Nur eine äußerst geringe Minderheit der mittelalterlichen Gesellschaft verfügte über Bildung oder die Möglichkeit, Bildung zu erwerben. Während zunächst der Klostereintritt fast den einzigen Zugang zu Bildung darstellte, sorgten erst die Errichtung von Ausbildungsstätten im Kontext des Renaissance-Humanismus im 15. Jahrhundert (in Teilen Europas) sowie die Reform der Schul- und Universitätslandschaft während der Reformationszeit (im Reich) für eine nennenswerte, in Relation zur frühen Neuzeit jedoch wiederum bescheidene Veränderung. Das Gros der mittelalterlichen Gesellschaft setzte sich daher zweifellos aus Illiteraten zusammen, die folglich nicht einmal ihre eigene Volkssprache beherrschten – geschweige denn das Lateinische, das gleichsam Medium für Bildung und Wissenschaft war.
Dass sich die Forschung bislang hauptsächlich auf die Gelehrten in unterschiedlichen Zeiträumen konzentriert hat, erklärt sich bereits aus dem Faktum, dass sie es sind und waren, die die kulturelle Entwicklung von Gesellschaften nachhaltig prägten. Auch für Bildung, Wissen etc. insgesamt ist eine breite Forschung zu konstatieren, für das Themenspektrum ‚Dummheit‘ hingegen gibt es im Lexikon des Mittelalters nicht einen Artikel, die Literaturdatenbank der Regesta Imperii listet nur vier Veröffentlichungen älteren Datums. Die im Herbst 2016 in Marburg geplante Tagung möchte daher den Versuch unternehmen, den Blick zu richten auf jene Personen, die von Zeitgenossen als ‚dumm‘ charakterisiert wurden. Der Zugang zu formaler Bildung ist in diesem Kontext sicher nur ein, hier exemplarisch genannter Aspekt unter den vielen, die im Rahmen der Tagung berücksichtigt werden sollen – oder mit anderen Worten: ‚Dummheit‘ ist sicher mehr als nur Unbildung. Daher ist zunächst zu fragen, wer von wem und aus welchen Gründen bzw. mit welcher Intention als ‚dumm‘ charakterisiert wurde. Galt ein Illiterat gleich als ‚dumm‘ – oder anders: gab es auch ‚dumme‘ Gelehrte? Welches Vokabular wird in Quellen zur Umschreibung von Dummheit verwendet? Durch welche Verhaltens- oder Lebensweisen galt jemand seinen (ausschließlich gelehrten?) Zeitgenossen als ‚dumm‘? Bot dieses Merkmal stets Anlass zur Diffamierung des Anderen oder sind auch weniger negative Konnotationen auszumachen?
Um Kontinuitäten sowie Unterschiede herausstellen zu können, ist der zeitliche Rahmen bewusst weit gefasst, so dass das gesamte Mittelalter (ca. 500 bis ca. 1500) in den Blick genommen werden soll. Da vermutlich ein Großteil der als ‚dumm‘ zu charakterisierenden Personen nicht alphabetisiert war, folglich auch keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen konnte, stellt sich die Frage nach passenden Quellenkorpora. Um auch hier Vergleiche ziehen zu können, soll eine möglichst große Bandbreite verschiedener literarischer Gattungen angestrebt werden. Vorschläge zu sämtlichen Textsorten (theologische, historiographische, hagiographische, poetische Texte ebenso wie normative Quellen wie weltliche und geistliche Rechtstexte usw.) sind daher willkommen!