Mathematik und Kunst sind zwar als Disziplinen in der Regel weit voneinander entfernt. Am deutlichsten zeigt dies die Ausrichtung der Mathematik am formalen, wissenschaftlichen Beweis. Sie begegnen sich allerdings als Ordnungsformen des Sinnlichen, dort, wo sie unabhängig von der Wortsprache formale Experimentierfelder und symbolische Handlungsräume entwerfen. Das Symposium »Kalkül und Ästhetik« betrachtet die Beziehung zwischen mathematischen und ästhetischen Denkweisen und deren Begegnung in bildender Kunst, Musik und Literatur. Drei Fragestellungen stehen im Mittelpunkt:
Kreativität
Von Beginn an liegt in der Mathematik ein Bruch mit der materiellen Wirklichkeit. Sie richtet sich auf abstrakte Strukturen, entwirft autonome Darstellungs- und Regelsysteme, deren Eigenschaften sie untersucht. Auf diese Weise entsteht ein Formenkasten, der es wiederum erlaubt, die Welt zu ordnen und alternative Wirklichkeitszugänge zu schaffen. Diese eigentümliche Kreativität und formschaffende Kraft des Mathematischen kann in Konkurrenz oder Ergänzung zur Imagination des Künstlers treten. Beispiele hierfür sind etwa die Perspektivkonstruktion der klassischen Ölmalerei, Kasimir Malewitschs Schwarzes Quadrat (1915) oder die literarischen Experimente der Gruppe Oulipo. Was ist die Kreativität des Mathematischen?
Faszination
Aufgrund ihrer Zuverlässigkeit war die Mathematik stets das unbestrittene Vorbild für andere Wissenschaften. Zugleich wurde die Eleganz und Regelmäßigkeit mathematischer Objekte immer auch ästhetisch bewundert. Hiervon zeugt der vielfache Gebrauch, den die Künste von den Proportionen des Goldenen Schnitts gemacht haben, oder auch die Fraktaldarstellungen in Wissenschaftsmagazinen. Von den antiken Pythagoräern bis zu Darren Aronofskys Film Pi (1998) wurden solche Eigenschaften aber auch zum Ausgangspunkt mystischer und esoterischer Weltsichten. Gibt es eine Faszination am Formalen und woher kommt sie?
Kritik
Dort, wo sich die Kunst dem Mathematischen annähert, wird ihr oft vorgeworfen, zentrale Werte der Kunst aufs Spiel zu setzen: die Unberechenbarkeit ästhetischer Prozesse, inhaltliche Tiefe, Imagination oder Emotion scheinen unvereinbar mit formaler Durchkonstruiertheit. Umgekehrt hat auch die Kunst die Grenzen mathematischen Denkens zum Thema gemacht: Marcel Duchamps Arbeit 3 stoppages étalon (1913-14) setzt die Idee der idealen geometrischen Linie in einer experimentellen Anordnung dem Zufall aus. Die Geometrie wird hier mit einer Kritik konfrontiert, die sich in mathematischen Parametern nicht mehr fassen lässt. Was sind die Möglichkeiten und Grenzen mathematischer Verfahren?
Teilnehmer: Martin Beck (Philosoph, Berlin), Gerard Caris (Bildender Künstler, Maastricht/Niederlande), Juan Luis Gastaldi (Professor für Philosophie und Ästhetik, École Supérieure des Beaux Arts Montpellier Agglomération, Montpellier/Frankreich), Christian Grüny (Philosoph, Gastwissenschaftler am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, Frankfurt am Main), Oswald Egger (Autor, Professor für Sprache und Gestalt an der Muthesius Kunsthochschule Kiel, Kiel), Gunnar Geisse (Improvisator und Komponist, Interpret, München), Kristen Haring (Wissenschafts- und Technikhistorikerin, Stanford University, CA/USA), Sybille Krämer (Professorin für theoretische Philosophie am Institut für Philosophie, Freie Universität Berlin, Berlin), Herbert Mehrtens (Professor für Neuere Geschichte, Technische Universität Braunschweig, Braunschweig), Dieter Mersch (Leiter des Instituts für Theorie der Zürcher Hochschule der Künste, Zürich), Robert Tubbs (Associate Professor, Department of Mathematics, University of Colorado Boulder, Boulder, CO/USA), Jan Wöpking (Philosoph, Berlin).
Eine Veranstaltung im Rahmen des Programms art, science & business der Akademie Schloss Solitude. In Kooperation mit dem Institut für Theorie der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) und dem DFG-Graduiertenkolleg 1539 »Sichtbarkeit und Sichtbarmachung. Hybride Formen des Bildwissens« der Universität Potsdam.
Konzeption: Martin Beck, Dieter Mersch, Akademie Schloss Solitude.
Initiiert von Martin Beck.