Germanistik – eine interkulturelle Wissenschaft?

Germanistik – eine interkulturelle Wissenschaft?

Veranstalter
Nicole Colin (Aix-Marseille Université/Universiteit van Amsterdam), Ton Nijhuis (Duisland Instituut Amsterdam), Rolf Parr (Universität Duisburg-Essen), Ursula Peintner (DAAD), Anna Seidl (Universiteit van Amsterdam), Catherine Teissier (Aix-Marseille Université), Joachim Umlauf (Goethe- Institut Lyon und Marseille)
Veranstaltungsort
Aix Marseille Université
Ort
Aix-en-Provence
Land
France
Vom - Bis
24.05.2018 - 26.05.2018
Deadline
15.01.2018
Website
Von
Prof. Dr. Nicole Colin

Nicht gerade eine neue Diagnose, dass die Germanistik in der Krise stecke, insbesondere die Literaturwissenschaft nichts zu sagen habe und die Absolventen keine Jobs fänden. Aber stimmt das? Und stimmt es gleichermaßen für die sogenannte In- wie Auslandsgermanistik? Vielleicht kann erste von letzterer sogar etwas lernen? Fragen wir diesen geht die Tagung „Germanistik – eine interkulturelle Wissenschaft?“ vom 24. bis 26. Mai 2018 an der Universität Aix-Marseille nach.

Ausgehend von einem polemischen Artikel im „Spiegel“ entbrannte im Herbst 2016 in Deutschland eine vehement geführte Diskussion über die Krise, in der die Germanistik – man möchte sagen ‚wieder einmal‘ – stecke. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stand die Diskrepanz zwischen dem stetig steigenden Interesse an diesem Fach – die Germanistik ist in Deutschland mit rund 80 000 Studierenden die beliebteste Disziplin im geisteswissenschaftlichen Spektrum – und, festgemacht an der Literaturwissenschaft, ihrem als bedrohliches Gespenst an die Wand gemalten Bedeutungsverlust, der mit fehlenden Berufsperspektiven der Absolventen und der Nichtsichtbarkeit des Faches und ihrer Vertreter in der Öffentlichkeit einherginge.
Zurecht wurde in der sich daran anschließenden medialen Debatte von verschiedener Seite darauf hingewiesen, dass sich die Germanistik keinesfalls auf das Teilfach Literaturwissenschaft beschränken lasse. Traditionell handelt es sich um ein in sich selbst bereits interdisziplinär strukturiertes Fach, das aus Literatur- und Sprachwissenschaft, deren Fachdidaktiken, Mediävistik und Deutsch als Fremdsprache/Deutsch als Zweitsprache besteht und mit der Vorbereitung auf den Beruf des Deutschlehrers ein nicht nur sehr konkretes, sondern gesamtgesellschaftlich auch überaus wichtiges Ausbildungsziel besitzt. Angesicht des großen Mangels an Lehrern für Deutsch als Fremdsprache, sei es daher „müßig“, wie Helmut Glück in seiner Reaktion auf den Artikel im „Spiegel“ feststellt, „darüber zu streiten, ob man 5 000 oder 15 000 Germanistik-Absolventen pro Jahr braucht“. Kai Kauffmann verwies zudem auf die vielen internationalen Studierenden aus Asien, Amerika und Afrika, die nach Deutschland kämen, um dort genau dieses krisengeschüttelte Fach Germanistik zu studieren.
Im Konzert der Reaktionen erstaunt es indes, dass trotz mehrfacher Hinweise auf die Tatsache, dass die Germanistik nicht nur eine interdisziplinäre, sondern auch interkulturelle Wissenschaft sei, Bezüge zur sogenannten ‚Auslandsgermanistik‘ weitgehend fehlten. Allein Frauke Berndt, die in der Schweiz lehrt, weist auf die „German Studies in Nordamerika“ hin, von denen heute „wichtige Impulse für die Wissenschaft“ ausgingen. Aber beginnt die ‚Auslandsgermanistik‘ erst in Übersee? Was ist mit den europäischen Nachbarländern wie Belgien, Luxemburg, Dänemark, Frankreich und Italien, die alle über traditionsreiche und auch aktuell wichtige germanistische Traditionen verfügen, die zwar auch von deutschen Exilanten und ‚Auslandsdeutschen‘, oftmals jedoch sehr viel stärker von ‚Einheimischen‘ bestimmt wurden? Allerdings scheint auch diese ‚Auslandsgermanistik‘ inzwischen schon seit vielen Jahren, wenn nicht Jahrzehnten in einer Krise zu stecken, auch wenn diese sich in anderer Weise manifestiert als in Deutschland. Ihr Bedeutungsverlust bemisst sich nämlich weniger qualitativ als quantitativ, nämlich durch einen geradezu dramatischen Rückgang an Studierenden seit den 1990er Jahren, der übrigens auch in anderen Fremdsprachenphilologien festzustellen ist und inzwischen zunehmend zur Schließung germanistischer Fächer und Abteilungen geführt hat. Dieser sehr konkrete Überlebenskampf hat paradoxe Folgen: Einerseits legt er den Betroffenen nahe, nach neuen Konzepten und Wegen zu suchen, um ihr Fach ‚attraktiver’ oder ‚zeitgemäßer’ zu gestalten; zugleich verstärkt die Angst vor Verlust aber auch das Festhalten an ‚Altem’ und ‚Bewährtem’. Die (verständlicherweise) allein negativ als Abstiegs- oder Untergangsszenario wahrgenommenen Veränderungen führen zuweilen auch zu einer übertriebenen positiven Überhöhung der früheren Situation, deren Veränderung folglich auch nicht als selbstverantwortlich zu gestaltende wahrgenommen wird. Vielerorts treibt der Verlust an Bedeutung und Wahrnehmbarkeit die potenziellen Germanisten in andere Fächer wie Allgemeine oder Vergleichende Sprachwissenschaft, Allgemeine oder Vergleichende Literaturwissenschaft, deutsche Geschichte oder Film- und Medienwissenschaft. An anderen Universitäten transformiert sich das Fach Germanistik in ein Modul, das mit unterschiedlicher Schwerpunkten in disziplinübergreifenden Studiengängen wie European Studies, Area Studies oder den Angewandten Fremdsprachen angeboten wird. In diesem Kontext bedient man sich vermehrt, wie im englischsprachigen Raum und nun auch in den Niederlanden, des amerikanischen Konzepts der German Studies, in denen in der Regel in der Landessprache bzw. auf Englisch unterrichtet wird.
Diese Überlegungen legen nahe, dass die Auslandsgermanisten – bei allen zu konstatierenden Unterschieden und Differenzierungen – offenbar ein Problem mit ihren Kollegen im deutschsprachigen Raum gemeinsam haben: einen Profilverlust, der sich auf die Formel einer ‚Identitätskrise im Innern der Disziplin‘ hin zuspitzen lässt. Auf dem Prüfstand und auf dem Spiel steht in beiden Fällen die Einheit der Disziplin und ihrer Methoden, die aus unterschiedlichen Gründen stark auseinanderzudriften scheinen. Bestimmt wird diese Identitätskrise – das klingt auch in vielen der Diskussionsbeiträge an – maßgeblich von den Ansprüchen einer globalisierten und ökonomisierten Wissenschaft, die sensibel auf die Bedürfnisse und (zuweilen mangelhaften) Ausgangsbedingungen ihrer Studierenden zu reagieren hat und deren aktuelle Interessen und beruflichen Chancen (als Lehrer, aber auch als Experten für deutsche Literatur, Kultur, Sprache und Geschichte) stärker fokussiert, als dies noch vor 30 Jahren der Fall gewesen ist. Die Lehrpläne und Inhalte des Studiums sind an diese Anforderungen anzupassen und mit möglichen professionellen Perspektiven abzugleichen. Gleichzeitig verlangt diese Identitätskrise im universitären und wissenschaftlichen Kontext – beispielsweise für Forschungsanträge – eine nach außen sichtbare Neupositionierung und auch gesellschaftliche Legitimation, wie – und hier schließt sich der Kreis – es der oben zitierte Spiegel-Artikel indirekt einfordert. Denn die geforderte, auch nach außen besser sichtbare Selbstdarstellung des Faches in seiner konkreten gesellschaftlichen Relevanz erfordert einen größeren inneren Konsens darüber, was diese „Identität“ denn eigentlich sein könnte, als bisher festzustellen ist.

Ausgehend von diesem kritischen Befund will die geplante Tagung die konstatierte „Krise der Germanistik“ in und außerhalb von Deutschland genauer analysieren und dabei versuchen, die Probleme und Lösungsvorschläge der In- und Auslandsgermanistik aufeinander zu beziehen und fruchtbar zu machen. Womöglich kann die Inlandsgermanistik von den langjährigen Krisenerfahrungen ihrer Kollegen im Ausland, die inzwischen seit über 20 Jahren mit der Verteidigung ihres Faches konfrontiert sind, etwas lernen. Wichtig erscheint es auch, das Verhältnis zwischen bewährten Traditionen und neueren, innovativen Theorien – wie den kulturwissenschaftlichen Ansatz – im Lichte aktueller Herausforderungen – wie der Digitalisierung – auszuloten.
Um die Verbindung zwischen In- und Auslandsgermanistik auch auf ‚praktischer’ Ebene zu gewährleisten, wird die Tagung in enger Kooperation mit zwei großen deutschen Mittlerorganisationen konzipiert, welche traditionell den Vertretern des Faches Germanistik in Deutschland und überall auf der Welt besonders nahestehen: dem Goethe-Institut und dem DAAD, der im Rahmen der Tagung eine Podiumsdiskussion organisieren wird.
Zusätzlich bietet ein Worldcafé den Teilnehmern und Referenten die Möglichkeit mit Praktikern aus der Verlagswelt und entsprechenden Institutionen zu diskutieren. Da sich die Tagung explizit auch an Nachwuchswissenschaftler wendet, werden neben dem Duitsland Instituut Amsterdam als Mitveranstalter zudem weitere DAAD-Deutschlandstudienzentren (insbesondere das CIERA in Paris) als Partner an der Planung beteiligt. Auch verschiedene Germanistenverbände (aus Frankreich, Belgien, Deutschland, den Niederlanden...) werden eingebunden. Abgesehen von drei Keynotes, welche zentrale Aspekte der Debatte fokussieren, wird der Schwerpunkt vor allem auf der Diskussion liegen und die Beiträge daher zeitlich auf 15 Minuten limitiert. In einer Publikation erhalten die Referenten dann Raum sich ausführlicher zu äußern.

Mögliche Fragestellungen für Beiträge zur Tagung könnten sein:
- Worin besteht die gesellschaftliche Relevanz der Germanistik in den jeweiligen regionalen Kontexten?
- Sind die Germanistik und ihre Vertreter in der Öffentlichkeit wirklich nicht präsent? Welches Bild ergibt eine tatsächliche Bestandsaufnahme?
- Über welche grundständigen Kompetenzen und Wissensbestände müssen Germanisten verfügen können? Und wo kann, wo muss Ausdifferenzierung einsetzen?
- Sollte die ‚interdisziplinäre Einheit‘ des Faches – trotz der aktuellen Tendenz zur Ausdifferenzierung – gewahrt werden? Und wenn ja, wie?
- Welche Alternativen zur Nachahmung des in Deutschland vor 30 Jahren noch üblichen, aber auch heutzutage noch nicht veralteten Modells der sogenannten ‚Vollgermanistik‘ – bestehend aus Mediävistik, Neuerer deutschen Literaturwissenschaft sowie Sprachwissenschaft – bieten sich der Auslandsgermanistik?
- Interdisziplinär, interkulturell, international – wie können diese an die Germanistik gestellten Ansprüche miteinander verknüpft und eingelöst werden?
- Welche methodischen Neuansätze für die germanistische Forschung sind – auch im Blick auf die Digitalisierung – zu erwarten?
- Wie lassen sich sinnvoll Anschlüsse an übergreifend kulturwissenschaftlich angelegte und/oder an übergreifend angelegte interdisziplinäre Forschungen herstellen?
- Welche Bedeutung spielt die Sprache und die Sprachvermittlung – im In- wie Ausland?
- Wie sieht die (digitale) Zukunft der Sprachvermittlung aus?
- Worin liegen die Unterschiede zwischen „Germanistik“ und „German Studies“?
- Wäre angesichts der Tatsache, dass die aus dem 19. Jahrhundert stammende philologische Ausrichtung des Faches der heutigen multikulturellen und von anderen Medien als dem Buch beherrschten sozialen Realität in Deutschland nicht mehr entspricht, das Konzept der „Deutschlandstudien“ nicht auch für die Deutschlehrer im Inland sinnvoll?
- Welche Rolle können Mittlerinstitutionen wie DAAD und Goethe-Institut in den Diskussionen über die Krise und Neupositionierung der Germanistik spielen?
- Wie kann die ‚Auslandsgermanistik’ durch Förderungen und Preise der Mittlerinstitutionen unterstützt und aufgewertet werden?

Vorschläge für Vorträge in Form eines kurzen Abstracts von max. 15 Zeilen und einer Kurzvita von 10 Zeilen werden bis zum 15. Januar per Mail an die Veranstalter erbeten:
nicole.colin-umlauf@univ-amu.fr; catherine.teissier@univ-amu.fr rolf.parr@uni-due.de; joachim.umlauf@goethe.de; a.j.j.nijhuis@uva.nl; a.s.seidl@uva.nl
Reise- und Unterkunftskosten werden von den Veranstaltern wahrscheinlich übernommen werden.

Programm

Kontakt

Nicole Colin

Aix Marseille Université

0033636418690

nicole.colin-umlauf@univ-amu.fr


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