Andere Ökologien

Andere Ökologien

Veranstalter
Prof. Dr. Iris Därmann und Stephan Zandt, M.A.; SFB 644 "Transformationen der Antike", Teilprojekt A14: "Natur/Kultur: Zur Transformationsgeschichte einer mythischen Grenzziehung"
Veranstaltungsort
Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Kulturwissenschaft, Georgenstraße 47, Raum 4.30 und 0.12
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.11.2015 -
Website
Von
Stephan Zandt, M.A.

1703 wies der französische Offizier Louis-Armand de Lahontan in seiner Reisebeschreibung erstmals auf die Gewohnheit der nordamerikanischen Ureinwohner hin, ihre Clans und Territorien mithilfe von Tiersymbolen zu bezeichnen, und verglich diese Bezeichnungspraktik mit der Heraldik europäischer Adelsgeschlechter. Ähnliche Beobachtungen finden sich 1724 auch in Joseph François Lafitaus Mœurs des Sauvages amériques, der die Praxis der Irokesen, Huronen und Algonkin, ihren Stämmen die Namen Wolf, Bär und Schildkröte zu geben, mit den Sitten des Altertums gleichsetzt, Völker, Besitztümer und Ländereien mit den Namen und Emblemen von Tieren zu bezeichnen. Der britische Pelzhändler, Dolmetscher und Waldläufer John Long, der mehr als zwanzig Jahre im Gebiet der Großen Seen verbrachte und in dieser Zeit den Schutzgeistglauben der Ojibwa kennenlernen sollte, spiegelte in seinem 1791 veröffentlichen Reisebericht den „Totamismus“ (sic) der Jagd- und Wildbeutergesellschaften Nordamerikas in den abergläubischen Beziehungen, die der „gemeine Mann“ Europas zu seinen eigenen Haustieren und nicht zuletzt der Bankier Samuel Bernhard am Hof Ludwigs XV. zu seiner schwarzen Henne unterhalten habe, deren Tod das Ende seines eigenen Lebens bedeutete.

Die Weichen für den erstaunlichen Aufstieg des Totemismus wurden augenscheinlich im 18. Jahrhundert gestellt. Das markierte zugleich den Beginn der vergleichenden Ethnographie: einmal durch die Spiegelung indianischer Bezeichnungspraktiken und Glaubensvorstellungen in den Usancen der Alten Welt und ihren zeitgenössischen europäischen Varianten, das andere Mal durch die Vorwegnahme zweier Problemstränge des Totemismus, erstens der signifikativen und zweitens der verwandtschaftlichen Rolle, die Tiere und Pflanzen für die Organisation von Clans, Heiratsklassen, sexuellen Differenzen, mithin für die Organisation der sozialen Welt einschließlich der Toten und Geister spielen können. Die frühen und späteren Protagonisten des amerikanischen und australischen Totemismus, John F. M Lennan, William Robertson Smith, Edward B. Tylor, W.H.R. Rivers und Andrew Lang, Baldwin Spencer und Francis J. Gillen, Carl T.F. und Theodor G.H. Strehlow, A.P. Elkins, Franz Boas, Bronislaw Malinowski oder Arnold van Gennep, zollten den Verwandtschafts- und Identifizierungsbeziehungen zwischen Menschen, Tieren und Pflanzen ihre Aufmerksamkeit, ohne sie, wie James Frazer oder gar Lucien Lévy-Bruhl, geradewegs als Symptome eines irregeleiteten oder prälogischen und primitiven Denkens zu diskreditieren. Auf dieser Linie sollten sich noch Émile Durkheim und Sigmund Freud bewegen, zu einer Zeit, da der Totemismus durch die kritischen Studien von Salomon Reinach, Alexander Goldenweiser und Alfred R. Radcliffe-Brown als menschheitsgeschichtliches Problem und kategoriale Einheit bereits in Misskredit geraten war: Durkheim und Freud ersetzten die Totem der indianischen und australischen Institutionen durch ihr eigenes Totem – die Gesellschaft bzw. den Urvater. Sie lösten das Identifizierungsproblem, indem sie es als falsches bzw. entstelltes Denken werteten, das nach soziologischer bzw. psychoanalytischer Richtigstellung verlangte.

Es hat daher seine Berechtigung, dass Claude Lévi-Strauss in Le Totémisme aujourd’hui den Totemismus als eine ethnologische Konstruktion entlarvt, mit der die Anderen wegen ihrer Naturzugehörigkeit verschiedener gemacht werden sollten, als sie sind. Anstelle des Identifizierungsproblems rückt er selbst das hinsichtlich des ‚othering‘ unverdächtigere Benennungsproblem ins Zentrum seiner Untersuchungen. Die signifikative Funktion des Totemismus führt ihn auf die Fährte der Klassifikation, der Homologie differentieller Abstände zwischen natürlichen und kulturellen Klassen, die in einem kohärenten logischen System mit beinahe unbegrenzter Ausdehnungs- und Transformationsfähigkeit vom Prinzip der Gleichwertigkeit bestimmt sind. Was aber impliziert die Gleichwertigkeit von Menschen, Tieren oder Pflanzen, sofern sie in den totemistischen Institutionen Australiens, Nord- und Südamerikas und Europas nicht nur in einem metaphorischen, klassifizierenden und spekulativen Sinne gedacht, sondern zugleich auch gelebt, das heißt als Metamorphose, Anamorphose, Transformation, Mutation, personale Beziehungsform oder als Perspektivismus praktiziert wird?

In jüngster Zeit haben die ethnologischen und anthropologischen Untersuchungen etwa Viveiros de Castros, Marilyn Stratherns, Tim Ingolds und Philippe Descolas‘ den Blick für die „Ökologien der Anderen“ und ihre Mensch-Tier-Konstellationen geöffnet. Sie stellen die universale Reichweite der europäischen Grenzziehungen und hierarchischen Gegensätze von Natur und Kultur, Wildheit und Domestikation, Menschen und Nichtmenschen in Frage. Ihre Untersuchungen erlauben zugleich einen neuen Zugang zum Totemismus, zur Vielfalt seiner heterogenen Formen, Praktiken, Ästhetiken und Beziehungsmodi und nicht zuletzt zu einem neuen Verständnis der zu Grunde liegenden Ökologien, Kosmologien und Ontologien.

Im Mittelpunkt des Workshops soll die Ethnographie- und Transformationsgeschichte des Totemismus stehen, jedoch nicht so sehr unter dem Gesichtspunkt ihres disziplinären Aufstiegs und Falls. Es geht vielmehr um die Geschichte der Fremderfahrungen und Fremddarstellungen der „Ökologien der Anderen“: Welches Wissen über andere Mensch-Tier- und Mensch-Umwelt-Beziehungen eröffnet die Ethnographiegeschichte des Totemismus und eröffnen ihre zeitgenössischen Interpretationen zumal? Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Transformationsgeschichte des Totemismus: Konnten die Tierembleme, Tierfiguren und die Heraldik der Alten Welt und der Neuzeit in den Reiseberichten des 18. Jahrhunderts als Spiegel des indianischen „Totamismus“ fungieren, so stellt sich auch hier die Frage nach anderen, freilich historisch signifikanten Ökologien: Kann diese totemistische Indianisierung Europas zu einem besseren Verständnis der politischen Zoologien und Philosophien seit der Antike beitragen? In welchen Praktiken, Kontexten, Narrativen, politischen Regimen, Darstellungs- und Beziehungsmodi sind totemistische Mensch-Tier-Beziehungen in Europa virulent? Durch welche Transformationsprozesse und -ereignisse werden sie wiederum marginalisiert oder moduliert?

Programm

10.00 – 11.00 Uhr
Michael Waltenberger
Postlapsare Ökologie: Adam und Eva, Wolf und Fuchs im ›Roman de Renart‹

11.00 – 12.00 Uhr
Robert Felfe
Vom künstlichen Leben niederer Tiere. Eine vergessene Ökologie mitten im Europa der Frühen Neuzeit

12.00 – 13.00 Uhr
Iris Därmann
»zum schmuck zerstochen«, »mit stüpffelein gezieret«. Zur Bildpolitik der Tätowierung in der Frühen Neuzeit

13.00 - 14.00 Uhr
Pause

14.00 – 15.00 Uhr
Stephan Zandt
»Their attire is the skinnes of Beares, and Woolves«. Thomas Hobbes, John Smith und die theatrale Macht der Tiere

15.00 – 16.00 Uhr
Robert Kindler
Robben töten. Praktiken und Beobachtungen im Nordpazifik um 1900

16.00 - 16.30 Uhr
Pause

16.30 – 17.30 Uhr
Michael Kauppert
Umschließen oder Versammeln? Beobachtungen am Gesellschaftsbegriff angesichts seiner ethnologischen Provokation

17.30 – 18.30 Uhr
Julian Baller
Transformationen wilden Begehrens. Géza Roheims Ethnopsychoanalyse

18.30 - 19.00 Uhr
Pause

19.00 – 20.00 Uhr (EG, Raum 0.12)
Stephanie Zehnle
Verspeisen und Wiedergebären? Leopardenmenschen als Katalysatoren westafrikanischer Initiation

20.00 – 21.00 Uhr (EG, Raum 0.12)
Heike Behrend
Katholiken, der heilige Geist und sein Anderes: Zur Transformation von Tiergeistern in Westuganda

Filmscreening: »Satan Crucified« (Regie: Heike Berend, Armin Linke, 2002)

Kontakt

Stephan Zandt

SFB 644 Transformationen der Antike, Humboldt-Universität zu Berlin, Mohrenstr. 40/41, 10117 Berlin

zandt@culture.hu-berlin.de


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Sprach(en) der Veranstaltung
Deutsch
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