Es ist immer wieder behauptet worden, dass die zunehmende Verwissenschaftlichung der Antike um 1800 einen epochalen Einschnitt in ihre Transformationsgeschichte darstellt. Mit der Ausdifferenzierung und Pluralisierung der Altertumswissenschaften, ihrer neuen methodischen Strenge seit Beginn des 19. Jahrhunderts, so die These, kommt es zu einer gleichsam finalen Transformation der antiken Kulturen, in deren Verlauf die Antike ihre normative Relevanz verliert. Ebenso ist jedoch auch die Gegenthese vertreten worden, der zufolge die Antike trotz ihrer Verwissenschaftlichung für die Konstituierung der Moderne und die Ausbildung der modernen Geisteswissenschaften grundlegend, ein bleibendes Faszinationsobjekt, ein Gegenstand der Aneignung und prägendes Gegenbild gleichermaßen geblieben sei. Im Rahmen eines zweitägigen, interdisziplinären Workshops sollen Formen und Wirkungen eines verwissenschaftlichten Umgangs mit der griechisch-römischen Antike untersucht werden.
Anstatt nach Belegen für den postulierten Bruch oder die Gegenthese des kontinuierlichen Bezugs auf die Antike zu suchen, ist die Tagung der Frage gewidmet, welche Rolle ein wissenschaftlicher
Umgang mit der Antike, im Kontrast zu und im Wechselspiel mit anderen Formen der Antikeaneignung, durch die Jahrhunderte hindurch gespielt hat. Dabei soll der wissenschaftliche
Zugang als primär distanzierend-objektivierende Form der Auseinandersetzung mit der Antike verstanden werden, die sich von idealisierend-reklamierenden und spielerisch-ästhetischen Formen abgrenzen lässt. Neben der Charakterisierung eines wissenschaftlichen Zugangs zur Antike als distanzierend-objektivierend lassen sich noch eine Reihe weiterer Kriterien benennen, die einen solchen Umgang ausmachen können, wobei nicht jedem wissenschaftlichen Zugang alle Merkmale zukommen müssen: Geteilte Standards, Modelle und Verfahrensweisen, eine Systematisierung des Wissens, die in der Regel mit dem Ideal der Vollständigkeit verbunden ist, das Vorliegen einer Methodologie sowie eine Professionalisierung und Institutionalisierung der Beschäftigung mit antiken Gegenständen zeichnen typischer Weise einen wissenschaftlichen Zugang zur Antike aus.
Demgegenüber lässt sich der idealisierend-reklamierende Umgang mit antiken Gegenständen, wie er uns beispielsweise in der Literatur (im Aufgreifen lyrischer Formen, in der Dramatik), der
Architektur oder auch der Philosophie begegnet, dadurch charakterisieren, dass er sich auf die (meist griechisch-römische) Antike bezieht, indem er diese als Inbegriff vollkommener Gestaltung
versteht und die eigene Produktion an ihr orientiert. Die Grenzen zum dritten Zugang, dem spielerisch-ästhetischen Umgang mit der Antike, sind im Detail schwer zu bestimmen. Doch kann dieser vor allem dort gut beobachtet werden, wo antike Formen oder Sujets aufgenommen und diese als Medium weitgehend autonomer Diskurse oder künstlerischer Formgebung verwendet werden (z.B. im Ornament und in Spielfilmen über Trojas Eroberung oder die Thermopylenschlacht).
Im Rahmen der Tagung sollen nun zum einen diese drei unterschiedlichen Zugänge zur Antike und insbesondere auch deren Mischformen an Fallbeispielen aus verschiedenen Disziplinen untersucht werden, um auf diese Weise Kontrast und Wechselspiel unterschiedlicher Formen der Auseinandersetzung mit antiken Gegenständen beobachten zu können. Zum anderen sollen gezielt auch die Jahrzehnte und Jahrhunderte vor und nach 1800 in den Blick genommen werden.
Denn schon die oberflächliche Betrachtung verschiedener Beispiele aus der Zeit vor und nach 1800 legt die Vermutung nahe, dass sich in verschiedenen Zeiten und Disziplinen Konjunkturen unterschiedlicher Zugangsweisen auf die Antike finden lassen.
So liefert die früh einsetzende systematische Beschäftigung mit antiken Denkmälern und Artefakten, wie sie sich etwa bei Cassiano dal Pozzo und anderen Antiquaren bereits im 16. und 17.
Jahrhundert findet, ein Beispiel für einen wissenschaftlichen Zugang zur Antike lange vor 1800.
Dagegen können zahlreiche Beispiele der Rezeption der Antike nach 1800 gefunden werden, die einen idealisierenden Umgang mit antiken Gegenständen belegen. Die Wiedereinführung der Olympischen Spiele im Jahre 1896, die inzwischen zu einem wichtigen Bestandteil der Populärkultur geworden sind, kann dieses Phänomen gut veranschaulichen. Zudem finden sich bis heute gerade auch in den Altertumswissenschaften derartige idealisierende Momente, wie sie beispielsweise in der Fokussierung der Archäologie auf die klassische Antike zu Tage treten und damit eine interessante Mischform der Antikeaneignung exemplifizieren.
Die Tagung wird Fallbeispiele aus Archäologie, aus Geschichte und Wissenschaftsgeschichte, Philologie, Philosophie, Theologie und Religionswissenschaft untersuchen.