Blick ins Ungewisse. Visionen und Utopien im Donau-Karpaten-Raum 1917 und danach

Blick ins Ungewisse. Visionen und Utopien im Donau-Karpaten-Raum 1917 und danach

Veranstalter
Abteilung für Germanistik, Nederlandistik und Skandinavistik, Philosophische Fakultät, Universität Ljubljana; Abteilung für Übersetzung, Philosophische Fakultät, Universität Ljubljana; Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) an der Ludwig-Maximilians-Universität München
Veranstaltungsort
Raum 31 (EG), Philosophische Fakultät, Universität Ljubljana, Aškerčeva cesta 2, 1000 Ljubljana
Ort
Ljubljana
Land
Slovenia
Vom - Bis
10.05.2017 - 12.05.2017
Von
Institut für deutsche Kultur und Geschichte (IKGS) an der Ludwig-Maximilians-Universität München

In den letzten Kriegsjahren und insbesondere mit den revolutionären Vorgängen im Zarenreich im Jahr 1917, aber auch mit den Verselbständigungstendenzen der Südslawen und Ungarn in der Donaumonarchie, zeichnete sich auch in Mittel- und Südosteuropa immer deutlicher ein Ende der alten Ordnung ab. Diese steigende Ungewissheit begünstigte eine Auseinandersetzung mit der Frage, welche Optionen politischer und gesellschaftlicher Neuordnung nach dem erhofften, wenn auch kaum absehbaren Kriegsende, bestanden. Bereits in den letzten Kriegsmonaten begann die Bevölkerung, soweit möglich, mit der lokalen Wiederaufbauarbeit und einer Neustrukturierung ihrer mittelbaren und unmittelbaren Lebenswelt. Insbesondere die politischen, kulturellen und kirchlichen Eliten des Donau-Karpaten-Raums, der sich durch ein besonderes Maß an sprachlicher, ethnischer und konfessioneller Diversität auszeichnete, entwickelten verschiedene Visionen einer Nachkriegsordnung, deren Spektrum von einer Weiterentwicklung der imperialen Idee bis hin zu möglichst selbstständigen regionalen Staatsgründungen reichte. Lokale und religiöse Interessen waren in den in dieser Phase entwickelten und publizierten Konzepten ebenso vertreten wie nationalstaatliche Ideen. Jedoch erst die in den Jahren 1919/1920 geschlossenen Pariser Vorortverträge stellten die Staatsordnung Mittel- und Südosteuropas endgültig auf die Basis ethnonationaler Konzepte der Zusammengehörigkeit.
Die Tagung setzt sich zum Ziel, die zum Ende des Ersten Weltkriegs und unmittelbar danach entwickelten politischen und gesellschaftlichen Ideen, Visionen und Utopien im und zum Donau-Karpaten-Raum, welche teilweise auch in eine kurzfristige Praxis umgesetzt wurden, vergleichend vorzustellen. Es wird nach Konzepten gefragt, wie sie sich im politischen und gesellschaftlichen Diskurs, in der Publizistik und in der Literatur bis hin zu Ansätzen kontrafaktischer Geschichtsschreibung abzeichnen. Auch wenn lokale Entitäten wie die Banater Republik, die Murrepublik oder die Westukrainische Volksrepublik nur von kurzer Dauer waren und viele literarisch und publizistisch formulierte Hoffnungen jenseits des Nationalismus recht bald in Vergessenheit gerieten, belegen diese Phänomene, dass durchaus Alternativen zur endgültigen Zwischenkriegsordnung Mitteleuropas bestanden. Anhand von drei thematischen Schwerpunkten wird die heute in den Meistererzählungen mitteleuropäischer Staaten postulierte Unumgänglichkeit der nationalen Neuordnung Europas nach dem Ende der Donaumonarchie hinterfragt und neu beurteilt.

1. Politische Visionen und ihre kurze Realisierung
Welche politischen Alternativordnungen wurden entwickelt und eventuell von lokalen Akteuren in die Tat umgesetzt? Viele der ab 1918 gegründeten Klein- und „Kleinststaaten“ haben sich von der ungarischen Räterepublik, andere vom föderativen System der Schweiz inspirieren lassen. Die Rücksichtnahme auf lokale Gegebenheiten und größtmögliche Selbstbestimmung standen meist im Mittelpunkt, wie dies die Beispiele der Republiken in der Moldau (1917/1918) und im Banat (1918), die Ausrufung des „Heinzenlandes“ auf dem Gebiet des späteren Burgenlands (1918), die Murrepublik (1919), die Pläne der Szekler Republik (1919), der Freistaat Fiume (1920–1924) oder die Republik von Labin (1921) belegen. Wer stand hinter diesen Ideen und ihrer ephemeren Existenz, warum sind sie gescheitert und wie werden sie erinnert? Nicht zu übersehen ist in diesem Zusammenhang die Gründung des südslawischen Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen, das 1929 ins Königreich Jugoslawien umbenannt wurde, um nach dem Überfall Hitlers am 6. April 1941 zum einen unter Deutschland, Italien, Ungarn und Bulgarien aufgeteilt zu werden und zum anderen auch zu einer neuen Staatsgründung bereits während des Zweiten Weltkrieges, NDH – Unabhängiger Staat Kroatien, zu führen. Weder das royale noch später das sozialistische Land der Südslawen waren von langer Dauer.

2. Presse und Literatur als Reflexionsräume
Einerseits bildeten Medien die sich wandelnden Raumwahrnehmungen ab, andererseits änderten sie diese durch die Debatten über neue geopolitische Lösungsmöglichkeiten. Wie wurden politische Entwürfe in der Presse reflektiert? Welche Akteure kamen zu Wort und welche Interessengruppen wurden verdrängt? Welche Möglichkeiten hatte die Presse, die Diskurse zu lenken, vor allem noch angesichts der in allen Medien herrschenden Zensur? Die Palette der literarischen Werke, die in diesem Zeitraum entstanden oder diesen reflektieren, umfasst Tagebücher (von besonderem Interesse sind Werke von Autoren, die diesen Raum als „Außenseiter“ wahrnahmen: z. B. Hans Carossa mit seinem Rumänischen Tagebuch), literarische Memoiren, Kriegsromane oder pazifistischen Utopien. Wie beeinflussen Literaten als Kriegsberichterstatter Raumwahrnehmungen in einem sich ändernden geopolitischen Kontext? Wie konstruieren literarische Werke ihren fiktionalen Raum? Wie werden konkurrierende Raumentwürfe für die Zeit nach dem Krieg abgebildet?

3. Kirchliche Strukturen im Wandel
Auf den Trümmern der Donaumonarchie entstanden nicht nur neue politische Entitäten mit neuen politischen Grenzen. Auch die Organisation kirchlicher Verwaltungseinheiten (Bistümer, Kirchensprengel, Eparchien usw.) wurden entsprechend erneuert, oft ohne Rücksicht auf ihre bisherige ethnische oder sprachliche Zusammensetzung. Welchen Reaktionen hat diese problematische und umsturzhafte Neuordnung bei den Konfessionen ausgelöst? Wie haben Vertreter der Kirchenleitung darauf reagiert, welche alternative Modelle haben sie entwickelt und zur Debatte gestellt? Einen besonderen Katalysator dieses Diskurses stellt das 400. Jubiläum der protestantischen Reformation im Jahr 1917 dar: wie entwickelten sich konfessionelle Debatten der Einigkeit bzw. der Konkurrenz entlang dieses kriegsbedingt in besonderem Maße ideologisch aufgeladenen Topos?

Die Tagung wird simultan ins Deutsche, Englische und Slowenische gedolmetscht.

Programm

Mittwoch, 10. Mai 2017

10:30–11:00 Begrüßung und Einführung

Prof. Dr. Branka Kalenić Ramšak, Dekanin der Philosophischen Fakultät, Universität Ljubljana
Ao. Prof. Dr. Špela Virant, Institutsleiterin der Abteilung für Germanistik mit Nederlandistik und Skandinavistik, Universität Ljubljana
Prof. Dr. Mira Miladinović Zalaznik, Doz. Dr. Irena Samide und
Doz. Dr. Tanja Žigon im Namen des Organisationskomitees, Philosophische Fakultät, Universität Ljubljana
Dr. Florian Kührer-Wielach, Direktor des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München

11:00–11:50 Keynote (I)
Clemens Ruthner (Dublin): »Versuchsstationen des Weltuntergangs«. Apokalyptische Szenarios in der deutschsprachigen Fantastik vor und nach dem Ersten Weltkrieg (dt.)
Moderation: Florian Kührer-Wielach

11:50 Pause

12:00–13:30 Visionen des Krieges

Milka Car (Zagreb): Die Utopien und Freiheitsprojektionen in der Novellensammlung Der kroatische Gott Mars von Miroslav Krleža (dt.)
Eamonn O’Ciardha (Derry): Arthur Griffith, Sinn Féin und The Resurrection of Hungary: Irland und Ungarn: vergleichender, imperialer Kontext (eng.)
Anja Urekar Osvald (Maribor/Marburg): Vom »Michel«, der »Tante Germania« und dem »Nibelungenland« – Visionen und Utopien in der historischen deutschen Presse aus der Untersteiermark und ihr Wandel (1900–1917) (dt.)
Moderation: Irena Samide (Ljubljana)

13:30 Mittagspause

15:00–16:00 Zwischen Wirklichkeit und Utopie

Mario Grizelj (München): Das Heimweh der Kroaten und der Universalismus als Utopie. Carl Schmitts Römischer Katholizismus und politische Form (1923) als Antwort auf das Chaos des Ersten Weltkriegs (dt.)
Johann Lughofer (Ljubljana): Eine »Reise durchs Heanzenland« mit Joseph Roth (dt.)
Moderation: Peter Becher (München)

16:30–18:00 Politische Visionen und Utopien (I)

Gorazd Bajc (Maribor, Triest): Britische Sachkundige in ihren Analysen des Pulverfasses an der Oberen Adria, 1916–1919 (slo.)
Ljubinka Toševa Karpowicz (Rijeka): Der Staat Fiume – der italienische Nationalrat (23. November 1918 – 16. September 1920) (eng.)
Csaba Zahorán (Budapest): Utopien im Schatten der Katastrophe. Die Idee der Selbstbestimmung der Szekler nach dem Fall von Österreich-Ungarn (eng.)
Moderation: Elvis Orbanić (Pazin)

19:00 Empfang

Donnerstag, 11. Mai 2017

9:00–10:30 Politische Visionen und Utopien (II)

Andrei Cuşco (Chișinău/Kischinew): Gescheiterter Versuch? Bessarabische Eliten zwischen Autonomie, Föderalismus und Nationalismus (1917–1918) (eng.)
Nataliya Nechayeva-Yuriychuk (Černivci/Czernowitz): Die Rolle der nationalen Identität bei der Staatenbildung am Beispiel der Huzulischen Republik (eng.)
Rudolf Gräf (Cluj-Napoca/Klausenburg): Das Ende des Ersten Weltkriegs und die Versuche, das Banat politisch neuzugestalten (dt.)
Moderation: Rok Stergar (Ljubljana)

10:30 Pause

10:40–11:30 Keynote (II)
France Martin Dolinar (Ljubljana): Zwischen den Erwartungen und politischer Realität. Die Bischöfe der Kirchenprovinz Görz während des Ersten Weltkrieges und danach (slo.)
Moderation: Mira Miladinović Zalaznik (Ljubljana)

11:30 Kaffeepause

12:00–13:30 Kirchliche Visionen innerhalb und außerhalb neuer Staatsgrenzen

Pál Lackner (Budapest): »Vom Bruder zu Nachbarn – geht’s auch umgekehrt?« Das Verhältnis der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Ungarn zu ihren ehemaligen Teilen (dt.)
Oleh Turiy (Lviv/Lemberg): Zwischen ekklesialer Identität, nationalem Engagement und politischer Loyalität. Kirchliche Strukturen unierter Ruthenen nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie (dt.)
Heiner Grunert (München): »Zeichen unserer Befreiung, Vereinigung und Auferstehung.« Visionen und Geschichtskonzepte der serbischen Orthodoxie am Ende des Großen Krieges (dt.)
Moderation: Angela Ilić (München)

13:30 Mittagspause

15:00–16:30 Das Reformationsjubiläumsjahr 1917

Botond Kertész (Budapest): Krieg und Feier – Das 400. Reformationsjubiläum in Ungarn (dt.)
Lajos Szász (Budapest, Leipzig): Das Reformationsjubiläum in Ungarn und Siebenbürgen im Jahr 1917: Konzepte und Pläne für die Zukunft (dt.)
Tanja Žigon (Ljubljana): Das Jahr 1917 in den »slowenischen« Gebieten in Österreich-Ungarn im Hinblick auf den 400. Jahrestag der Reformation (dt.)
Moderation: Angela Ilić

16:30 Abschlussdiskussion: Angela Ilić, IKGS München, Stellvertreterin des Direktors

17:00 Stadtführung

18:30 »Aufs Maul geschaut: Mit Luther in die Welt der Wörter«: Führung durch die Luther-Ausstellung auf der Burg, veranstaltet vom Goethe-Institut, Ljubljana

19:00 Gemeinsames Abendessen

Freitag, 12. Mai 2017

8:00–15:00 Exkursion nach Štanjel

Kontakt

Angela Ilić

Halskestraße 15, 81379 München

089 78 06 09 0

ilic@ikgs.de

http://www.intotheunknown.blog
Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Klassifikation
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprach(en) der Veranstaltung
Englisch, Deutsch, Slovenian
Sprache der Ankündigung