Tätowierungen sind zugleich in und unter der Haut, an einzelnen Körperstellen oder am ganzen Körper. In einer schmerzhaften Operation in die Haut gestochen, galten sie bis zur Erfindung der modernen Lasertechnologie als unauslöschlich und kennzeichneten ihre Träger über deren Tod hinaus. Es gab und gibt sie in ornamentaler und figuraler Form, bild-, schrift- und zahlenförmig, poly- oder monochrom, nicht selten in der Kombinatorik von Bild, Schrift und Zahl.
Die europäische Geschichte der Tätowierung ist eng mit der Geschichte der Sklaverei und mit der Frage verbunden, wie man Menschen zu „beseelten Besitzstücken“ und „Werkzeugen“ (Aristoteles), zu Zwangsarbeitern und effizienten Dienstleistern macht. In der griechischen Antike handelte es sich bei den Sklavenstigmata um die eintätowierten Namen des Herrn bzw. um Buchstaben, Ziffern oder symbolische Tierbilder, die, wie bei den Brandstempeln der Haus-, Zucht- oder Opfertiere, als Eigentumsmarke und identifizierendes Erkennungszeichen fungierten.
Die römische Sklavensieglierung im Gesicht war vor allem eine Strafpraxis für entlaufene Sklaven (F bzw. FUG für fugitivus), für Kriegsverbrecher, Kriminelle und Versklavte, die zum Tod auf Raten, zur Gladiatur oder zur Zwangsarbeit in den Minen verurteilt waren. In Frankreich, England oder den Vereinigten Staaten dienten tätowierte Kürzel der Straftaten (V = vagabond, M = malefactor, B = burglar u.a.) seit dem 17. Jahrhundert zu Identifizierung infamer Personen. Mit der Nummerntätowierung eignet sich die Kommandantur des Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau seit Herbst 1941 die Praxis der Straf- und Sklavensieglierung unter thanatopolitisch-bürokratischen Voraussetzungen an.
Bis in die nächste Gegenwart hinein gehört die Tätowierung in die Reihe der Prozeduren, Menschen eines „sozialen Todes“ sterben zu lassen, damit sie als „social nonpersons“ (Patterson) für eine unbestimmte Zeit weiterleben.
Es entspricht der Arbitrarität von Zeichen und Piktogrammen, dass Straf- und Sklaventätowierungen auch in einem inversen Sinne verwendet und die Bedeutung von Überlebens-, Schutz- und Freiheitszeichen annehmen können. Sie werden dann entweder als „Zeugnis“ verstanden und ausdrücklich bejaht oder aber in einem Akt der freiwilligen Tätowierung zur Stiftung einer neuen sozialen Identität und inklusiven Zugehörigkeit vorgenommen. Die antike Praxis der sakralen Sklaventätowierung weist den Sklaven als unter dem Schutz seines Gottes stehendes Eigentum aus. Als solchermaßen Losgekaufter wird er für profane Zugriffe unerreichbar. Paulus, der als „Sklave des Messias“ „die Stigmata Jesu“ an seinem „Leibe trägt“ (Gal 6, 17), lehnt sich an die antike Praxis der sakralen Sklaventätowierung und -befreiung an. In der Frühen Neuzeit lassen sich christliche Pilger bei Wallfahrten nach Palästina ehrenhalber mit christlichen Zeichen tätowieren.
Die neuzeitliche Begegnung mit fremdkulturellen Tätowierungspraktiken, allen voran mit der tahitianischen Tätowierungen, tatau, stellt zugleich eine Wiederbegegnung mit den vergessenen europäischen Tätowierungen dar. In seiner 1771 veröffentlichten Voyage autour de monde fühlt sich Louis-Antoine de Bougainville angesichts der tahitianischen Tätowierungen an die Pikten, die tätowierten Einwohner Britanniens erinnert, von denen Caesar in De Bello Gallico berichtet hatte. Ausgerechnet James Cook und seiner Crew, den Nachfahren der Pikten, sollte es vorbehalten sein, nicht nur die erste genaue Beschreibung der tahitianischen Technik nach Europa gebracht, sondern auch die Tradition des tätowierten Seemanns und damit eine europäische Tätowierungspraktik begründet zu haben, die randständige Personen (Seeleute, Kriminelle, Prostituierte) als identitätsstiftende Initiierung freiwillig auf sich nehmen, um einer inklusiven Gruppe anzugehören und sich vor anderen auszuzeichnen.
Die europäische Kulturgeschichte der Tätowierung ist, gerade auch in ihrer Verflechtung mit den Fremderfahrungen pazifischer Tätowierungspraktiken, inzwischen gut erforscht. Das belegen die einschlägigen Untersuchungen von Jane Caplan, Alfred Gell, Manfred C. Frank, Ulrike Landfester, Stefan Ottermann und vielen anderen.
Der Workshop möchte das Augenmerk indes auf drei spezifische Gesichtspunkte lenken: auf den Akt der Tätowierung, auf den Bild- bzw. Zeichenwert der Tätowierungen selbst und auf deren Lesbarkeit.
Es geht (I.) um die Gewalt, die mit dem tätowierenden Akt verbunden ist. Wie erleben und bezeugen die Tätowierten die degradierende oder aber initiierende Grenz- und Körpererfahrung, die durch Tätowierung zerstörte oder neu gestiftete Identität?
Ferner stehen (II.) die tätowierten Zeichen, Bilder und Zahlen selbst im Mittelpunkt. Inwieweit handelt es sich dabei um Pikto- bzw. Logogramme mit einem je spezifischen Befehls- und Steuerungspotential oder mit einem subversiven Gegensinn? Damit ist (III.) eng verbunden die Frage nach der besonderen Bedeutung, der Wahrnehmbarkeit und Lesbarkeit von Tätowierungen, und zwar in einer bestimmten sozialen Situation und ihrer historischen Transformation, für Tätowierte auf der einen und für Nicht-Tätowierte auf der anderen Seite. Für wen sind und bleiben die Tätowierungen lesbar und dechiffrierbar?
Und schließlich: Inwieweit betreffen diese Fragen zeitgenössische Tätowierungspraktiken?