Historische Perspektiven auf die Essentialisierung und Biologisierung von Geschlecht - Interdisziplinäres Symposium // Historical Perspectives on Essentialisation and Biologisation of Gender - Interdisciplinary Symposium

Historische Perspektiven auf die Essentialisierung und Biologisierung von Geschlecht - Interdisziplinäres Symposium // Historical Perspectives on Essentialisation and Biologisation of Gender - Interdisciplinary Symposium

Veranstalter
Arbeitskreis für Historische Frauen- und Geschlechtergeschichte (AKHFG): Maren Lorenz (RUB), Muriel González (RUB), Falko Schnicke (GHI London)
Veranstaltungsort
Ruhr-Universität Bochum
Ort
Bochum
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.07.2017 - 07.07.2017
Deadline
30.09.2016
Von
Lorenz, Maren

Die aktuellen Debatten um Geschlecht und Geschlechterverhältnisse finden vor dem Hintergrund zweier Entwicklungen statt: Zum einen hat sich die Kategorie Geschlecht nach heftigen Auseinandersetzungen inzwischen als Teil des wissenschaftlichen Kanons etabliert. Sie ist sowohl in methodischen, theoretischen wie empirischen Überlegungen zu einer intersektionalen oder relationalen Kategorie arriviert. Diese Etablierung wie auch die gegenwärtige Aufwertung der Kategorie Geschlecht als Bestandteil und Grundlage von Exzellenzprogrammen heißt allerdings nicht, dass sie nicht auch immer noch additiv als statistische Größe oder in beschreibender Perspektive verwendet wird. Zum anderen hat sich in den letzten Jahren unter dem Argument einer angeblich falsch verstandenen Gleichberechtigung eine so genannte „Anti-Genderismus“-Debatte in der politischen Diskussion konsolidiert, die stellenweise Züge eines Kulturkampfes annimmt. In häufig aggressivem Ton artikuliert sie reaktionäre Positionen, nach denen das Geschlecht eines Menschen weitgehend biologisch bestimmt sei und nicht zu hinterfragende, als „natürlich“ und „gesund“ ausgegebene, meist patriarchal-hierarchische Lebensweisen legitimiert – wenn nicht sogar eingefordert – werden. Diese „Fakten“ zu ignorieren, so die „Anti-Gender-Aktivist/innen“, führe sowohl das Individuum als auch die Gesellschaft in die Irre.
Zunehmend werden aus diesen Positionen Angriffe gegen die Genderforschung und einzelne Vertreter/innen abgeleitet, die weit über die wissenschaftliche Debatte hinausgehen und dabei die Deutungshoheit über zentrale gesellschaftliche Rahmenbedingungen beanspruchen. Gerade weil sich die Geschlechterforschung von Anfang an als gesellschaftskritischer Ansatz verstand, fordern diese konträren Entwicklungen aktuell heraus, ihre Konzepte und Diskurse in historischer Perspektive neu zu positionieren.

Eine der bekanntesten Konzeptualisierungen formulierte Joan W. Scott 1986 („Gender: A Useful Category of Historical Analysis”), als sie gender zur sozial organisierten Beziehung erklärte. Dieser dekonstruktivistische Ansatz rückte den relationalen Charakter normativer Definitionen („perceived differences“) von Weiblichkeit und Männlichkeit in den Fokus. Damit wurde der Blick von Frauen als Geschlechtskollektiv hin zu den sozialen Verhältnissen verschoben, die in ihren jeweils historisch spezifischen Zusammenhängen untersucht werden sollten. In ihrem Millennium-Aufsatz von 2001 („Millennial Fantasies“) bekräftigte sie diesen Ansatz, auch wenn sie gender nicht länger als nützliche Kategorie betrachten will. Scott sieht den Begriff durch den unkritischen Gebrauch in Politik und Wissenschaft nicht länger in der Lage, anti-affirmativ zu funktionieren und biologische Determinierungen kritisieren zu können - ein Problem, das dem deutschen Terminus Geschlecht von Anfang an inhärent war.
Historiker/innen aber auch Forscher/innen anderer Disziplinen gingen immer wieder auf die Suche nach den historischen Konsolidierungsprozessen der ideologischen Geschlechterdiskurse und ihren sozialen Praxen. Die Naturalisierung, Essentialisierung und Biologisierung von Körperwissen und kulturellen Praktiken, empirischen Beobachtungen und Sehgewohnheiten, Blickregimes und physischen Gegebenheiten waren dabei zentrale Gegenstandsbereiche. Das Ziel bestand und besteht darin, ontologische Konzepte von Geschlecht zu dekonstruieren, zu historisieren und so letztendlich zu entnaturalisieren. Historisch betrachtet manifestieren sich Körperkonzepte immer in sozialen, rechtlichen, medizinisch-technologischen und ökonomischen Praktiken, aber auch in Institutionen und Infrastrukturen. Vergeschlechtlichte Körper werden so zur Schnittstelle politisch-normativer Interventionen und Zuschreibungen die ein biopolitisches Beziehungsgeflecht zwischen Machtprozessen, Wissens- und Subjektivierungspraktiken sichtbar machen. Wann und wie Geschlecht derartig ontologisiert wurde und wird, stellen dabei weiterhin die Leitfragen der Forschung dar.

Hieran soll das Symposium des AKHFG anknüpfen, um Bilanz zu ziehen und über die Gegenwart und Zukunft der historischen Geschlechterforschung zu diskutieren. Gefragt werden soll nach der Geschichte der Mechanismen der Biologisierung bzw. Naturalisierung von Geschlechtermodellen in den Lebens- und den Kultur- und Sozialwissenschaften, nach dem Wandel von Objektivierungs- und Subjektivierungsprozessen, sowie der Formierung biopolitischer Dispositive. Nicht zuletzt soll auch die These diskutiert werden, die Genderforschung sei in Teilen an ihrer eigenen Dezentralisierung in den einzelnen Wissenschaftsfeldern mit verantwortlich. Als gemeinsame Klammer im Sinne einer Fokussierung wünschen wir uns historische Vorträge, die die Reflexion über theoretisch-methodische Aspekte und Konzeptualisierungen herausfordern.

Folge Themen wären denkbar:
- Vergleich aktueller und historischer Ontologisierungs- und Anthropologisierungsansätze
- Biologisierung bzw. Essentialisierung von Geschlecht in den Gesundheits- und Lebenswissenschaften
- Familie, Ehe und Kindeswohl (als biologisch definierte Einheiten)
- (Biologisch definierte) Arbeits- und Leistungsfähigkeit
- Definitionen geschlechtsspezifischer Intelligenz
- Reflektionen/Kategorisierungen von geschlechtlichen Zuschreibungsprozessen
- Anti-essentialistische Strategien in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

Die o.g. Perspektiven sind als Ideen und Vorschläge zu verstehen. Zum Konzept der Tagung passende Beiträge, die nicht in die o.g. Rubriken fallen, sind selbstverständlich herzlich willkommen!
Wir bitten um Abstracts (max. 200 Worte) für einen 20-minütigen Vortrag inkl. einer kurzen biografischen Notiz (max. 100 Worte) mitsamt Kontaktdaten bis zum 30.09.2016 per E-Mail an:

Dr. Muriel González Athenas, Ruhr-Universität Bochum: muriel.gonzalez@rub.de
Dr. Falko Schnicke, German Historical Institute London: schnicke@ghil.ac.uk
Prof. Dr. Maren Lorenz, Ruhr-Universität Bochum: maren.lorenz@rub.de

Konferenzsprachen sind Deutsch und Englisch. Eine Peer-Review-Publikation ist geplant.
Innereuropäische Reise- und Übernachtungskosten können für die Referent/innen übernommen werden.

Historical Perspectives on Essentialisation and Biologisation of Gender
Interdisciplinary Symposium of the Working Group of Women’s and Gender History (AKHFG)
July 6-7, 2017 at the Ruhr-Universität Bochum

Current debates about gender and gender relations have evolved against the background of two developments: First, the gender category has established itself as part of the academic canon after vigorous discussions. It has arrived as an intersectional or relational category in methodological, theoretical, as well as empirical reflections. This establishment as well as its actual reappraisal as part and principal of “excellence programmes” at German universities does not mean that “gender” is not used additively as a static parameter anymore or in a merely descriptive manner. Secondly, an “anti-genderism” debate has surfaced over the last years in political discussions eager to refute a perceived misuse of gender equality that partially bears traits of a culture war. In an often aggressive tone it articulates reactionary positions according to which the gender of a person is primarily predefined by a dichotomous biological ‘nature’. This serves to legitimise if not demand mostly patriarchal-hierarchic ‘natural’ and ‘healthy’ ways of living that are not to be questioned. To ignore these ‘facts’, in the anti-gender activists’ position, would lead the individual as well as society astray.

Increasingly, attacks have been launched from this position against gender research and concrete individuals; these attacks exceed academic debates by far and claim interpretive authority over central social frameworks. Especially because gender research has been conceived from the very beginning as a critical approach, these conflicting developments call for repositioning its concepts and discourses from/ in a historical perspective.

One of the most influential concepts was developed by Joan W. Scott in 1986 (“Gender: A Useful Category of Historical Analysis”). She defined gender as a socially organised relation. This deconstructive approach brought the relational character of normative definitions of femininity and masculinity into focus. This shifted the vantage point from women as a collective defined by a common biology to the social conditions of individuals in their respective specific historic relations. In her 2001 article (“Millennium Fantasies”) Scott reinforced her definition, even if she denied the analytical benefit of the term “gender” as an anti-affirmative and to criticise biological determinations going forward, due to its uncritical and interchangeable use in politics and scholarship.

Historians as well as researchers from other disciplines have continuously explored historical processes of consolidations of ideologically grounded gender discourses and their social practices. The naturalisation, essentialisation and biologisation of body knowledge and cultural practices, empirical observation and habits of perception/patterns of reception as well as regimes of the gaze and physical conditions were decisive subject areas. The objective consisted and still consists in the deconstruction of ontological concepts of gender, to historicise and thus denaturalise gender. From a historical perspective body concepts manifest themselves always in social, legal, medical-technological and economic practices, but also in institutions and infrastructures. Gendered bodies thus become the interface of political-normative interventions and attributions, which uncover a bio-political set of relations between processes of power and practices of knowledge and subjectivation. Ascertaining when and how gender was and still is ontologised in such a manner remains central to the research.

The symposium aims to tie in closely with these developments to reflect on the status and discuss the presence and future of historical gender research. We want to ask about the history of the mechanisms of the biologisation and/or naturalisation of gender roles in the humanities, social and life sciences, as well as about the change of processes of objectivisation and subjectification, and the formation of bio-political dispositives. Last but not least, we would like to discuss the assumption of the extent to which gender research itself may be responsible for its own decentralisation in particular academic fields. To seek common ground, in the sense of establishing a focal point, we would appreciate historical papers that challenge the reflection about theoretical-methodological aspects and conceptualisations.

Proposed topics may include, but are certainly not limited to:

- Comparison of current and historical approaches toward ontologisation and anthropologisation
- Biologisation and essentialisation of gender in the health and life sciences
- Family, marriage and well-being of the child (as biologically defined entities)
- (Biologically defined) capability of work and performance
- Definition of gender-related intelligence
- Reflection/categorisation of interactional processes of gendered attribution
- Anti-essentialist strategies in past, present and future

We invite proposals for papers (20 minutes in length) that address these and/or other questions. Proposals should include an abstract (200 words maximum) and a short (100 words maximum) CV, and should be sent by 30 September 2016 to:

Dr. Muriel González Athenas, Ruhr-Universität Bochum: muriel.gonzalez@rub.de
Dr. Falko Schnicke, German Historical Institute London: schnicke@ghil.ac.uk
Prof. Dr. Maren Lorenz, Ruhr-Universität Bochum: maren.lorenz@rub.de

Conference languages will be English and German. A peer-reviewed publication is planned.
Accommodation and intra-European travel expenses can be covered for invited speakers.
In case of further enquiries, please do not hesitate to contact the organisers.

Programm

Kontakt

Prof. Dr. Maren Lorenz
Ruhr-Universität Bochum
Geschichte der Frühen Neuzeit & Geschlechtergeschichte
Universitätsstr. 150
D-44801 Bochum

http://www.akgeschlechtergeschichte.de/aktuelles.html