Politischer Idealismus. Beiträge zur ideengeschichtlichen Grundlegung der Normativität. Hrsg. von PD Dr. Jan Kerkmann und Dr. David Sailer, Nomos-Verlag (Reihe: Politisches Denken in Europa)
Deadline für die Einreichung der Abstracts: 31.10.2024
Die ersten beiden Bände der Reihe "Politisches Denken in Europa" befassten sich ausführlich mit der Philosophie des Politischen Realismus (Politischer Realismus I von Herkert , Kerkmann , Sailer - 978-3-7560-0683-0 / Nomos Online-Shop (nomos-shop.de).
Diesen thematischen Faden aufnehmend, möchte der dritte Band der Reihe die systematische und geistesgeschichtliche Bedeutung des "Politischen Idealismus" untersuchen.
Im Sammelband "Politischer Realismus I" setzten sich einschlägige Expert:innen jeweils mit einem zentralen Denker des europäischen Sprach- und Kulturraumes auseinander, der unter der Signatur des politischen Realismus erschlossen wurde. Um die Aktualität und Brisanz dieses Paradigmas weiterhin auszuloten, stellt es die Forschungsintention des Anfang 2025 erscheinenden Folgebandes "Politischer Realismus II" dar, auf rezeptionsgeschichtliche Aneignungsbewegungen, geopolitische Manifestationen sowie auf zeitgenössische Theoriebildungen Bezug zu nehmen.
Der zweite Band der Reihe führt dergestalt Theorie und Praxis des politischen Realismus zusammen beziehungsweise bestimmt beide in ihrem internen Verhältnis. Hierauf aufbauend, wirft "Politischer Realismus II" aber auch die wichtige – an die autorzentrierten und philosophiehistorischen Interpretationen des Vorgängers anknüpfende – Frage auf, inwieweit sich den Gesetzen und Implikationen des politischen Realismus ein durch klare Einsicht, Besonnenheit und Vernunftanwendung geprägtes Ethos entgegensetzen lässt, welches die Reduktion des Politischen auf Prozesse reiner Machtgewinnung konterkariert.
Der Untersuchung, Interpretation und Problematisierung dieser Fragestellung ist mit "Politischer Idealismus" der dritte Band der Reihe gewidmet, der bereits in seinem Titel eine dezidierte Opposition zum Paradigma des ‚politischen Realismus‘ einnimmt.
In heuristischer Absicht verstehen wir unter dem Stichwort des ‚politischen Realismus‘ eine theoretische Schlüsselposition, welche die Möglichkeit einer Rechtfertigung politischer Ordnungen aus und anhand überzeitlich gültiger Prinzipien, Ideale und Normen bestreitet. In ihrer Beurteilung politischer Systeme konzentriert sich die realistische Theorieformation – im Gegensatz zum politischen Idealismus – also nicht primär auf die Legitimität, die ethische Integrität oder auf die mit der Idee der Gerechtigkeit im Einklang stehende Ordnung eines Staates, sondern priorisiert den performativen Funktionsmodus der Souveränität. Deren dauerhafte Intaktheit avanciert mitsamt dem erfolgreich realisierten Schutz der menschlichen Selbsterhaltung zum leitenden Bewertungsmaßstab. Die unaufhörliche Aushandlung von Machthierarchien wird dabei als Gravitationszentrum sämtlicher innergesellschaftlicher und zwischenstaatlicher Interaktionen exponiert. Damit kann auf mikrokosmischer Ebene und in begründender Funktion eine desillusionierte Anthropologie konvergieren. Vertreter:innen des politischen Realismus wenden sich dergestalt gegen die aristotelisch-klassische Definition des Menschen als zoon politikon, um stattdessen die – vornehmlich auf existenzielle Selbsterhaltung und egozentrische Durchsetzung gerichteten – Nützlichkeitskalküle des Individuums zu apostrophieren.
Aus diesen zentralen Grundsätzen leitet sich eine ideologiekritische und aufklärerische Komponente des politischen Realismus ab: Der ostentativen Berufung auf transzendente Autoritäten, ewige Werte und abstrakte Tugend- und Moralbegriffe misstrauend, sucht der politische Realismus die hinter diesen hehren Bekundungen und moralischen Bekenntnissen liegenden, strategischen Machtinteressen zu dechiffrieren.
In bewusster Distanznahme zu dieser Definition und Beschreibung des politischen Realismus möchte der projektierte Sammelband den politischen Idealismus als einen ideengeschichtlich simultan verlaufenden und zugleich antagonistischen Theoriestrang erschließen, der sich in verschiedene Filiationen und Erscheinungsformen untergliedern lässt. In einer ersten Annäherung können einige systematische Ansätze herausgestellt werden, die der hier vorgestellte Sammelband vertiefen und profilieren möchte:
Unter den Begriff des ‚politischen Idealismus‘ kann zunächst eine performative Position subsummiert werden, die den Erfolg politischer Prozesse und die Konsolidierung einer dauerhaften gesellschaftlichen Ordnung allein durch deren konsequente Anbindung an moralische Normen verbürgt sieht.
Der ‚politische Idealismus‘ kann aber auch einen explanatorisch-hermeneutischen Ansatz bezeichnen, der das faktische Geschehen vornehmlich unter normativen Gesichtspunkten betrachtet beziehungsweise dieses primär unter Zugrundelegung der qualitativen Dimension eines Sein-Sollenden versteht.
Dieses Paradigma aufgreifend und erweiternd, weist der kritische Ansatz innerhalb des politischen Idealismus entweder das bestehende politische System als solches oder aus dessen Institutionengefüge entspringende Maßnahmen und Entscheidungen im Rekurs auf einen überzeitlichen ethischen Maßstab zurück – zu nennen sind hier aus europäisch-westlicher Perspektive etwa die Idee der Gerechtigkeit, fundamentale Menschenrechte oder der kategorische Imperativ.
Weit davon entfernt, nur als ein moralisches Korrektiv, protreptische Aufforderung oder als eine utopische Narration ohne eigenständige Geltungskraft zu figurieren, kann der politische Idealismus in seiner praktisch-konstruktiven Version aber auch selbst aktiv in Richtung eines objektiven Guten wirken, um dieses – darin einem moralischen Perfektionismus verpflichtet – in der Zukunft lebensweltlich auszugestalten.
Insgesamt teilen alle Spielarten des politischen Idealismus die normative Grundauffassung, dass die faktische Etablierung politischer Realitäten eine vorangegangene Idee derselben benötigt und Institutionalisierungsprozesse des Rechts von ‚geistigen‘ Konzeptionen, ethischen Zielen und legitimitätstheoretischen Überlegungen getragen werden (müssen). Einerseits dient der charakteristische Rückgriff auf überzeitliche Normen und objektive Maßstäbe dem politischen Idealismus also als Ausgangspunkt für die Begründung, Koordination und Ausführung konkreter Handlungen.
Andererseits eignet dem politischen Idealismus aber insofern eine dezidierte Zukunftsbezogenheit, als ihm für die angemessene Beurteilung politischer Entscheidungen stets auch die finalursächliche Blickrichtung auf ein noch zu verwirklichendes, moralisches Telos als Maßstab und Leitfaden dient. Folgerichtig liegt es in der Wesenssemantik des Staatlichen und des Politischen, dass Ideen von Demokratie, Gewalten(ver-)teilung, Verfassungs- und Gesellschaftsvertragsdenken und verbindlichen Grundrechten zuvor ‚erdacht‘ sowie – als Gesolltheit staatlichen Handelns begriffen – normativ ‚aufgeladen‘ werden müssen, bevor sie daraufhin empirisch-geschichtlich zum Durchbruch gelangen können und ihnen eine eigene Rechtsgeltung zuwächst.
In methodischer Hinsicht wird der Sammelband "Politischer Idealismus" einen autorzentrierten Zugang favorisieren, der ideengeschichtlich-rekonstruktiv verfährt und die Relevanz idealistisch-politischen Denkens in den Epochen der europäischen Antike, des Mittelalters, der Neuzeit und der Moderne (19.-21. Jahrhundert) zu bestimmen sucht.
Vorschläge zu einzelnen Beiträgen können sich an den untenstehenden Sektionen und Autor:innen orientieren, sind aber keineswegs auf diese beschränkt. Vielmehr sind originelle, systematisch oder historisch argumentierende Beiträge ausdrücklich erwünscht, die eigene Schwerpunkte setzen und bislang nur geringfügig ausgeleuchtete Rezeptionspfade beschreiten. Essentiell ist allerdings die – sei es affirmative, sei es kritische – Auseinandersetzung mit normativen Grundpositionen des politischen Denkens in Europa, die anhand einschlägiger Autoren vollzogen und konturiert werden soll. Zum Zwecke einer interdisziplinären – philosophische, politikwissenschaftliche und historische Perspektiven einschließenden – Untersuchung bieten sich Einreichungen zu folgenden Themenfeldern an:
- Das Verhältnis von kosmischer Gerechtigkeit und menschlichem Recht bei Homer, in der griechischen Tragödie und bei den Vorsokratikern (bes. Heraklit)
- Zur Begründung der Tugend und zur Entfaltung des politischen Idealismus in ausgewählten platonischen Dialogen (z. B. Apologie des Sokrates, Protagoras, Gorgias, Politeia, Politikos)
- Normativer Universalismus, Demokratie und Naturrechtsdenken in der Sophistik (Protagoras, Anonymus Iamblichi, Antiphon)
- Vollkommene Staatsform, Glückseligkeit und menschliches Zusammenleben bei Aristoteles
- Christliche Staats- und Geschichtskonzeptionen der Spätantike (bes. Augustinus, De civitate Dei) und des Mittelalters (Thomas von Aquin; Joachim von Fiore; Dante, De Monarchia; Marsilius von Padua, Defensor pacis)
- Die Zielrichtung und kritische Funktion des politischen Idealismus in der klassischen utopischen Literatur der Neuzeit (Thomas Morus, Utopia; Tommaso Campanella, La città del Sole; Francis Bacon, Nova Atlantis)
- Zur idealistischen Tiefendimension des Kontraktualismus (etwa anhand der anthropologischen Auslegung des ‚état de nature‘ in Rousseaus "Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes" sowie in Orientierung an seinem Entwurf der volonté générale; und in Lockes Lehre der höchsten Rechsgüter)
- Normativismus, Vernunft und moralischer Fortschritt in der Tradition der Aufklärung (z. B. Montesquieu, "De l’esprit des loix"; Lessing, "Die Erziehung des Menschengeschlechts"; Kant, "Zum ewigen Frieden")
- Das Freiheitsdenken der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776) respektive der Federalist Papers (Hamilton, Madison, Jay) und die kritische Beurteilung der amerikanischen Revolution durch Alexis de Tocqueville
- Normative Denkfiguren des Politischen im deutschen (Früh-)Idealismus ("Ältestes Systemprogramm des Deutschen Idealismus"; Schelling, "Neue Deduction des Naturrechts"; Fichte, "Grundlagen des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre"; Hölderlins geschichtsphilosophische Hymnen, "Über die Religion" und die Sophokles-Anmerkungen; Hegel, "Grundlinien der Philosophie des Rechts")
- Allgemeine und individuelle politische Freiheit in John Stuart Mills "On Liberty"
- Die Verbindung von Macht und Recht bei Hannah Arendt
- Christlicher Platonismus, engagierte Politik und der Gedanke der ‚Verwurzelung‘ bei Simone Weil
- Die normative Bedeutung der beiden Gerechtigkeitsprinzipien in John Rawls‘ politischem Denken (auch unter Einbezug der Urzustandskonzeption und des Gedankenexperimentes eines veil of ignorance)
- Die ideale Sprechsituation und das Demokratieverständnis bei Jürgen Habermas
Aufsatzvorschläge können bis zum 31.10.2024 in Form eines Abstracts (max. 500 Wörter) zusammen mit einer kurzen Bio-Bibliographie an jan.kerkmann@philosophie.uni-freiburg.de und david-manolo.sailer@alumni.uni-ak.ac.at gerichtet werden.
Nach der Prüfung der eingegangenen Abstracts erfolgt eine entsprechende Rückmeldung bis zum 15.11.2024 (inkl. Stylesheet). Angenommene Artikel (max. 60.000 Zeichen, Times New Roman 12, Zeilenabstand 1,5) sind bis spätestens 01.05.2025 einzureichen. Der Sammelband wird im August 2025 im Nomos-Verlag als dritter Band der Reihe Politisches Denken in Europa (hrsg. von Prof. Dr. Rüdiger Voigt, Dr. David Sailer und PD Dr. Jan Kerkmann) erscheinen.