Gefühle und Sinne sind keine ahistorischen Konstanten, sondern kulturell und historisch wandelbar. Forschungsarbeiten aus der Sinnes- und der Emotionsgeschichte haben es eindrücklich gezeigt: Gefühle und Sinne haben und machen Geschichte.
Angst, Liebe, Ekel oder Trauer sind an den jeweiligen historischen Kontext rückgebunden, bringen ihn zugleich aber auch hervor. Gefühle existieren in einem Spannungsfeld zwischen individueller körperlicher Erfahrung und gesellschaftlicher Konstruktion. So grenzten sich alternativmedizinische Akteursgruppen auf dem medizinischen Markt durch emotionale Zuschreibungen wie ärztliche „Operationswut“ und „wissenschaftliche Kälte“ von der „schulmedizinischen“ Praxis ab. Aus patientengeschichtlicher Perspektive sind Gefühle und Emotionen überaus wichtig, nicht zuletzt, wenn sie von den gesellschaftlichen Normvorstellungen abwichen und pathologisiert wurden. Auch der Wandel medizinischer Behandlungsmethoden hatte Auswirkungen auf die Emotionen von Patient:innen. So verschob bspw. die Einführung und Verbreitung von Narkotika die Ängste der Behandelten von den Schmerzen zu einem Kontrollverlust.
Gerade in der Vormoderne spielte die sensorische Wahrnehmung bei der Beurteilung von Gesundheit und Krankheit eine entscheidende Rolle. Der Gesundheitszustand von Patient:innen konnte durch bloßes Ansehen des Urins während der Harnschau beurteilt werden. Ansteckende Krankheiten sowie das todbringende Miasma konnten hingegen gerochen werden. Doch auch in der Moderne blieben Sinne in der Medizin zentral, beispielsweise das Ertasten von schmerzenden Körperregionen für die Selbstdiagnose oder das Hören mit Hilfe eines Stethoskops für die Diagnose durch medizinisches Fachpersonal.
Über diese inhaltlichen Thematiken hinaus lässt sich aber auch grundsätzlich über die Chancen und Herausforderungen eines emotions- oder sinneshistorischen Ansatzes für die medizingeschichtliche Forschung nachdenken. Wie lassen sich die beiden eigenständigen und in den letzten Jahren höchst dynamischen Forschungsfelder in einen Dialog bringen? Auf welche begrifflichen Konzepte und welche Quellen lässt sich zurückgreifen, um die Rolle von Sinnen und Gefühlen in der Medizingeschichte zu untersuchen?
Für das 42. Stuttgarter Fortbildungsseminar 2025 sollen diese Problematiken mit unterschiedlichen Ansätzen und Methoden für verschiedene Epochen und Regionen beleuchtet werden.
Als Vorschlag und Anregung sind folgende Themengebiete denkbar:
Patient:innengefühle: Welche Gefühle brachten Patient:innen im Laufe der Geschichte mit der medizinischen Behandlung in Verbindung? Welchen Einfluss hatte dies auf das Verhältnis von Ärzt:innen, anderen Gesundheitsberufen und Patient:innen? Lässt sich etwa von verschiedenen „emotional communities“ (Rosenwein) sprechen?
Geschlecht, Sinn und Gefühl: Inwiefern lassen sich geschlechtsspezifische Normen, Zuschreibungen und Deutungen in Bezug auf Sinne und Gefühle in der Medizingeschichte feststellen?
Sensorik in der Medizin: Welche Sinneswahrnehmungen spielten und spielen bei der Beurteilung von Krankheit und Gesundheit eine Rolle? Lassen sich epochenübergreifende Konstanten und zentrale Zäsuren ausmachen? Welche Perspektiven eröffnet die Sinnesgeschichte nicht zuletzt für eine Geschichte der Medizin, die über den Menschen hinausdenkt?
Gefühle und Sinne in der Wissensproduktion: Welche Rolle spielten menschliche (und tierliche) Gefühle und Sinne für die Produktion von medizinischem Wissen? Inwiefern beeinflussen Emotionen auch die Arbeit von Medizinhistoriker: innen?
Pathologisierung von Gefühlen und Sinnen: Gefühlsregungen, die im jeweiligen Zeitkontext von der „Normalität“ abwichen, wurden oftmals als Krankheiten gedeutet. Dabei war der Übergang von „gesund“ zu „krank“ fließend und hing von ganz unterschiedlichen Faktoren ab. Welche waren das? Lassen sich für bestimmte Epochen spezifische „Gefühlsregime“ (Reddy) ausmachen?
Andere, dem Thema im weitesten Sinne verwandte Fragestellungen und Projekte sind ebenfalls willkommen.
Das Stuttgarter Fortbildungsseminar des Instituts für Geschichte der Medizin des Bosch Health Campus unterscheidet sich von klassischen Fachtagungen. Es ist ein interdisziplinäres Forum für Nachwuchswissenschaftler:innen, dessen zentrale Anliegen der Austausch und die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Thema der Tagung vornehmlich in historischer Perspektive sind. Der Fokus liegt daher auf innovativen methodischen Herangehensweisen, neuen Fragestellungen und Ideen und weniger auf perfekt ausgearbeiteten Präsentationen. So dient die Tagung auch der Vernetzung von Forschenden in einem frühen Stadium ihrer Karriere.
Vor Beginn der Tagung werden die Abstracts zu den einzelnen Vorträgen an alle Teilnehmenden versandt, um eine bessere Vorbereitung zu ermöglichen. Erwünscht ist die Anwesenheit während der gesamten Tagung, um inhaltliche Bezüge zwischen den Beiträgen zu ermöglichen.
Das Seminar findet vom 07.04. bis 09.04.2025 in Stuttgart statt.
Ablauf
Die Auswahl der Beiträge, die Gestaltung des endgültigen Programms und die Moderation der Sektionen liegen in den Händen einer Vorbereitungsgruppe (Sara Müller, Teresa Schenk, Dirk Modler, Pierre Pfütsch). Die Auswahl der Teilnehmenden wird durch die Vorbereitungsgruppe anhand anonymisierter Vorschläge vorgenommen.
Für jeden Beitrag sind 45 Minuten eingeplant, wobei max. 20 Minuten für den Vortrag zur Verfügung stehen und 25 Minuten für die Diskussion. Bei Arbeitsgruppen (vorzugsweise zwei Personen) erhöht sich das Zeitbudget für den Vortrag und die anschließende Diskussion auf eine Stunde. Die Tagungssprache ist Deutsch, einzelne Vorträge können allerdings auch auf Englisch gehalten werden. Die Teilnahme wird vom Institut für Geschichte der Medizin des Bosch Health Campus finanziert. Dies schließt die Übernachtungen, gemeinsame Mahlzeiten und Bahnreisen 2. Klasse (in Ausnahmefällen günstige Flüge) ein. Kosten für eine Anreise per PKW werden nicht erstattet.
Anmeldung
Ein Exposé von max. einer Seite, aus dem Titel, Fragestellung, Methoden, verwendete Quellen und mögliche Thesen/Ergebnisse hervorgehen, sowie eine Kurzvita, senden Sie bitte bis zum 12. Januar 2025 per E-Mail (gerne als Word-Datei) an Dr. Pierre Pfütsch pierre.pfuetsch@igm-bosch.de.