Als 1999 das internationale Netzwerk Tensions of Europe (https://www.tensionsofeurope.eu/network/) gegründet wurde, befand sich die Technikgeschichte noch im nationalen Dornröschenschlaf. Diskutiert wurden nationale oder regionale Technikstile (Hughes; Radkau), nationale Innovationskulturen (Wengenroth) oder, an linguistischen Konzepten orientiert, „Dialekte“ der Technikentwicklung (Hård/Knie). Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen räumlich-geographischen und technischen Entwicklungen war damit immerhin formuliert. Gleichwohl wurde sie stark national, oder aber, wie vor allem in der Industrialisierungsforschung, angeregt durch die Arbeiten Sidney Pollards, regional gedacht. Auch wenn internationale Vergleiche unternommen wurden, musste der Boom der Globalgeschichte der 2000er Jahre für die Technikgeschichte eine Herausforderung darstellen, dominierte doch eine stark auf die westliche Welt fokussierte Geschichtsschreibung.
Mittlerweile etablierte sich eine globale Technikgeschichte mit großen Forschungsprojekten und internationalen Netzwerken. Das Tensions of Europe-Netzwerk wurde in einer zweiten Phase fortgeschrieben und widmet sich nun globalen Herausforderungen der Menschheit (https://www.tensionsofeurope.eu/second-flagship-program-technology-societal-challenges/). Ein Druck, Technikgeschichte global zu denken, ist unübersehbar.
Die Zeitschrift Technikgeschichte möchte das Erscheinen der Reihe Making Europe als Ausgangspunkt nehmen, um Fragen nach räumlichen Kontexten der Technikgeschichtsschreibung zu diskutieren. Die sechsbändige Buchreihe, erschienen zwischen 2013 und 2019, wird in der Zeitschrift im gerade erschienenen Heft 3/2020 aus drei unterschiedlichen fachlichen Perspektiven besprochen. John Bosco Lourdusamy betont, die Making Europe Reihe könne ähnliche Studien für Afrika oder die arabische Welt inspirieren. Amy Bix formuliert: “New generations of scholars will surely discover valuable ways to enlarge these European-based studies, with analysis of both center and periphery. Yet even more exciting potential rests in those geographic areas, periods, case studies, and transnational theoretical issues still underrepresented in the literature.”
Die Technikgeschichtsschreibung ist damit mit Fragen konfrontiert, die in der Geschichtsschreibung bereits länger diskutiert werden: das Verhältnis von Nationalgeschichte zu globaler Geschichte, die Frage nach transnationaler und Verflechtungsgeschichte oder das Verhältnis von Lokalität und Globalität, die Frage, welche Weltregionen in den Blick zu nehmen sind. Regionalgeschichte scheint dabei eher aus dem Blick geraten zu sein.
Für die Technikgeschichte stellen sich über diese historischen Debatten hinaus allerdings spezifische Fragen. Für sie war es von hoher Bedeutung, das westlich-zentrierte Narrativ einer Technik, die „from the west to the rest“ verbreitet werde, aufzubrechen. Globale Warenströme, weltumspannende Produktionsprozesse und globale Nutzungen von Technologie, der Austausch und die Zirkulation von Objekten, Menschen und technischem Wissen seit der Frühen Neuzeit haben die Grenzen rein regionaler oder nationaler Perspektiven deutlich gemacht. Der Blick auf global plurale Technikentwicklungen, auf lokale Aneignungen und eigenständige Entwicklungen ist inzwischen ebenso selbstverständlich wie die Infragestellung der Universalität technikhistorischer Konzepte wie beispielsweise Large Technological Systems oder Social Construction of Technology. Schließlich zeigte gerade die Making Europe-Reihe die Bedeutung von Technik für die europäische Geschichte, indem sie das lineare Narrativ eines politisch konstituierten Europas in Frage stellte und die mit vielfältigen Spannungen und Brüchen verbundene historische „construction and reconstruction“ Europas herausarbeitete. Auch die fundamentale Rolle von Technologien in Globalisierungsprozessen wurde bereits vielfach betont.
Gleichwohl dominieren gerade innerhalb der deutschsprachigen Technikgeschichte nach wie vor westliche, oft auf Deutschland zentrierte Erzählungen. Mit einem reflektierenden Blick auf die Globalgeschichte forderten zudem Stefanie Gänger und Jürgen Osterhammel im Kontext der gegenwärtigen Pandemie eine „Denkpause für Globalgeschichte“, die ihre implizit normativen Begrifflichkeiten und Fokussierung auf Zirkulation, Mobilität, Wechselwirkungen und Konnektivität zu hinterfragen habe.
Wir laden daher zu einer Diskussion über die Frage der räumlichen Ausrichtung und der Geographie der Technikgeschichtsschreibung ein. Willkommen sind kurze Essays, Interventionen, Kommentare oder Zukunftsausblicke, die Position beziehen, Anregungen geben, Kritik üben und Fragen bearbeiten wie beispielsweise: Ist die Technikgeschichte trotz der Etablierung einer europäischen und globalen Geschichtsschreibung noch immer eurozentrisch? Ist eine europäische Technikgeschichte nicht viel zu westlich orientiert? Ist die Technikgeschichte gar viel zu stark national ausgerichtet? Oder ist es umgekehrt so, dass die nationale oder regionale oder gar lokale Geschichte nicht einem Forschungshype und einer Forschungsförderpolitik geopfert werden dürfen? Gibt es nicht vielmehr Themen, die sinnvoller Weise in nationaler Perspektive bearbeitet werden sollten? Wie können mikrohistorische Perspektiven mit globalhistorischen Themen verbunden werden? Werden vielleicht unzulässige Gegensätze zwischen nationaler, europäischer oder globaler Geschichte konstruiert? Folgen europäische und globale Technikgeschichten möglicher Weise implizit normativen Narrativen wie es lange Zeit die Nationalgeschichtsschreibung tat? Wie hängt die jeweilige räumliche Dimension der Geschichtsschreibung mit der jeweiligen Epoche zusammen? Sind Geschichten der Vormoderne notwendigerweise regional oder global? Welche Technikgeschichte soll an Universitäten gelehrt werden?
Wir freuen uns über Texte im Umfang von max. 10.000 Zeichen in deutscher oder englischer Sprache, bitte bis 6. Januar 2021 an schriftleitung.technikgeschichte@hi.uni-stuttgart.de.