Topografische Leerstellen. Ästhetisierungen verschwindender und verschwundener Dörfer und Landschaften in Literaturen, Filmen und Künsten

Topografische Leerstellen. Ästhetisierungen verschwindender und verschwundener Dörfer und Landschaften in Literaturen, Filmen und Künsten

Veranstalter
Forschungsprojekt "Experimentierfeld Dorf"
Veranstaltungsort
Martin-Luther-Universität
Ort
Halle an der Saale
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.12.2016 - 09.12.2016
Deadline
15.07.2016
Von
Marc Weiland

„Nichts kann deutlicher sein als ein Dorf, das es nicht mehr gibt“, schreibt Martin Walser in seinem Roman Ein springender Brunnen (1998: 121). Dörfliche und ländliche Räume werden heutzutage in ihren medialen Erscheinungen häufig als Lebenswelten gekennzeichnet, die aus der Erinnerung – sei es nun die persönliche oder kollektive – heraus entstehen. Sie rufen Orte und Räume ins Gedächtnis, die es so, wie wir sie einstmals kannten (oder zu kennen vermeinten) nun nicht mehr gebe und vermeintlich auch nicht mehr geben würde.

So beklagte auch der niederländische Journalist und Schriftsteller Geert Mak in seinem 1996 (dt. 1999) erschienenen Bestseller Wie Gott verschwand aus Jorwerd bereits im Untertitel den Untergang des Dorfes in Europa. Am Beispiel eines friesischen Dorfes beschreibt Mak die demografischen, ökonomischen, technischen und soziokulturellen Veränderungen, die die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts mit sich brachte. Aus einer sozialen und auch wirtschaftlichen Einheit, in der jeder jeden kenne und helfe, entstünde eine bloß noch formale Aneinanderreihung von Häusern, deren Bewohner „mit einem Bein in der Stadt“ (18) lebten. Mit dem Untergang dieser nicht immer idyllischen, aber sehr reichhaltigen und, so Mak, „allumfassend[en]“ (31, 61) Lebenswelt gehe auch der Verlust vieler sinnstiftender Systeme einher: seien sie nun religiöser, kultureller, wirtschaftlicher und/oder sozialer Natur. Maks Werk bildet dabei nur ein prominentes Beispiel für eine ganze Reihe von medial und diskursiv erzeugten Untergangsszenarien, die allesamt von „sterbenden“ und „verschwindenden“ Dörfern und Landschaften berichten.

Diese gefühlten und erfahrenen Verlustgeschichten stellen die grundsätzliche Frage, ob und wie Landleben und Modernisierung real, imaginativ und/oder fiktiv zusammengedacht und -gebracht werden können und ob sich hieran Möglichkeiten anschließen lassen, rurale Lebenswelten als soziale und lebendige Zusammenhänge zu denken und zu gestalten. Sie enden allzu häufig jedoch mit deutlich negativer Gegenwarts- und Zukunftsprognose; auch ungeachtet neuerer Forschungsergebnisse, die die vielfachen Verschmelzungen urbaner und ruraler Elemente und Lebensstile hervorheben. Denn gerade angesichts weiter voranschreitender Urbanisierungsprozesse nehmen die medial erzeugten Verlust- und Verfallsgeschichten zu: sie behaupten das Verschwinden des Dorfes als eines vermeintlich einstmals in sich geschlossenen Sozialsystems – und sorgen so doch zugleich für seine imaginative (Neu-)Erfindung. Als Bezugspunkt und Projektionsfläche bleibt so zumindest in den kulturellen Diskursen erhalten, was in der Realität der historischen und sozialen Entwicklungen im Schwinden begriffen scheint.

Das Verschwinden von Dörfern und Landschaften, sei es als langwieriger Prozess oder abruptes Ereignis, hinterlässt in seinem Ergebnis immer (verschiedenste) Leerstellen. Solche Leerstellen – seien sie nun real vorhanden oder imaginär vorgestellt, erinnert oder antizipiert – sind es jedoch auch, die die individuelle und kollektive Vorstellungskraft immer wieder aufs Neue antreiben und herausfordern. Literarische und künstlerische Werke haben dabei nicht nur die Prozesse der ‚Entdeckung‘ des Dörflichen im Zeitalter der Aufklärung und durch die bürgerliche Kultur des 19. Jahrhunderts begleitet, sondern thematisieren seitdem auch den Prozess des Verschwindens, archivieren das Verschwundene im kulturellen Gedächtnis, reflektieren Ursachen und Wirkungen und/oder greifen engagiert ein.

Ein prägnantes (und nach wie vor aktuelles) Beispiel für das Verschwinden ganzer Dörfer und Landschaften bietet sicherlich der Braunkohletagebau. So mussten u.a. im Abbaugebiet des „Mitteldeutschen Reviers“ bis heute über 50.000 Menschen ihre Wohnorte (zumeist Dörfer) verlassen, weil diese im Zuge der Braunkohlegewinnung devastiert und überbaggert wurden. Dieses gewaltige Ausmaß des Verschwindens evoziert beinahe selbstverständlich wirkmächtige Bilder, die dann wiederum über Literatur und Kunst verstärkt vermittelt werden.
Ein wichtiger Chronist dieses Landstriches ist der gebürtige Meuselwitzer Wolfgang Hilbig. Bei ihm wird die Sprache, wenn auch als machtloses Instrument, zum einzig wirksamen Mittel erkoren, die Brutalität dieser Gegend darzustellen, die die ihr zugefügte Gewalt mit gleicher Vehemenz wieder auszustrahlen scheint. Das Hilbigsche Territorium ist instabil, von Schächten und Bunkern unterhöhlt, vom Verfall zerfressen, von Menschenhand geschunden und zerstört; es ist dem Untergang geweiht. Sei es in seinem frühen Gedicht erinnerung an jene dörfer (1972) („die bagger blieben die dörfer sind fort / ein dürstender der sonnen flieht und wolken / so floh aus jedem dorf der teich“) oder in Prosaarbeiten wie der Alten Abdeckerei (1991) – immer wieder verweisen seine Werke auf jene Orte, die heute nicht mehr vorhanden sind und deren Verfall und Verschwinden bereits während ihrer Existenz an ihnen ablesbar war. An die Stelle jener Ortschaften traten riesige Tagebaue, deren Ausmaße unter anderem in der Malerei Wolfgang Mattheuers (Oh, Caspar David..., 1975) und den Fotografien Inge Rambows deutlich werden (Wüstungen. Fotografien 1991 – 1993). Durch die Anlehnung an das klassische Format romantischer Landschaftsdarstellungen zeigen die Bilder und die Fotografien das ästhetische Potential der Tagebaue, jedoch ohne diese dabei in idyllisierender und romantisierender Weise als Landschaften in einem klassischen Sinne zu inszenieren. Gerade die wahrnehmbare Differenz zwischen der Form und dem Gegenstand der Darstellung sorgt hier für ein eigenartiges Spannungsgefüge. Dabei machen insbesondere Inge Rambows Fotografien durch die gewählte Bildkomposition mit sehr hoch gesetztem Horizont das Ausmaß der Zerstörung und des damit einhergehenden Verschwindens deutlich. Hier erinnern teilweise nur noch die Titel an das, was an den abgebildeten Stellen einst vorzufinden war (z.B. Ehem. Bösdorf, Sachsen 1991). Diese Verlusterfahrung ist auch eines der zentralen Themen der mehr als zehn Jahre umfassenden Langzeitstudie Land am Wasser (2015) des Regisseurs Tom Lemke. Sie berichtet in ausdruckstarken Bildern und Interviews anhand des letzten Bewohners eines Dorfes, das dem Bergbau weichen wird, von den Auswirkungen der kontinuierlich voranschreitenden und bis heute unabgeschlossenen planmäßigen Zerstörung einer Landschaft und den Überbleibseln ehemals bestehender Sozialstrukturen. Jene künstlerischen Werke können mittlerweile auch als Zeitdokumente verstanden werden. Denn nicht nur sind die ehemaligen Dörfer und Landschaften längst verschwunden, auch die Tagebaue wurden mittlerweile bereits zu großen Teilen renaturiert. Gleichsam fanden auch diese Prozesse unlängst Eingang in die Kunst, beispielsweise beim Leipziger Maler Neo Rauch (See, 2000).

Dabei bildet das „Mitteldeutsche Revier“ nur ein konkretes räumliches Beispiel für die diachrone künstlerische Begleitung des Verschwindens von Dörfern und Landschaften mit den Mitteln von Literatur, Kunst und Film – und zwar jenseits der Imagination einer vermeintlich einstmals geschlossenen dörflichen Ganzheit oder romantischen Landschaft. Ähnliche Prozesse einer Ästhetisierung des Verschwindens und des Verschwundenen lassen sich global vergleichend an verschiedenen Orten und in verschiedenen Zeitspannen finden. Damit leisten diese Werke einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zum Erkennen entstandener Leerstellen, können aber auch Erinnerungsdiskurse aktivieren und konsolidieren.

Vor diesem Hintergrund möchte der Workshop mit komparatistischen Mitteln und Fragestellungen das Thema des Verschwindens von Dörfern und Landschaften in den verschiedenen Literaturen und Filmen, Fotografien und Malereien, Massenmedien und Populärkulturen vor ihren gesellschaftlichen und kulturhistorischen Hintergründen und Problemstellungen erkunden:

Mit welchen literarischen, filmischen, fotografischen, malerischen etc. Mitteln wird das Verschwinden von Dörfern und Landschaften in spezifischen Werken dargestellt?

Wie und warum werden verschwundene Dörfer und Landschaften imaginativ wiederbelebt?

Welche Erinnerungen werden mit ihnen verbunden und wie werden sie aktiviert?

Welche Themen und Motive werden in sie projiziert oder aus ihnen erschlossen?

Wie und mit welchen Begründungsfiguren wird das Verschwinden von Dörfern und Landschaften diskursiv und massenmedial verhandelt?

Welche ökonomischen, politischen, sozialen und/oder kulturellen Diskurse werden dabei thematisiert und reflektiert?

Wie werden defizitäre gesellschaftliche Kommunikationsprozesse über verschwindende und verschwundene Dörfer und Landschaften durch künstlerische Beiträge bearbeitet?

Welchen Beitrag leisten ästhetische Verfahren zur Erkenntnis, ggf. auch zur Kritik und Vermittlung der mit dem Verschwinden einhergehenden sozialen Prozesse und Erfahrungen?

Welche neuen Entwürfe und Nutzungsstrategien werden anstelle der verschwundenen Dörfer und Landschaften gesetzt? Finden sich dort noch Spuren des Verschwundenen?

Wie wirken sich die Ästhetisierungsweisen verschwindender und verschwundener Dörfer und Landschaften ggfs. auch auf eine Neugestaltung bzw. Entwicklung der jeweiligen Orte und Landschaften aus?

Diese und andere Fragen können während des Workshops thematisiert werden. Der Workshop richtet sich u.a. an (Nachwuchs)Wissenschaftler in den Literatur-, Film-, Sprach-, Sozial- und Medienwissenschaften, in der Kunstgeschichte, Kulturgeografie und (Landschafts)architektur.

Wir bitten um Abstracts (max. eine Seite) für einen 20-minütigen Vortrag inkl. einer kurzen biografischen Notiz mitsamt Kontaktdaten bis zum 15.07.2016 per E-Mail an:

martin.ehrler@germanistik.uni-halle.de

marc.weiland@germanistik.uni-halle.de

Der Workshop findet im Rahmen des von der Volkswagenstiftung geförderten Forschungsprojektes „Experimentierfeld Dorf“ an der Martin-Luther-Universität in Halle statt (Infos unter: http://www.dorfatlas.uni-halle.de). Die Reise- und Übernachtungskosten für Vortragende werden übernommen. Eine (zeitnahe) Publikation ist geplant.

Programm

Kontakt

Marc Weiland

Germanistisches Institut, Ludwig-Wucherer-Str. 2, 06108 Halle

marc.weiland@germanistik.uni-halle.de

http://www.dorfatlas.uni-halle.de