Stress in der Leistungsgesellschaft. Flexible Systeme zwischen Erholung und Kollaps

Stress in der Leistungsgesellschaft. Flexible Systeme zwischen Erholung und Kollaps

Veranstalter
Lea Haller, ETH Zürich; Sabine Höhler, KTH Stockholm; Heiko Stoff, TU Braunschweig
Veranstaltungsort
ETH Zürich, Hauptgebäude, Rämistr. 101, Raum E 23
Ort
Zürich
Land
Switzerland
Vom - Bis
08.03.2012 - 10.03.2012
Von
Höhler, Sabine

Gesellschaften definieren sich nicht nur über ihre Werte und Visionen, sondern auch über ihre Beschwerden. Während der industrialisierte Mensch des Fin de Siècle an Nervosität litt, steht die Leistungsgesellschaft seit den 1960er Jahren zunehmend unter Stress. Der Stress wanderte von der Mechanik über die Biologie und die Militärpsychiatrie in die Chefetagen der aufkommenden Managerklasse und wurde im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zur Pathologie des flexiblen Menschen schlechthin. Zentral für das Stresskonzept ist die Vorstellung einer dynamischen Anpassung. Der Mediziner Hans Selye hatte die Adaptation des Körpers an schädliche Einflüsse als hormonell gesteuerte Anpassung formuliert; er nannte diese Anpassung 1936 General Adaptation Syndrome und verhalf dem Konzept unter dem Begriff "Stress" in der Nachkriegszeit zu wissenschaftlicher Resonanz. In der aufkommenden Leistungsgesellschaft wurde diese biologische Anpassungsfähigkeit lebensweltlich interpretiert. Stress wurde zum Ziel einer Reihe von Interventionen und Selbsttechnologien: Ratgeber und Kuren, Waldlauf, autogenes Training, Wellness und gleitende Arbeitszeiten sollen eine dynamische Anpassung an die diversifizierten Anforderungen des Berufs- und Privatlebens ermöglichen.

Mit dem Stresskonzept konnte das mechanische Verhältnis zwischen Erholung und Kollaps des Industriezeitalters flexibilisiert werden. War der Human Motor Belastungen ausgesetzt, die ihn ermüdeten, wurden Stress und Stressbewältigung zum zentralen Dispositiv der auf Human Capital setzenden Dienstleistungsökonomien. Leistungssteigernde Erholung ist seither Ziel einer Körperpolitik und Selbstverpflichtung, die bis in die Stretch-Kleidung der Aerobic-Bewegung dem Prinzip Elastizität folgt. Wird nicht für adäquate Regeneration gesorgt, droht das Burnout. Aber nicht nur Individuen haben Stress, sondern auch Ökosysteme, Finanzmärkte und Atomreaktoren. Stresstests simulieren das Verhalten eines Systems unter Extrembedingungen und wissenschaftlich-technische Entlastungskonzepte generieren optimierte Systeme, die sich immer größeren Risiken gegenüber als "resilient", robust und adaptationsfähig erweisen. Folgenabschätzungen, Pufferzonen, Sollbruchstellen und Rückversicherungen sollen qua Antizipation den ständig drohenden Kollaps abwenden.

Ziel der Tagung ist es, aus historischer Perspektive Genese, Anschlussfähigkeit und Reichweite des Stresskonzepts in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu reflektieren. Welchen Transformationen unterlag die Beziehung zwischen Subjekt, Arbeit und Freizeit von den Konzepten einer rationellen Betriebsorganisation über die kybernetische Utopie einer Befreiung des Menschen durch Automation bis zum life-long learning, den Assessments und der Evaluationskultur in der postindustriellen Gesellschaft? Welche Konjunkturen hatten Konzepte des Belastungshaushalts, der Adaptation, des dynamischen Gleichgewichts und der flexiblen Stabilität innerhalb von biologischem, ökologischem, psychologischem und politischem Regulierungswissen? Mit welchen Maßnahmen und Selbstpraktiken hat man auf den Stress reagiert? Wie wurde Stress – als Funktionszusammenhang von Ressourcenökonomie und Leistungseffizienz – zu einem zentralen Konzept in so unterschiedlichen Gebieten wie der Ökosystemtheorie, der Toxikologie, der Materialforschung, im Katastrophenmanagement oder im Finanzwesen?

Die Tagung wird mit Unterstützung des Zentrums "Geschichte des Wissens" (ETH & Universität Zürich), der Professur für Technikgeschichte (ETH Zürich) und des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) durchgeführt.

Programm

Donnerstag, 8. März 2012

15.30 – 15.45 Begrüssung

Stress: Genealogie eines modernen Konzepts

15.45 – 16.30 Patrick Kury (Universität Bern): Vom Anpassungssyndrom zu den Techniken des Stressmanagements. Überlegungen zu einer Geschichte des Stresses

16.30 – 17.00 Pause

17.00 – 17.45 Hans-Georg Hofer (Universität Bonn): "Eine Provokation für Gesellschaft und Medizin": Westdeutsche Stressforschung in den 1970er Jahren

17.45 – 18.30 Mark Jackson (University of Exeter): Future Shock. Alvin Toffler and the Stress of Modernity

Freitag, 9. März 2012

Normale Katastrophen: Amplituden der Belastung

09.15 – 10.00 Robert Suter (Universität Konstanz): "Herz im Stress". Herzinfarkte in der deutschsprachigen Literatur

10.00 – 10.45 Anne Schreiber (Humboldt Universität zu Berlin): Stress und Emotionen: Überlegungen zu einer Geschichte der Gefühle

10.45 – 11.15 Pause

11.15 – 12.00 Torsten & Linda Heinemann (Goethe-Universität Frankfurt/Main): Burnout im historischen Wandel. Von arbeitsbezogenem Stress zu einer Diagnose mit Selbstoptimierungsauftrag

12.00 – 12.45 Brigitta Bernet (ETH Zürich): "High-Tech-Stress". Psychopathologische Zeitkommentare zur Leistungsgesellschaft

12.45 – 14.15 Mittagspause

Elastisches Gleichgewicht: Dynamische Anpassung und Psychopolitik

14.15 – 15.00 Heiko Stoff (TU Braunschweig): Vom Gammeln bis zur Wellness. Leistungsgesellschaft und Stressbewältigung seit den 1960er Jahren

15.00 – 15.45 Philipp Hauß (Universität Wien): "Das Paradies liegt unter 13 Hertz". Wellness – von der Ermüdung zur Information

15.45 – 16.15 Pause

16.15 – 17.00 Alexandra Rau (Goethe-Universität Frankfurt/Main): Stress im Zeichen der Psychopolitik

Samstag, 10. März 2012

Flexible Systeme: Rechnen mit der Umwelt

09.30 – 10.15 Lea Haller (ETH Zürich): Stress im Cockpit. Technologischer Wandel und die Grenzen physischer Anpassung

10.15 – 11.00 Susanne Bauer (Goethe-Universität Frankfurt/Main): Im Stress der Modernisierung. Sowjetische "Cyborgs" als Entwürfe der Anpassung an industrielle und klimatische Extreme

11.00 – 11.15 Pause

11.15 – 12.00 Sabine Höhler (KTH Stockholm): Stress und Resilienz der Ökosysteme. Konzepte einer Dienstleistungsökologie seit den 1970er Jahren

12.00 – 12.30 Abschlussdiskussion

Kontakt

Lea Haller

ETH Zürich, Institut für Geschichte
Clausiusstrasse 59 (RZ), CH-8092 Zürich
0041 (0)44 632 89 01

lea.haller@history.gess.ethz.ch

http://www.tg.ethz.ch