Wissenschaft und Aktivismus

Wissenschaft und Aktivismus: Historische Perspektiven und methodologische Herausforderungen der Wissenschafts-, Medizin- und Technikgeschichte

Veranstalter
GWMT (Leuphana Universität)
Ausrichter
Leuphana Universität
PLZ
21335
Ort
Lüneburg
Land
Deutschland
Findet statt
In Präsenz
Vom - Bis
25.09.2024 - 27.09.2024
Von
David Freis, Institut für Ethik und Geschichte der Gesundheit in der Gesellschaft, Universität Augsburg

Jahrestagung der GWMT 2024 in Lüneburg

Wissenschaft und Aktivismus: Historische Perspektiven und methodologische Herausforderungen der Wissenschafts-, Medizin- und Technikgeschichte

Dass Wissenschaft, Medizin und Technik nicht isoliert von ihren kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Kontexten stehen, gehört zu den grundlegenden Einsichten der neueren Wissenschafts-, Medizin- und Technikgeschichte. Die Trias von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit wurde seit den 1970er Jahren insbesondere vor dem Hintergrund sozialer Bewegungen um „Aktivismus“ als weiteres Element ergänzt: Politische Praktiken, die auf gesellschaftliche Veränderung abzielten, gingen zunehmend mit der Forderung nach Anerkennung und Beteiligung neuer Akteur:innen und deren Wissensformen am hegemonialen wissenschaftlichen, medizinischen und technologischen Diskurs einher. Gleichzeitig ist gesellschaftspolitisches Engagement durch und in Wissenschaft, Medizin und Technik kein neues Phänomen, sondern quer durch die Geschichte hindurch belegt.

Die GWMT lädt dazu ein, während der Jahrestagung 2024 in Lüneburg das Verhältnis von Wissenschaft, Medizin, Technik und Aktivismus in seiner ganzen historischen Breite zu beleuchten und dabei auch das Verhältnis der Wissenschafts-, Medizin- und Technikgeschichte zu aktivistischen Forderungen und Praktiken zu diskutieren.

Zu diesem Zweck muss zunächst eine grundsätzliche Klärung zentraler Begriffe, Diskurse und Sozialfiguren vorgenommen werden: Wer gilt im Bereich der Wissenschaften, Medizin und Technik als „Aktivist“ oder „Aktivistin“? Was ist unter „Aktivismus“ eigentlich zu verstehen, welche verschiedenen Verwendungsweisen lassen sich dabei historisch ausmachen und in welchem Verhältnis steht und stand der Begriff zu dem der Politik bzw. dem des Politischen? Wie verhält sich Aktivismus zu Formen der „Kritik“ oder des „Protests“? Wann und in welchen historischen Konstellationen taucht die Sozialfigur des:r Aktivist:in im affirmativen Sinn als Akteurskategorie auf, und unter welchen Umständen wird der Begriff in pejorativer Absicht verwendet, um das Gegenüber zu diskreditieren und ihm mangelnde Distanz und Objektivität sowie ideologische Verstrickungen vorzuwerfen? Und seit wann kann man überhaupt von „Aktivismus“ in Wissenschaft, Medizin und Technik sprechen? Lässt sich der Begriff fruchtbringend auf diverse historische, auch vormoderne Praktiken politischen Handelns anwenden, die auf gesellschaftliche Veränderung abzielen? Welche Effekte und neue Einsichten ergeben sich daraus, wenn man historische Akteur:innen der Vormoderne als „Aktivist:innen“ versteht?

Ein zentraler Aspekt im Verhältnis von Wissenschaft und Aktivismus betrifft die Frage der Beteiligung neuer, häufig lange marginalisierter und/oder gänzlich aus dem wissenschaftlichen, medizinischen oder technischen Diskurs ausgeschlossener Wissensproduzent:innen, zu denen indigene Gemeinschaften und Patient:inneninitiativen ebenso gehören wie (öko)feministische Kollektive oder migrantische Gruppen, um nur einige Beispiele zu nennen. Auf der Jahrestagung sollen die historischen Bedingungen unter denen, sowie die konkreten Mittel, mit denen jene Akteursgruppen um Eingang in den wissenschaftlichen, medizinischen und technischen Diskurs kämpften, diskutiert werden. Von Interesse ist dabei auch die Frage, welche Kritik jene Akteur:innen an den Wissenschaften und ihren Erkenntnisprozessen formulierten und welche Neusortierungen epistemischer Autorität damit einher gingen.

Das Rahmenthema soll zudem Gelegenheit zur Selbstreflexion der gegenwärtigen Wissenschafts-, Medizin- und Technikgeschichtsschreibung bieten. Welche methodischen, theoretischen und historiographischen Herausforderungen und Möglichkeiten ergeben sich durch die Einbeziehung jener neuen Akteursgruppen? Diskutiert werden soll dabei nicht nur, wie sich der Umgang der Wissenschafts-, Medizin- und Technikgeschichte mit Aktivismus und Aktivist:innen darstellt, sondern auch, wie sich unsere Disziplinen zu den seitens der environmental humanities, der gender, postcolonial oder disability studies bereits seit mehreren Jahrzehnten programmatisch formulierten Bekenntnissen zu „engagierter“ und „mission-driven“ Wissenschaft und der dazugehörigen Selbstbeschreibung von Forschenden als „scholar activists“ verhalten.

Programm

Mittwoch, 25. September 2024
Ort: Libeskindbau/Zentralgebäude der Leuphana Universität Lüneburg, Universitätsallee 1

12:00 -17:00 Uhr Registrierung im Tagungsbüro (Hörsaalgang)

14:00 -17:00 Uhr Mitgliederversammlung der GWMT (HS 4)

Eigenständiger Transfer zum Museum Lüneburg, Wandrahmstraße 10

19:00 - 23:00 Uhr Feierliche Eröffnung der 6. Jahrestagung der GWMT (Museum Lüneburg)

Grußworte
- der Museumsdirektorin, Heike Düselder
- des Vizepräsidenten der Leuphana Universität, Erich Hörl
- des GWMT-Vorsitzes, Noyan Dinçkal
- der lokalen Tagungsorganisation, Jan Müggenburg & Christina Wessely

Festvortrag von Ashley Shew (Virginia Tech):
History of Technology: Disability Rights, Justice, and Liberated Futures.

mit anschließendem Stehbuffet

Donnerstag, 26. September 2024
Ort: Libeskindbau/Zentralgebäude der Leuphana Universität Lüneburg, Universitätsallee 1

08:00 - 09:00 Uhr Early Bird’s Breakfast Club (C40.152)

08:00 - 09:00 Uhr AG Frauen- und Geschlechterforschung:
Netzwerkfrühstück (C40.153)

09:00 - 10:30 Uhr SEKTION 1

1.1. Einzelvorträge (C40.154)

Barbara Hof: „Science for Vietnam“ Solidarisches Forschen gegen den Krieg, 1971-1975

Phillip Kuster: „When ecology was suddenly catapulted into the public arena”. Partizipatorische Forschung im MAB-Programm der Unesco in den 1970er bis 1990er Jahren

Johannes-Geert Hagmann: „As objective as humanly possible“ – Wissenschaft, Widerspruch und Werturteil in der amerikanischen SDI-Debatte der 1980er Jahre

1.2. Panel: Herausforderungen einer wissensgeschichtlichen Annäherung an indigene Traditionen (C40.154)
Andreas Lipowsky

Johanna Abel: Gefahren für die Wissenschaft? Emotionalität und Romantisierungsvorwürfe im Kontakt mit indigenem Wissenschaftsaktivismus

Lindsey Drury: Technes of Ceremonial Death: Cosmic justice and sacrificial magic in settler colonial US

Andreas Lipowsky: Animism and a Poetics of Knowledge

Pause im Foyer
(währenddessen: Vorstellung von Angeboten der GWMT für Nachwuchswissenschaftler:innen im Loungebereich des Foyers)

11:00 - 13:00 Uhr SEKTION 2

2.1 Panel: Activism as the New Normal? Four Trajectories in Research and Teaching (C40.704)
Margarete Vöhringer und Katrin Solhdju

Dana Mahr: Challenges in Studying Feminist and Environmental Activism: Navigating calls for Co-Creation in the Horizon Europe program

Simon Werrett: Teaching a Global History of Science: Challenges and Opportunities

Margarete Vöhringer: Material Humanities. Challenges of object-based research and teaching

Katrin Solhdju: Activism in the Context of Development-Collaboration Research?

2.2 Roundtable: Politiken der subjektiven Erfahrung (C40.153)
Arbeitsgruppe “Political Epistemologies of Central and Eastern Europe“

Dietlind Hüchtker: (Un-)Sichtbarkeiten und Legitimierungen. Erfahrung und Wissensgenerierung in feministischen Diskursen der 1970er und 1980er Jahre

Alexej Lochmatow: Zwang zur Parteilichkeit. Wissenschaftlicher (Anti-)Aktivismus und der ‚Staatssozialismus‘

Jan Surman: Wissenschaft „außerhalb der Politik“: Russische Debatten vor und während des Krieges

Karin Reichenbach: Gegen gefühlte Geschichte. (Wie) Mit Rechten über das Mittelalter reden?

Johanna Hügel: Die tiefere Wahrheit der geteilten Erfahrung. Aneignungen postkolonialer Theorien durch die russische Neue Rechte um Alexander Dugin und ihre Netzwerke nach Westafrika

2.3 Einzelvorträge (C40.154)

Bettina Sophia Wagner: Die universelle Schwangerschaft? Blinde Flecken im Frauengesundheitsaktivismus ab den 1970er Jahren

Martina Schlünder: „Erst die Kuh, dann du!“ Zur Geschichte des feministischen Widerstands und Aktivismus gegen Reproduktionstechnologien in der Bundesrepublik der 1980er Jahren

Lisa Malich / Kerstin Palm: Die diverse Psyche in Therapie – Geschlechterwissen zwischen Aktivismus und Wissenschaft

Julia Gruevska: de homine. Aktivismus und Verantwortung der Lebenswissenschaften im Nationalsozialismus

Mittagspause, in der Mensa sind Tische reserviert.

13:00 - 13:30 Uhr NTM-Treffen (C40.152)

13:30 - 15:30 Uhr Fachverband Wissenschaftsgeschichte (C40.152)
(MV mit Wahl 13:30-14:30 Uhr, anschließend Gespräch/Austausch über Lehre mit Impulsreferaten und best practices aus den verschienden Standorten. Der Austausch ist für alle Statusgruppen offen, auch Mitgliedschaft ist keine Vorraussetzung)

14:15 - 15:30 Uhr AG Mittelbau (C40.704)
Thema: „Machtmissbrauch in der Wissenschaft“

Kaffeepause im Foyer

16:00 - 18:00 Uhr SEKTION 3

3.1 Panel: Vergessene Ökonomien des Gegenwissens seit den 1960er Jahren (C40.154)
Max Stadler

Heiko Stoff: Aktivistische Ungeduld. Wissensformen der Medizinkritik in den 1970er Jahren

Monika Wulz: Konträre Ökonomien: Wissenschaft, Technologie und Wirtschaft auf den “Socialism in the World”-Konferenzen um 1980

Max Stadler: Müsli und Mikrochip: Gegenökonomien der Wissenschaft, 1975/1985

Alexander von Schwerin: Zwei Seiten einer Medaille: Ökonomisierung der Wissenschaft in der Kritik

3.2 Einzelvorträge (C40.153)

Anja Sattelmacher: „DGS Jetzt"! - Deaf Activism und Wissenschaftsgeschichte um 1985

Sybilla Nikolow: Wer das Elend von 1914-1918 nicht persönlich erlebt hat, kann gar nicht mitreden“. Aktivismus von Kriegsversehrten im Kampf um Anerkennung ihrer Leiden

Christina Benninghaus: August Mayer - der ehemalige Chefarzt als Aktivist, Westdeutschland um 1955

Julia Engelschalt / Alexander Meeus: Der Vergangenheit gerecht werden? Historiographische Reflexionen über Chancen und Herausforderungen identitätspolitischer Perspektiven

3.3 Panel: Feministische Psychiatrie- und Therapiekritik und Behandlungsalternativen (C40.154)
Viola Balz und Susanne Doetz

Ulrike Klöppel: Die Entstehung feministischer Therapie als Alternative zu herkömmlicher Psychotherapie in den 1970er und 1980er Jahren

Viola Balz: Frauenalkoholismus: feministische Suchtkritik und ihre Gegenbewegung 1970-1985

Susanne Doetz: „Zum Verrücktwerden“. Die Generierung feministischer Psychiatriekritik am Beispiel der Zeitschrift Courage, 1978–1980

Karen Nolte: „Lesbische Frauen sind mit gemeint und allenfalls eine Randbemerkung wert…“ – Lesbischer Aktivismus und Feministische Therapie in der westdeutschen Frauenbewegung zu Beginn der 1990er Jahre

18:30 - 02:00 Uhr Festabend mit Festakt und Konferenzdinner,

anschließend Party (Forum, Klippo)

Freitag, 27. September 2024

09:00 - 11:00 Uhr SEKTION 4

4.1 Panel: Aktivistische und feministische Perspektiven auf die Transformation der Geisteswissenschaften nach 1989/90 (C40.704)
Elisa Satjukow

Marlene Friedrich: Die westdeutsche Geschichtswissenschaft in den 1980er Jahren in geschlechter- und wissenshistorischer Perspektive: Netzwerke, Machtstrukturen, Selbstverständnisse

Lara Büchel: Geisteswissenschaftlerinnen als Verliererinnen der Wende? Gleichstellungs- und Frauenpolitik an den Universitäten während der Umbruchszeit

Elisa Satjukow: It’s (still) a Men’s World? Postsozialistische Perspektiven auf Wissen und Geschlecht an den Hochschulen nach 1989/90

Katharina Seibert: Kommentar zu den Vorträgen

4.2 Panel: Das verletzte Kind. Zeithistorische Forschung im Kontext von Aktivismus & Aufarbeitung (C40.704)
Heiner Fangerau und Bettina Hitzer

Carolin Ehlke / Wolfgang Schröer: Vom „aufzuklärenden“ Kind zum rights-based approach – Kindheitskonstruktionen und Kinderschutz

Heide Glaesmer / Marie Kaiser: Partizipative Forschung zu und mit Besatzungskindern des Zweiten Weltkrieges – Ansätze, Herausforderungen und Wirkungen

Nils Löffelbein: Aufarbeitung „von unten“? – Das Leid ehemaliger Heimkinder zwischen politischem Aktivismus und Zeitzeugenschaft

Lena Rudeck: Die Geschichte der Kinderkuren: Aufarbeitung im Spannungsfeld zwischen Betroffenen-Initiative und Auftragsforschung

4.3 Einzelvorträge (C40.153)

Oliver Hochadel: Der erste Tiergartenbiologe: Ram Brahma Sanyal und der Calcutta Zoo

Lisa Cronjäger: Rund um die Soziale Ökologie. „Interkollektiver Gedankenverkehr“ zwischen Wissenschaft, Aktivismus und Zivilgesellschaft

Verena Halsmayer: „Counter-planning from the shop floor“: Alternative Ökonomien, situiertes Planungswissen und der Lucas Plan

Ina Heumann: Politiken der Provenienz am Museum für Naturkunde Berlin

Kaffeepause im Foyer

11:30 - 13:30 SEKTION 5

5.1 Roundtable: Zwischen Präsentismus und Anthropozän – Zeitlichkeiten und die Frage nach dem Aktivismus in der Geschichtswissenschaft (C40.704)
Mirjam Hähnle und Karolin Wetjen

mit: Achim Landwehr / Anne Kwaschik / Milo Probst / Lisa Cronjäger / Sina Steglich

5.2 Einzelvorträge (C40.153)

Christoph Görlich: „Hunger nach Weltanschauung“ – Ordnung, Sinnstiftung und Erweckung im Zeichen des Neuidealismus am Beispiel des Euckenbundes

Elias Blüml: Früher Radfahraktivismus im Königreich Bayern

Hannes Junker: Formel und Fraktur: Stereometrische Fremdkörperlokalisation im Ersten Weltkrieg

Ann-Catherine Pielenhofer: Papierpolitik. Epigraphische Replika und politische Desiderata im 19. Jahrhundert

5.3 Panel: Aktivismus – Kunst – Wissenschaft. Psychiatriekritik in den 1970er und 1980er Jahren (C40.153)
Christof Beyer

Oliver Falk: „Von Heroin allein kriegt man noch kein AIDS“ – Aids-Aktivismus und drogentherapeutischer Umbruch im Kontext von Psychiatriekritik, 1985-1995

Maike Rotzoll: Vom „Elend der herrschenden Psychiatrie“. Die Gesundheitstage und die Psychiatriekritik der 1980er Jahre

Christof Beyer / Ronda Ramm: Psychiatriekritik als Performance - Die „blaue Karawane“

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