Polen-/Deutschenbild als Hetero-Image, also als Gegenüberstellung zum Eigenen, sprechen? Anders ausgedrückt: Wann wurde die eine ethnisch-nationale Komponente in der Identität der verschiedenen deutsch- und polnischsprachigen Bevölkerungen derart wichtig, dass sie in der Eigen- und Fremdwahrnehmung regionale, soziale, konfessionelle und politische Verflechtungen überdeckte? Oder blieben diese regionalen Verflechtungen und Wahrnehmungen bis in die Moderne ebenfalls wichtig (wir denken: ja) und standen zumindest neben den nationalen Stereotypen? Entwickelten sich diese Wahrnehmungen in verschiedenen Kontaktzonen auf unterschiedliche Art und Weise? Welche Komponenten spielten für etwaige unterschiedliche Ausprägungen eine Rolle (z.B. politisch, ständisch, sprachlich usw.)?
Drei Vorentscheidungen wurden von den Organisatoren getroffen, um die Reichweite dieser großen Fragen im Rahmen einer Tagung etwas zu begrenzen: Zeitlich sollen sich die Beiträge auf die Phase der Vormoderne fokussieren, genauer genommen den Zeitraum vom 14. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Erst mit dem 14. Jh. lassen sich, abgesehen von wenigen Einzelbeispielen, durch historiografische und literarische Werke substanzielle Aussagen zur gegenseitigen Wahrnehmung gut fassen. Ende des 18. Jahrhunderts/Anfang des 19. Jahrhunderts (Teilungen von Polen-Litauen / Ende des Alten Reichs) markieren sowohl im Bereich der gegenseitigen Wahrnehmung in der Öffentlichkeit als auch im Alltag und im Umgang zwischen Deutschen und Polen eine wichtige Zäsur.
Geografisch möchte die Konferenz Nachbarschafts- und Austauschräume in den Blick nehmen, wo es nachweislich zu deutsch-polnischen Kontakten im alltäglichen Umgang kam. Drei Regionen wurden dafür gewählt: Brandenburg/Großpolen (zusammen betrachtet), Preußen und Schlesien. Dadurch können nicht nur Einblicke in eine über Jahrhunderte anhaltende Tradition des Zusammenlebens deutscher und polnischer Gemeinden gewonnen werden, sondern die ‚Kontaktzonen‘ ermöglichen zudem durch ihre Heterogenität untereinander (politische Zugehörigkeit, konfessionelle sowie sprachlich-ethnische Struktur der Einwohner) ein besseres vergleichendes Verständnis für die gegenseitige Wahrnehmung.
Methodisch möchten die Organisatoren ein Experiment unternehmen und sowohl HistorikerInnen als auch LiteraturwissenschaftlerInnen zusammenbringen, um zu erforschen, wie in historiografischen Werken und literarischen Zeugnissen gegenseitige Wahrnehmungen und Stereotype entstanden sowie rezipiert und/oder durch alltägliche Beobachtungen hinterfragt wurden. Es werden dabei drei historische Phasen (Spätmittelalter, 16./17. Jh., 18. Jh.) der deutsch-polnischen Geschichte von HistorikerInnen unter dem Blickwinkel der deutsch-polnischen Nachbarschaft thematisiert, wobei jeweils zwei-drei Regionen adressiert werden sollen (ca. 8-9 ReferentInnen). Neben den historiografischen Werken können dabei Felder gegenseitiger Wahrnehmung auch im Rahmen persönlicher und diplomatischer Beziehungen, über Regulierungen des Zusammenlebens (Verordnungen) oder im gegenseitigen künstlerischen und wissenschaftlichen Austausch thematisiert werden. Parallel hierzu werden LiteraturwissenschaftlerInnen literarische Werke (z.B. Reiseberichte) für die jeweiligen historischen Epochen und die Regionen auf gegenseitige Wahrnehmungsmuster und -narrative überprüfen (ebenfalls ca. 8-9 ReferentInnen). Dabei soll u.a. die Wirkmacht einschneidender historischer Ereignisse oder einzelner Persönlichkeiten für die beidseitige nationale Geschichte gegenüber regionalen Identitäten in den literarischen Werken abgewogen werden.
Geplant sind hinsichtlich der praktischen Umsetzung auf der Konferenz insgesamt acht Blöcke, in denen jeweils ein/e HistorikerIn den historischen Hintergrund für die jeweilige Epoche/Region skizziert und ein/e LiteraturwissenschaftlerIn auf literarische Werke der jeweiligen Epoche (bestenfalls auch aus derselben Region) und deren Rezeption von Ereignissen der deutsch-polnischen Geschichte sowie auf die gegenseitige Wahrnehmung eingeht. Durch eine solche Kombination erhoffen sich die Organisatoren, dass regionale Ähnlichkeiten und Unterschiede gut herausgearbeitet werden können. Man kann so gezielt nach ihren Ursachen und Entwicklungsmustern fragen. Oft genug wirkte nämlich die vormoderne Wahrnehmung durch ihre Langlebigkeit erheblich auf die Entstehung nationaler Stereotype in der Moderne, sodass hier auch heutige gesellschaftliche Fragen berührt werden. Der interdisziplinäre Blick ermöglicht es darüber hinaus ebenfalls abzuwägen, ob und wie einzelne historische Ereignisse und Persönlichkeiten die Öffentlichkeit und insofern die allgemeine gegenseitige Wahrnehmung beeinflussten.
WissenschaftlerInnen, die sich für die Tagung mit einem Vortragsvorschlag anmelden möchten, werden gebeten, eine Zusammenfassung Ihrer Präsentation (ca. 300 Wörter) und eine kurze biografische Notiz einzureichen. Die Unterlagen sollen bis zum 30. September 2024 an eine der beiden E-Mail-Adressen: grischa.vercamer@phil.tu-chemnitz.de/waclaw.pagorski@amu.edu.pl geschickt werden. Konferenzsprache wird Deutsch und Englisch sein.
Im Falle der Annahme des Vortragsvorschlags werden die KandidatInnen bis zum 20. Oktober per E-Mail in Kenntnis gesetzt. Der Veranstalter übernimmt für die Teilnehmenden die Unterkunfts- und Reisekosten.