Von der Kooperation zur Korporation. Die Gegenwart von Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft

Von der Kooperation zur Korporation. Die Gegenwart von Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft

Veranstalter
FernUniversität in Hagen
Veranstaltungsort
Ort
Hagen
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.09.2015 - 19.09.2015
Deadline
17.05.2015
Website
Von
Sven Ellmers / Steffen Herrmann

Hegels Überlegungen zur Theorie der bürgerlichen Gesellschaft sind heute wieder vermehrt Gegenstand der philosophischen Diskussion (Neuhouser 2000, Halbig/Quante/Siep 2004, Vieweg 2012, Herzog 2013). Das liegt daran, dass Hegel in seiner Analyse der aufkommenden Warengesellschaft nicht nur deren Defizite und Pathologien sehr detailliert und feinsinnig beschreibt, sondern auch deren verborgenen Potentiale und Möglichkeiten herausstellt. Die bürgerliche Gesellschaft, so Hegel, bringt nicht nur Armut und Entfremdung mit sich, sondern zugleich auch neue Formen der Freiheit und sozialen Verbundenheit. Diese doppelte Perspektive hat zur Folge, dass Hegels Kritik der Warengesellschaft nicht rückwärts-, sondern vielmehr vorwärtsgewandt ist: Sie möchte die emanzipativen Potentiale der bürgerlichen Gesellschaft zur Entfaltung bringen. Eine solche Entfaltung ist für Hegel aber nur durch den Übergang von einem kooperativen zu einem korporativen Gesellschaftsmodell zu haben, in welchem das zweckorientierte Miteinander in eine wechselseitige Interessiertheit verwandelt wird. Die Institution der Korporation bildet für Hegel entsprechend auch den normativen Fluchtpunkt seiner Überlegungen. Hegel spricht daher auch davon, dass die Korporation die eigentliche ‚sittliche Wurzel‘ der bürgerlichen Gesellschaft darstellt, insofern sich hier eben jenes ‚Bei-sich-selbst-Sein im Anderen‘ herauszubilden vermag, durch welches die Einzelnen ihr Miteinander als eine Form der Freiheit und der Selbstverwirklichung verstehen können. Das Vorhaben der geplanten Tagung besteht darin, diesen Gedanken Hegels aufzunehmen und ihn auf seine Potentiale und aktuellen Anschlussmöglichkeiten hin zu prüfen. Dabei vermag sich die Tagung auf eine Reihe von Diskussionssträngen zu beziehen, in welchen Hegels Idee der Korporation – teils explizit, teils implizit – ihre Aufnahme gefunden hat:

(i) Wirtschaftsphilosophie: Häufig ist herausgestellt worden, dass Karl Marx in seinen Frühschriften zwar nicht dem Begriff, wohl aber der Sache nach an das Modell der Korporation angeknüpft habe: Eine wahrhaft menschliche Produktionsweise setzt voraus, dass die Einzelnen füreinander als Bedürfniswesen produzieren und so einander ergänzen (vgl. Marx 1990). Produktion und Austausch müssen für Marx daher wesentlich partizipatorisch verfasst sein. Während für Marx damit eine Abschaffung des anonymen Steuerungselementes des Marktes verbunden ist, hat in neuerer Zeit Axel Honneth (2011) dafür argumentiert, dass auch der Markt als eine Sphäre sozialer Freiheit zu verstehen ist. Auch für ihn spielt dabei die Korporation eine wichtige Rolle, insofern ihr die Aufgabe zufällt, die gesellschaftlichen Akteure an die dem Markt vorauslaufenden Solidaritätsverpflichtungen zu erinnern und ihnen deutlich zu machen, dass der Markt nur unter der Bedingung seiner kollektiven moralischen Einhegung eine Sphäre der Selbstentfaltung zu sein vermag.

(ii) Sozialphilosophie: Auch für Émil Durkheim (1992) stellen die korporatistischen Berufsgruppen zunächst eine moralische Institution zur Einhegung des Marktes dar. Durkheims Überlegungen verleihen diesem Gedanken jedoch schon bald eine sozialphilosophische Wendung, insofern er sich vor allem für die Kohäsionskräfte innerhalb der Berufsgruppen interessiert. Sein Grundgedanke lautet dabei, dass sich deren Sittlichkeit nicht allein durch rationale Diskurse herausbildet, sondern vielmehr durch kultische Praktiken der Vergemeinschaftung: Das Ritual, das Spiel und das Fest stellen für ihn Orte kollektiver Efferveszenz zur Herausbildung übergreifender Gemeinschaftserfahrungen dar. An eben diesen Gedanke schließen in den 1930er Jahren die Mitglieder des Collège des Sociologie an. Dabei ist es vor allem Georges Bataille (1988), der im Anschluss an Hegel und Durkheim nach modernen Formen der sittlichen Vergemeinschaftung sucht. Seine Antwort lautet diesbezüglich, dass es gerade die der ökonomischen Produktivität entgegengesetzten Kräfte der Verschwendung, Zerstörung und Überschreitung sind, welche sozialen Zusammenhalt und damit ein regelgeleitetes Funktionieren der Gesellschaft sicherstellen. Im Anschluss an diese Überlegungen hat in jüngster Zeit vor allem Michel Maffesoli (2014) unter dem Stichwort des „Neo-Tribalismus“ für eine Wiederbelebung affektiver Formen der Vergemeinschaftung argumentiert.

(iii) Politische Philosophie: Antonio Gramsci (1991f.) hat Hegels Konzept der bürgerlichen Gesellschaft aufgenommen und ausgehend von der Idee der Korporation zum Konzept der Zivilgesellschaft umgearbeitet, indem er die Ökonomie aus-, dafür jedoch andere Instanzen wie die Familie, Vereine oder soziale Bewegungen in das Konzept eingeschlossen hat. Gramsci hat damit die folgenreiche Idee formuliert, dass für das politische System eine intermediäre Ebene konstitutiv ist, auf der sich die Bürger aktiv zu Interessengruppen zusammenschließen können, um für ihre jeweiligen politischen Anliegen einzutreten. Ausgehend von der Idee einer solchen intermediären Sphäre hat sich in den 1980er Jahren das Konzept des Neokorporatismus etabliert, das explizit an Hegels Idee der Korporation anschließt. Dabei steht im Mittelpunkt der Arbeiten von Philippe Schmitter und Wolfgang Streeck (1999) die Überzeugung, dass Verbände eine eigenständige Sphäre der gesellschaftlichen Ordnung jenseits von Markt und Staat bilden. Ausgehend hiervon gehen sie insbesondere der Frage nach, wie kollektive Verbände Einzelinteressen transformieren, welcher Logik sie in wechselseitigen Aushandlungsprozessen folgen und wie sie als Teil eines sittlichen Regierungshandelns verstanden werden können. In jüngster Zeit wird dabei vor allem die Frage diskutiert, inwiefern eine neokorporatistische Politik den Herausforderungen des globalen Neoliberalismus überhaupt noch gewachsen sein kann (Crouch/Streeck 2006).

Die wissenschaftliche Zielstellung der geplanten Tagung verfolgt im Anschluss an die drei genannten Diskussionsstränge das Ziel, die Aktualität von Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft deutlich zu machen. Hegels Überlegungen, so wird zu zeigen sein, bieten eine originelle Antwort auf die aktuellen Herausforderungen von Markt, Gesellschaft und Politik. Ihre Pointe besteht nämlich gerade darin, diese Problemfelder nicht losgelöst voneinander zu verhandeln, sondern in und durch die Institution der Korporation miteinander zu verknüpfen. Sittlichkeit, so zeigt uns Hegel, kann nur dann erlangt werden, wenn Markt, Gesellschaft und Politik durch eine korporatistische Gesellschaftsordnung miteinander in Einklang gebracht werden. Indes ist nicht zu erwarten, dass ein solcher Einklang an die institutionellen Lösungen gebunden ist, die Hegel vor etwa 200 Jahren vor Augen standen. Vielmehr stellt sich die Frage, wie unter den gegenwärtigen Bedingungen ein die korporative Grundidee aufnehmendes Arrangement gemeinsamer Freiheit aussehen könnte und welchen Beitrag hier die vielfältigen Anschlüsse an Hegels Korporationslehre leisten. Die Tagung sucht nach Antworten auf diese Fragen, indem sie nicht nur die disziplinären Grenzen innerhalb der Philosophie überschreitet, sondern – auch dies ganz im Sinne Hegels – den Kontakt zu den empirischen Wissenschaften aktiv sucht.

Literatur:
Bataille Georges (1988), “Hegel, la Mort et le Sacrifice.” 1955. Œuvres Complètes. Paris: Gallimard, Vol. 12, 326–45.
Crouch, Colin und Wolfgang Streeck (Hg.) (2006), The Diversitiy of Democracy. Corporatism, Social Order and Political Conflict, Cheltenham.
Durkheim, Émile (1893/1992), Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt/Main.
Gramsci, Antonio (1991ff), Gefängnishefte, 10 Bände, Hamburg.
Halbig, Christoph, Michael Quante und Ludwig Siep (Hg.) (2004), Hegels Erbe, Frankfurt am Main.
Herzog, Lisa (2013), Inventing the Market. Smith, Hegel, and Political Theory, Oxford.
Honneth, Axel (2011), Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, Berlin.
Maffesoli, Michel (2014), Die Zeit kehrt wieder: Lob der Postmoderne, Berlin.
Marx, Karl (1990), Marx, Karl, „Auszüge aus James Mills Buch ‚Éléments d’économie politique‘“, in: Marx Engels Werke, Bd. 40, Berlin.
Neuhouser, Frederick (2000) Foundations of Hegel 's Social Theory. Actualizing Freedom, Cambridge 2000.
Streeck, Wolfgang (1999), Korporatismus in Deutschland. Zwischen Nationalstaat und Europäischer Union, Frankfurt/Main.
Vieweg, Klaus (2012), Das Denken der Freiheit. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, Paderborn.

Mit Vorträgen von Heike Delitz, Andreas Hetzel, Hannes Kuch, Hans-Christoph Schmidt am Busch, Timo Jütten, Dirk Quadflieg und Klaus Vieweg.

Bitte senden Sie Vorschläge in Form eines ca. 500 Wörter umfassenden Abstracts für einen Vortrag von max. 30 Minuten bis zum 17.05.2015 an steffen.herrmann@fernuni-hagen.de oder sven.ellmers@uni-oldenburg.de. Über eine Zusage wird innerhalb eines Monats entschieden.

Konzept und Organisation:
Dr. Steffen Herrmann, Dr. Sven Ellmers

Programm

Kontakt

Sven Ellmers

Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Institut für Philosophie, 26111 Oldenburg

sven.ellmers@uni-oldenburg.de


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