Friedrich Engels - Neue historische Perspektiven

Friedrich Engels - Neue historische Perspektiven

Veranstalter
Wissenschaftliche Kommission des Bergischen Geschichtsvereins e.V.
Veranstaltungsort
Evangelisches Tagungszentrum Wuppertal, Missionsstraße 9, 42285 Wuppertal
Ort
Wuppertal
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.03.2020 - 07.03.2020
Deadline
31.01.2020
Von
Stefan Gorißen

Einführung in die Thematik

„Ich habe mein Leben lang das getan, wozu ich gemacht war, nämlich zweite Violine spielen, und glaube auch, meine Sache ganz passabel gemacht zu haben. Und ich war froh, so eine famose erste Violine zu haben wie Marx.“ Mit diesen, in einem Brief an den Revolutionär und Organisator der Schweizer Arbeiterbewegung Johann Philipp Becker vom 15. Oktober 1884 gewählten Worten gab Friedrich Engels selbst das Leitmotiv für die Rezeption seines Lebens durch seine Mit- und Nachwelt vor. Engels inszenierte sich hier als bescheidener und selbstloser Zuarbeiter und Mäzen von Karl Marx und setzte damit selbst den Kontext, der die Wahrnehmung seiner Person, seines Wer-kes und seines Wirkens seither bestimmte: Schon die Bezeichnung der in den 1840er Jahren entstehenden, außerordentlich wirkungsvollen philosophischen und ökonomisch-politischen Denkschule als „Marxismus“ – der Begriff wurde erstmals Anfang der 1880er Jahre verwendet – macht die Bedeutung Friedrich Engels‘ als einem der beiden Schöpfer dieser Tradition unsichtbar. Bis heute steht Engels im öffentlichen Bewusstsein wie in der wissenschaftlichen Diskussion im Schatten des als ungleich bedeutender und wirkungsmächtiger eingeschätzten Karl Marx. Ein flüchtiger Blick auf den aktuellen deutschen Buchmarkt bestätigt diesen Eindruck: Während im vergangenen Jahrzehnt mit den Arbeiten von Jonathan Sperber, Gareth Stedman Jones und Michael Heinrich gleich drei umfangreiche Biographien zu Karl Marx erschienen bzw. im Erscheinen begriffen sind, erfuhr das Leben von Friedrich Engels nur ein einziges Mal, nämlich in der exzellenten Biographie von Tristram Hunt eine umfassende Würdigung.
Zwar ist es ausschließlich in den Zufälligkeiten des Lebens begründet, wenn Karl Marx auch bei den derzeitigen Jubiläen Friedrich Engels voraus ist, Veranstaltungen und Aktivitäten anlässlich des 200. Geburtstags von Friedrich Engels also dem Marxjahr 2018 nachlaufen. Keineswegs zufällig, sondern bezeichnend ist es hingegen, wenn das öffentliche und das wissenschaftliche Interesse am Engelsjahrestag hinter demjenigen für Marx zurückzufallen scheinen und die Beschäftigung mit Engels nur wie eine zweite, nachgeordnete Runde im Jubiläumsgeschäft wirkt.
In Publikationen und Ausstellungen des Jahres 2018 wurde immer wieder betont, ja beschworen, dass die Werke eines Autors des 19. Jahrhunderts vom Schlage des Karl Marx‘ angesichts des globa-len Siegeszugs des Kapitalismus seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert und angesichts der sich gleichzeitig bedrohlich zuspitzenden Finanzkrisen uns gerade heute noch Vieles zu sagen hätten, – auch wenn dann im Einzelfall nicht mehr immer erkennbar wurde, welche Antworten etwa auf die Eurokrise im „Kapital“ tatsächlich zu finden sind. Dass ähnliche Erwartungen sich mit den Werken des Friedrich Engels‘ anlässlich seines Jubiläums verbinden, steht nicht zu befürchten. Engels gilt gemeinhin – im Unterschied zu Marx – weniger als kongenialer kapitalismuskritischer Ökonomietheoretiker, sondern eher als Popularisierer, als Praktiker, militärisch erfahrener Revolutionär und im Zweifelsfall auch als Ideologe, der als Herausgeber und Nachlassverwalter dem herausragenden Werk des Karl Marx‘ manches von seiner Flexibilität und Offenheit raubte. Seine Rolle als Unterstützer und Mäzen für Karl Marx ist allgemein bekannt, in der öffentlichen Erinnerung erscheint Engels dennoch als der weniger Sympathische und als derjenige von beiden, dem die ideologischen Verkrustungen und totalitären Auswüchse der staatssozialistischen Systeme nach 1917 am ehesten zuzurechnen wären.
Die Forschung der letzten Jahre hat indes sehr präzise herausgearbeitet, dass Karl Marx genauso wenig ohne Friedrich Engels zu denken ist wie umgekehrt Friedrich Engels ohne Karl Marx. So wichtig die von Engels über viele Jahre hinweg durchgehaltene Rolle als finanzieller Unterstützer für die stets prekären Lebensverhältnisse des Karl Marx war, so wesentlich blieb seine Rolle als Impulsgeber, Gesprächspartner, Antreiber und Ko-Autor für ein Werk, das noch immer häufig allzu ausschließlich dem Freund zugeschrieben wird. Marx nutzte zeitlebens Engels unternehmerische Erfahrungen und Kenntnisse für betriebswirtschaftliche und technische Fragen. Nur knapp sei hier überdies daran erinnert, dass es erst Friedrich Engels war, der mit seinem Buch „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ den Blick von Marx, der sich bis dahin ausschließlich mit Geschichtsphilosophie und Religionskritik beschäftigt hatte, auf das „Proletariat“ und die „soziale Frage“ lenkte und dass er mit seinen „Umrissen zu einer Kritik der Nationalökonomie“ überhaupt erst die politische Ökonomie bzw. ganz grundsätzlich die ökonomische Theorie, die für alle weiteren Überlegungen zentral werden sollte, in den Horizont der philosophischen Linken und damit auch in denjenigen des Karl Marx‘ rückte.
Dass Engels schließlich bei seiner Herausgabe des zweiten und dritten Bands des „Kapitals“ nach Marx‘ Tod aus dessen nachgelassenen Manuskripten die ursprünglichen Intentionen des Freundes verfälscht und eigene Interpretationen in den Text hineinprojiziert habe, wurde mittlerweile auf der soliden philologischen Grundlage, die die entsprechenden Bände der MEGA inzwischen bieten, widerlegt. Schon die implizite Unterstellung, es habe Engels bei der Herausgabe des Kapitals zunächst um eine philologisch möglichst korrekte Konstruktion eines von Marx selbst nicht mehr abgeschlossenen Werks ganz im Sinne des Autors gehen müssen, zeugt von einer Geringschätzung der Bedeutung Engels‘, dem hier offensichtlich keine eigenständige kreative Funktion zugedacht wird. Tatsächlich verstand sich Engels selbst jedoch nicht als Marx-Exeget, sondern als tatenhungriger Revolutionär, dem zu allererst an der Herstellung einer tragfähigen theoretischen Grundlage für die anstehenden politischen Kämpfe gelegen war. Dieses Ziel konnte er mit Marx‘ hinterlasse-nen und oftmals widersprüchlichen Textfragmenten schlecht erreichen, und so blieb ihm letztlich keine andere Wahl, als unter den zahlreichen theoretischen Angeboten, die er in Marx‘ Nachlass vorfand, eine Entscheidung für eine Option zu treffen.
Engels‘ Vorstellung, dass die Arbeiterbewegung eine einheitliche und stringent formulierte ökonomisch-politische Theorie als Basis für den Klassenkampf benötige, hätte auch Marx kaum widersprochen, im Gegenteil: Als Engels mit der Abfassung des „Anti-Dühring“ implizit eine zusammenfassende Darstellung der von Marx und ihm entwickelten Lehre lieferte, wurde er hierbei durch den Freund unterstützt: Marx kannte den Text nicht nur und hatte ihn mit Engels diskutiert, er hatte überdies seinerseits wesentliche Passagen selbst beigetragen. Eine Konstellation, in der Friedrich Engels eigenständig in Marx‘ Werk eingegriffen und dieses zu einem konsistenten, dogmati-schen philosophisch-ökonomischen Gesamtkonzept verdichtet haben könnte, lässt sich bei auch nach genauer Rekonstruktion der Engels nach Marx‘ Tod 1883 noch verbleibenden Lebensjahre nicht erkennen.
Trotz der kaum zu bestreitenden Bedeutung von Friedrich Engels für die Formierung des als „Marxismus“ bezeichneten Denkgebäudes bleibt seine Intention unübersehbar, seinen eigenen Anteil am Gesamtwerk als nachgeordnet zu markieren und den Freund zu überhöhen: „Was ich beigetragen, das konnte – allenfalls ein paar Spezialfächer ausgenommen – Marx auch wohl ohne mich fertigbringen. Was Marx geleistet, hätte ich nicht fertiggebracht. Marx stand höher, sah weiter, überblickte mehr und rascher als wir andern alle. Marx war ein Genie, wir anderen höchstens Talente. Ohne ihn wäre die Theorie heute bei weitem nicht das, was sie ist. Sie trägt daher mit Recht seinen Namen.“ Wie weit man solchen Selbststilisierungen trauen darf, wird sich kaum abschließend klären lassen, auch wenn die philologische Forschungen der letzten Jahre hierzu wichtige Einsichten geboten haben.
Eine geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit Friedrich Engels muss zunächst Marx und Engels trennen oder doch zumindest deutlich zueinander positionieren. Weiterführend ergeben sich aus den ausgeführten Beobachtungen drei Konsequenzen, die als Leitperspektiven die Diskussionen auf unserer Tagung anlässlich des 200. Geburtstags von Friedrich Engels leiten können:
(1) Über Engels zu sprechen bedeutet unweigerlich auch über das Bild, dass sich seine Nach-welt von ihm – in Relation zu bzw. Abgrenzung von Marx – machte, zu sprechen. Jedes gegenwärtige Interesse an Friedrich Engels geht zunächst und vordringlich von der Wirkungsgeschichte aus, die weit über seine Lebenszeit und die unmittelbare Nachwelt hinausweist. Eine Geschichtswissenschaft, die sich nicht in antiquarischen Reminiszenzen erschöpft, muss nach den Gründen und nach den historischen Konstellationen fragen, die eine solche Wirkungsgeschichte ermöglichten. Damit wird zunächst der Blickwinkel problematisiert, der jeder Beschäftigung mit der historischen Person Friedrich Engels vorgängig ist.
(2) Eine Betrachtungsweise, die die Person Friedrich Engels nur von seiner Wirkung und seinem Ende her betrachtete, bliebe jedoch im Kern ahistorisch. Sie bedarf daher der Ergänzung durch eine zweite Perspektive, die auf eine konsequente Historisierung des Menschen Friedrich Engels, seines Lebens und seines Werks zielt, und dies in zweierlei Hinsicht: Historisieren bedeutet zum einen, Friedrich Engels als einen Menschen des 19. Jahrhunderts zu verstehen, ihn aus der ihm allzu oft zugemuteten Rolle eines Verkündigers überzeitlich gültiger Wahrheiten zu befreien und ihn in den historischen Kontext zurückzustel-len, aus dem heraus er wirkte. In diesem Sinne bedeutet Historisierung, Friedrich Engels auch räumlich im Kontext seiner Kindheits- und Jugenderfahrungen im Bergischen Land zu diskutieren. Barmen ist nicht nur der zufällige Geburtsort. Das Wuppertal der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit seinen frühindustriellen Textilgewerben und seiner calvinistisch-pietistischen Kaufmannschaft steht vor allem für prägende Erfahrungen, deren Relevanz für das Wirken von Friedrich Engels im Einzelnen erst noch auszuloten ist. Entsprechend gibt es eine über die Zufälle der Biographie hinausweisende Berechtigung, warum diese Tagung in Wuppertal stattfindet.
Zum anderen kann und sollte die Person Friedrich Engels und ihr Werk als Sonde genutzt und gelesen werden, die uns heute ein tieferes Verständnis des 19. Jahrhunderts ermöglicht. Wird Engels konsequent als Mensch des 19. Jahrhunderts gedacht, verweist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Menschen, seinem Handeln, seinem Selbst-verständnis – als Revolutionär – und seinem Wirken auf das Jahrhundert seiner Lebenszeit zurück. Eine solche Perspektive wirft Fragen auf, die häufig über die in den vorliegenden Meistererzählungen angebotenen Deutungen zum 19. Jahrhundert hinausweisen.
(3) Das Zusammenführen von Rezeptionsgeschichte und Historisierung setzt schließlich voraus, Friedrich Engels auch als Autor ernst zu nehmen und zu würdigen. In seiner Jugend sah Engels sich selbst als Literat im Umfeld des „Jungen Deutschland“, später dann wohl auch als philosophischer Denker und Autor. Das im Alter von nur 25 Jahren geschriebene Buch über „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ geriet ihm zu „sein[em] literarisch gelungens-ten und wissenschaftlich originellsten Werk“, ohne Zweifel auch mit der nachhaltigsten Wirkung bis in die Gegenwart. Jenseits dessen gibt es abseits der berühmten Arbeiten, die zum Kanon des „Marxismus“ gehören, viele Texte zu entdecken, zu würdigen und zu interpretieren. Nicht ohne Berechtigung wurde Engels als „einer der begabtesten Journalisten des 19. Jahrhunderts und einer der besten Historiker“ gewürdigt.
Die Tagung fühlt sich diesem Dreischritt aus Werk, Kontext und Wirkung verpflichtet. Die Veranstalter sind sich bewusst, dass hierdurch viele Aspekte, die sich mit der Person Friedrich Engels verbinden, von vorne herein ausgespart werden. Exemplarisch seien hier seine tagespolitischen Aktivitäten, seine Schriften zu Kriegsfragen und sein Selbstverständnis als Militärexperte sowie geschlechtergeschichtliche Fragestellungen genannt. Diese Themen werden in anderen Kontexten weiterverfolgt.

Stefan Gorißen

Programm

Tagungsprogramm:

Freitag, 6. März 2020

Ab 12:00 Uhr: Gelegenheit zum Mittagessen im Tagungszentrum

13:30-14:00
Begrüßung und Einführung (Thomas Halbach, Georg Mölich, Stefan Gorißen)

14:00-16:00
Erste Sektion: Friedrich Engels und das Bergische Land: Herkunft und regionale Rezeption
- Protoindustrialisierung und frühe Globalisierung in den bergischen Textilgewerben (Stefan Gorißen, Bielefeld)
- Ein Zion der Gläubigen, ein Eldorado der Fleißigen - die Herkunft des Friedrich Engels (Anne Sophie Overkamp, Tübingen)
- Friedrich Engels - die Rückkehr des "verlorenen Sohnes" in das Wuppertal (Uwe Eckardt, Wuppertal)
16:00-16:30: Kaffeepause

16:30-18:30
Zweite Sektion. Engels und der Marxismus: Bedeutung und überregionale Rezeption
- Engels und Marx: Geschichte einer Kanonisierung (Jürgen Herres, Berlin)
- "Jeder von uns ist herrschsüchtig in der Art, daß er seine Ansichten zu den herrschenden machen will." Friedrich Engels und der Aufstieg des Marxismus in Europa (Christina Morina, Bielefeld)
- Engelsbild und Engelsrezeption in der DDR (Gisela Diewald-Kerkmann, Bielefeld)

19:00-20:00
Öffentlicher Abendvortrag
Tristram Hunt (London): The Old Londoners - Friedrich Engels and Karl Marx in Britain

ab 20:00 Abendimbiss und geselliges Beisammensein für Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmer 

Samstag, 7. März 2020

9:30-11:00
Dritte Sektion: Friedrich Engels als Autor
- Philosophie interdisziplinär: Die metaphysischen Präsuppositionen von Friedrich Engels
(Michael Quante, Münster)
- Friedrich Engels und die Globalisierung (Werner Plumpe, Frankfurt)

11:00-11:30 Kaffeepause

11:30-13:00
Vierte Sektion: Friedrich Engels und die Industrielle Revolution
- Die britische und die deutsche Baumwollindustrie des 19. Jahrhunderts im Vergleich
(Michael Schäfer, Chemnitz)
- Engels‘ Pause. Ein Konzept zwischen engagiertem Sozialbericht, Zukunftsszenario und Kli-ometrie (Ulrich Pfister, Münster)

13:00-14:00 Mittagspause

14:00-15:30
Fünfte Sektion: Rheinischer Frühliberalismus und die Revolution von 1848/49
- "Wir verlangen mehr Gedankengehalt als liberale Phrasen..." Friedrich Engels und der Frühli-beralismus (Ewald Grothe, Wuppertal)
- „Ein wüstes Chaos vor der Seele.“ Friedrich Engels, der Elberfelder Aufstand und die Erzäh-lung von der „gescheiterten“ Revolution 1848/49 (Detlef Vonde, Wuppertal)

15:30-16:00 Kaffeepause

16:00-17:30
Sechste Sektion: Arbeiterbewegung und Soziale Frage
- Friedrich Engels und die politische Formierung der deutschen Arbeiterschaft (Jürgen Schmidt, Berlin)
- Friedrich Engels und die Arbeiterbewegung: Vom gescheiterten Revolutionär zum Opa des europäischen Sozialismus (Thomas Welskopp, Bielefeld)

17:30-18:00
Schlussdiskussion und Verabschiedung

Kontakt

Anmeldungen zur Tagung bitte formlos per E-Mail an die Geschäftsstelle des BGV:
info@bgv-gesamtverein.de

Die Tagungsgebühr beträgt 60,- €, für Vereinsmitglieder sowie Schüler*innen und Studierende 40,- €. In der Tagunggebühr enthalten sind die Kosten für den Abendimbiss am Freitag, das Mittagessen am Samstag sowie Getränke und Imbiss während der Tagung.

https://www.bergischer-geschichtsverein.de/