Postkoloniale Gesellschaftswissenschaften. Eine Zwischenbilanz

Postkoloniale Gesellschaftswissenschaften. Eine Zwischenbilanz

Veranstalter
Prof. Dr. Claudia Bruns / Prof. Dr. Ina Kerner / Prof. Dr. Julia Lossau, Humboldt-Universität zu Berlin
Veranstaltungsort
Humboldt-Universität, Unter den Linden 6, Senatssaal
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.06.2011 - 18.06.2011
Deadline
01.06.2011
Von
Prof. Dr. Ina Kerner

Postkoloniale Studien thematisieren die vielfältigen Facetten unserer nachkolonialen Gegenwart. Zentral für dieses dynamische und relativ junge Forschungsfeld ist die Grundannahme, dass koloniale Denkmuster und Strukturen noch Jahrzehnte bzw. Jahrhunderte nach dem formalen Ende des Kolonialismus nachwirken – und zwar in den ehemaligen Kolonien ebenso wie in den ehemaligen Kolonialstaaten. Zu den Effekten dieser Nachwirkungen zählen vielfältige historisch gewachsene globale Verflechtungen, die sich in der Gesellschaft (Politik, Wirtschaft, Medien etc.) ebenso niederschlagen wie im Alltag und im Selbstverständnis von Individuen. Viele dieser Effekte werden im Rahmen postkolonialer Studien als Probleme beschrieben und entsprechend kritisiert. Das Spektrum dieser Probleme reicht von eurozentrischen sowie rassistischen Wissensformen und Raumordnungen über ungerechte globale Wirtschaftsbeziehungen und (neo-)imperiale Politikformen bis hin zu Demokratiedefiziten, Korruption und schwacher Staatlichkeit; ferner werden unter dem Dach der postkolonialen Studien Themen wie Migration, Repräsentation, Identität, Geschlecht, Unterdrückung, Sklaverei und Widerstand behandelt.

Angesichts dieses Themen- und Problemspektrums ist es fast verwunderlich, dass sich die inzwischen transdisziplinär organisierten Postkolonialen Studien akademisch zunächst vor allem in den Literatur- und Kulturwissenschaften etablieren konnten. Denn gesellschaftspolitische Fragen spielten dort von Anbeginn eine tragende Rolle, und viele der in diesen Fächern tätigen Vertreter/innen Postkolonialer Studien zeigen bis heute ein ausgeprägtes Interesse an klassisch sozialwissenschaftlichen Themen wie ökonomischen Beziehungen oder Fragen von Staatlichkeit, Recht und zivilgesellschaftlicher Macht. Diese Auseinandersetzung literatur- und kulturwissenschaftlich geschulter Vertreter/innen postkolonialer Studien mit Anliegen aus dem etablierten Themenspektrum der Gesellschaftswissenschaften findet dort seit einigen Jahren Widerhall. Neben den Geschichtswissenschaften und der Ethnologie wenden sich zunehmend auch Vertreter/innen der Soziologie, Politikwissenschaft und Geographie postkolonialen Ansätzen zu. Dabei geht es zum einen darum, Implikationen postkolonialer Konstellationen im Lichte der jeweiligen Disziplinen und ihres Forschungsstandes zu reflektieren. Zum anderen geht es darum, mit diesen Reflektionen etablierte Selbstverständnisse jener Disziplinen wo nötig herauszufordern – etwa indem Aspekte des methodologischen Nationalismus oder Eurozentrismus offen gelegt und kritisch hinterfragt werden.

Zentrales Ziel der Konferenz „Postkoloniale Gesellschaftswissenschaften. Eine Zwischenbilanz“ ist eine Bestandsaufnahme und Zusammenführung des aktuellen Diskussionsstandes der gesellschaftswissenschaftlichen Zweige der post-kolonialen Studien im deutschsprachigen Raum, insbesondere von postkolonialen Thematisierungen aus der Geschichtswissenschaft, der Ethnologie/Anthropologie, der Politikwissenschaft, der Soziologie und der Geographie. Diese sollen außerdem nicht nur untereinander, sondern auch mit kunst-, literatur- und kulturwissenschaftlichen sowie mit außerakademischen Thematisierungen postkolonialer Konstellationen ins Gespräch gebracht werden. Ferner soll die Konferenz ein Forum sein, Kernfragen einschlägigen Forschungsarbeiten zu diskutieren. Über die Vorstellung und Diskussion von Einzelprojekten hinaus soll auf diesem Wege deutlich werden, wie in den einzelnen Disziplinen konkret mit postkolonialen Perspektiven gearbeitet wird und wie es, darauf aufbauend, um die Übersetzbarkeit von disziplinären Begriffen und Konzepten von einem Feld in ein anderes bestellt ist.

Programm

Freitag, 17.6.2011

09:30 – 10:00: „Get Together“

10:00 – 10:15: Einführung

10:15 – 12:00: Disziplinäre Positionen I

PD Dr. Ulrike Lindner (Bielefeld), PD Dr. Maren Möhring (Köln): Geschichtswissenschaften

Prof. Dr. Julia Lossau (Berlin): Geographie

13:30 – 15:15: Disziplinäre Positionen II

Prof. Dr. Sérgio Costa (Berlin): Soziologie

Prof. Dr. Ina Kerner (Berlin): Politikwissenschaft

15:30 – 17:15: Disziplinäre Positionen III

Dr. Daniel Münster (Halle): Ethnologie

PD Dr. Gabriele Dietze (Berlin): Kulturwissenschaft

18:00 – 20:00: Podiumsdiskussion

Postkoloniale Positionen innerhalb und außerhalb der Wissenschaft

Prof. Dr. Sabine Broeck (Bremen), Dr. Larissa Förster (Köln), Dr. Encarnación Gutiérrez Rodríguez (Manchester), Dr. Serhat Karakayali (Halle), Prof. Dr. Viktoria Schmidt-Linsenhoff (Trier)

Samstag, 18.6.2011

09:30 – 12:30: Fachvorträge mit Diskussion

Session 1: Postkoloniale Aufbrüche

Kristiane Gerhardt (Göttingen): Jüdische Geschichte goes postcolonial – Perspektiven und Chancen für die Historiographie der mitteleuropäisch-jüdischen Geschichte und deren Implikationen für eine koloniale „Verfasstheit“ des deutschsprachigen Mitteleuropas vor 1880

Kristin Skottki (Rostock): Das Mittelalter dekolonisieren? Zum Verhältnis von Mediävalismus, Orientalismus und Okzidentalismus

Dr. Michi Knecht (Berlin), Prof. Dr. Regina Römhild (Berlin): Ethnologische Perspektive auf Europa

Dr. Christine Löw (Kassel): Postkoloniale Theorien in der deutschsprachigen Politikwissenschaft – Zwischen Vereinnahmung und kritischem Stachel

Session 2: Konvergenzen und Konfrontationen

Ulrike Höppner (Berlin): Macht und Widerstand. Eine Annäherung an Konvergenzen politischer und postkolonialer Theorie

Prof. Dr. Susanne Gehrmann (Berlin): Zur Verschränkung von Literatur und Gesellschaftsanalyse in postkolonialen afrikanischen und afro-französischen Romanen und Essays

Dr. Manuela Boatcă (Berlin): Der einzigartige Westen. Rationalität und freie Arbeit als Grundlagen von Exzeptionalismus

Floris Biskamp (Gießen): 9/11 durch die Linsen von Kritischer Theorie und Postcolonial Studies

Session 3: Bildung und Wissen/Nichtwissen

Dr. des. Jana Tschurenev (Zürich): „Geteilte Geschichte“ statt „Verwestlichung“. Neue Perspektiven auf die Anfänge moderner Schulbildung in Indien

Marietta Mayrhofer-Deák (Wien): Bildung, Schule, koloniales Erbe? Zur Integration postkolonialer Perspektiven in der Bildungssoziologie

Dr. Wiebke Keim (Freiburg), Dr. Ercüment Çelik (Freiburg), Dr. Veronika Wöhrer (Freiburg), Christian Ersche (Freiburg): Universalität und Akzeptanzpotential von Gesellschaftswissen – Zur Zirkulation von Wissensbeständen zwischen Europa und dem globalen Süden

PD Dr. Ulrike Stamm (Berlin): Zum Verhältnis von Anerkennung und Nichtwissen innerhalb der postkolonialen Theorie

12:30 – 14:30: Mittagspause

14:30 – 17:30: Fachvorträge mit Diskussion

Session 4: Globale Verflechtungen

Prof. Dr. Reinhart Kößler (Freiburg), Dr. Ingrid Wehr (Freiburg): Verflochtene Geschichte und Multiple Modernen: Aktuelle Perspektiven auf „Entwicklung“

Prof. Dr. Anke Strüver (Hamburg): Zwischen care und career: Trans-lokale Arbeits- und Alltagspraktiken von Migrantinnen in haushaltsnahen Dienstleistungen

Dr. Malte Steinbrink (Osnabrück): Gazing at how the OTHER half lives

Dr. Sybille Frank (Darmstadt): When „the Rest“ enters „the West“: Indien in Österreich und in der Schweiz

Session 5: Körper und Geschlecht in postkolonialen Konstellationen

Daniel Bendix (Manchester): Postkoloniale Entwicklungspolitik? Auf der Spur der deutschen Müttergesundheitspolitik in Tansania

Anne Mariss (Kassel): Geschlechterbezogene Bilder von außereuropäischen Räumen in wissenschaftlicher Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts

Astrid Kusser (Köln): Minor histories als postkoloniale Herausforderung der Geschichtswissenschaft

Dr. Mona Motakef (Berlin): Wer gibt? Eine postkoloniale und geschlechtersoziologische Revision zur Organspendebereitschaft

Session 6: (Post-)koloniale Strukturen und Diskurse

Dr. Teresa Koloma Beck (Marburg): Das Erbe der Gewalt

Dr. Adiyanti Sutandyo-Buchholz (Serpong/Esslingen): The Role of Women in Postcolonial Urban Development in Indonesia

Simon Goebel (Augsburg): „Deutsche Kolonien“ – Seriöse Dokumentation oder kolonialer Kitsch. Eine Dokumentarfilmanalyse aus postkolonialer Perspektive

Dr. Anne Peiter (Saint-Dénis, Réunion): Gipfel der Einzigartigkeit und koloniale Eroberung. Zur deutschsprachigen Bergsteigerliteratur über den Himalaya 1918–1945

17:30 – 18:00: Pause

18:00 – 19:30: Zusammenführung und Abschlussdiskussion

Kontakt

Prof. Dr. Claudia Bruns (Kulturwissenschaft/Geschichte), Prof. Dr. Ina Kerner (Sozialwissenschaften), Prof. Dr. Julia Lossau (Geographie)

Humboldt-Universität zu Berlin
Prof. Dr. Ina Kerner
Institut für Sozialwissenschaften
Unter den Linden 6
10099 Berlin
(030) 2093-1513

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