Verzeihen – Versöhnen – Vergessen

Verzeihen – Versöhnen – Vergessen

Veranstalter
PD Dr. Takemitsu Morikawa, Kultur- und Sozialwissenschaftliche Fakultät, Universität Luzern, Switzerland
Veranstaltungsort
Luzern
Ort
Luzern
Land
Switzerland
Vom - Bis
04.03.2016 - 05.03.2016
Deadline
20.11.2015
Website
Von
Morikawa, Takemitsu

Georg Simmel schrieb einst: „Es liegt im Verzeihen, wenn man es bis in den letzten Grund durchzuführen sucht, etwas rational nicht recht Begreifliches“. Das Thema „Verzeihen“ ist in den Human- und Sozialwissenschaften – Theologie, Philosophie, Psychologie, aber auch Politologie und Rechtswissenschaft – Gegenstand zahlreicher Diskussionen. Philosophen und Theologen kommen immer wieder auf die jüdisch-christliche Tradition des Konzepts zurück. Verzeihen kann als eine anthropologische Konstante des menschlichen Zusammenlebens, als ein Universalphänomen aufgefasst werden, das seine Allgemeingültigkeit daran knüpft, dass Menschen fehlbar sind. In diesem Sinne verliert das Thema niemals an Aktualität, weder in den lokalen Gesellschaften noch in der immer stärker globalisierten und konfliktreicheren Weltgesellschaft.

In der hier angekündigten Tagung soll das Thema Verzeihen im Mittelpunkt der Diskussion stehen – und zwar nicht im theologischen, sondern im zwischenmenschlichen, d.h. diesseitigen Sinne. Diese Fragestellung verbindet zwei große Themenkomplexe: Erinnern/Vergessen auf der einen, Versöhnung auf der anderen Seite. Im Zusammenhang mit Erinnerungskultur und Holocausterinnerung haben sich die europäischen Humanwissenschaften seit mehreren Jahrzehnten mit der Relevanz der Erinnerung beschäftigt. Angesichts des inflationären Ge- und Missbrauchs derselben („Vergangenheitspolitik“) verschiebt sich jedoch gegenwärtig der Fokus auf die Gegenseite des Erinnerns: das Vergessen. Auf die Relevanz und Nützlichkeit des Vergessens für das menschliche Zusammenleben hat Nietzsche hingewiesen. Verzeihen setzt Vergessen voraus, ja, Verzeihen ist sogar ein „aktives“ Vergessen (Paul Ricœur). Vergessen und Verzeihen werden sowohl als Konfliktlösung als auch als Voraussetzung für eine Versöhnung in einer Postkonfliktsituation und nach einem Systemwechsel postuliert, insbesondere dann, wenn die reine Reziprozität bzw. rücksichtlose Anwendung von Regeln und Gesetzen mehr Schaden für die Betroffenen verursachen würden. Jede Strafform enthält neben der Ritualisierung von Buße immer auch ein Spannungsverhältnis zwischen Erinnern und Vergessen. Hier ist auch zu berücksichtigen, dass das Verzeihen eng mit dem Ver- und Aussöhnen zwischen Konfliktparteien sowie zwischen „Täter“ und „Opfer“ zusammenhängt. Verzeihen ist eine unentbehrliche Voraussetzung für Aussöhnung. Insoweit Menschen fehlbar sind und soziale Beziehungen zerbrechlich sind, ist das menschliche Zusammenleben ohne Verzeihung schwer vorstellbar.

Trotz seiner großen Reichweite scheint das Thema Verzeihen der Soziologie bisher eher fremd geblieben zu sein. Dabei liegt aus dem oben Genannten die Vermutung nahe, dass das Verzeihen eine unverzichtbare Kategorie der Sozialtheorie darstellt, deren gesellschaftsfundierendes Potenzial bislang kaum systematisch ausgedeutet wurde. So „unnatürlich“ und „asozial“ das Verzeihen in philosophischer Hinsicht auch sein mag (Jacques Derrida und Klaus-Michael Kodalle), wurde und wird es überall und zu allen Zeiten in verschiedenen Formen praktiziert. Als Wirklichkeitswissenschaften müssen Soziologie, Kulturwissenschaften und Ethnologie sich mit dieser Tatsache auseinandersetzen. Es stellen sich beispielweise folgende Fragen, die sich für die hier angekündigte Tagung als Diskussionspunkte anbieten:

1. Wie wird die Verzeihung in einem bestimmten Kulturkreis ritualisiert und institutionalisiert – man denke etwa an die Beichte in der katholischen Kirche, die Sippenstrafe oder die Ausgleichszahlung? Gibt es auf der semantischen Ebene Unterschiede? Wer kann wem für welchen Schaden verzeihen und wann? Gibt es kulturelle Differenzen, die die gegenseitige Versöhnung erschweren? Korreliert die semantische Variation der Verzeihung auch mit gesellschaftlichen – segmentären, stratifikatorischen oder funktionalen – Differenzierungen?

2. Die moderne Gesellschaft verfügt dank der Massenmedien, der digitalen Medien im Besonderen, über ein sehr gutes Gedächtnis, in dem alles gespeichert und nichts vergessen, das Erinnerte aber gleichzeitig standardisiert wird. Unter den modernen medientechnischen Bedingungen, so die Folge, wird Vergessen und Verzeihen darum immer schwieriger. Wenn dies stimmt, wie ist Verzeihen unter den modernen technischen Bedingungen dann überhaupt noch möglich? Welche Rituale und Institutionen der Verzeihung gibt es in der modernen Gesellschaft?

3. Trotz der oben genannten allgemeinen Tendenz gibt es in modernen Funktionssystemen verschiedene Formen der Institutionalisierung des Verzeihens. Im Rechtssystem sind z. B. Jugendstrafrecht, Täter-Opfer-Ausgleich, die restaurative Justiz und die Gnade als Form der Verzeihung anzuführen. Im Wirtschaftssystem besitzt der Schuldenerlass einen ähnlichen Stellenwert. Welche Institutionen der Verzeihung sind in anderen Funktionssystemen vorstellbar und als solche zu beschreiben?

4. Nach einem Systemwechsel und einem Friedensschluss war es bis ins 19. Jahrhundert üblich, Amnestie zu gewähren und die Taten, die zuvor begangen worden waren, nicht zu kriminalisieren. Kriegsverbrechertribunal und Wahrheitskommission folgen hingegen dem Muster der strafrechtlichen Verfolgung und gehen von der Annahme aus, dass die Übeltaten nicht vergessen werden dürfen und Erinnerung und Strafe für die Aussöhnung eine konstruktive Rolle spielen sollten. Können Vergessen und Verzeihen jedoch tatsächlich zur Versöhnung und Vergangenheitsbewältigung in einer Postkonfliktsituation beitragen? Wie viel Wahrheit braucht Versöhnung?

Die Tagung strebt eine systematische Zusammentragung der Erkenntnisse über die oben genannte Thematik hinaus an. Außerdem soll sie zur Frage nach der Grenze des Sozialen einerseits und der theoretischen und empirischen Konzipierung des Problemzusammenhangs Verzeihen/ /Versöhnen/Vergessen andererseits beitragen. Die Beiträge sollen in Form eines Sammelbandes publiziert werden.

Es wird bis zum 20. November 2015 um die Einsendung von Referatsvorschlägen (max. 1 Seite) gebeten, zu richten an:
PD Dr. Takemitsu Morikawa, Universität Luzern, Soziologisches Seminar, Frohburgstrasse 3, PF 4466, CH 6002 Luzern, (takemitsu.morikawa@doz.unilu.ch)

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