Ein Stoff für alle Fälle - Kunststoffdesign im 20. Jahrhundert

Ein Stoff für alle Fälle - Kunststoffdesign im 20. Jahrhundert

Veranstalter
Wilhelm Wagenfeld Stiftung (16506)
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16506
Ort
Bremen
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.05.2011 - 03.10.2011
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Barbara Figge, Bremen

Sortierte man im eigenen Haushalt alle Plastik-Gegenstände aus, würden grundlegende Dinge fehlen – vom Küchenradio über den Wasserkocher bis zum Lampenschirm. Entwicklung und Design des so selbstverständlich gewordenen Kunststoffs zeigt nun eine Ausstellung im Wilhelm Wagenfeld Haus in Bremen. Und damit ziemlich viel: In einer zurückhaltenden, auf die Exponate konzentrierten Präsentation lässt sich nicht nur die Gestaltung von Kunststoffgegenständen im Laufe der Designgeschichte aufmerksam verfolgen; auch den Vorläufern und den Eigenschaften des Materials ist aufschlussreicher und informativer Raum gegeben. Im Mittelpunkt steht neben den ästhetischen Visionen zugleich deren permanente Wechselwirkung mit der chemischen Materialentwicklung und dem Fortschreiten der Technik. Kuratiert wurde die Ausstellung von Beate Manske, Wilhelm Wagenfeld Stiftung, und Dr. Günter Lattermann, Chemiker und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Kunststoffgeschichte. Aus seiner Sammlung stammen etliche Exponate, die vor allem die Vorgeschichte des Kunststoffs dokumentieren. Lattermann stellt das Material Kunststoff kompetent vor und hat wesentlich zur gelungenen Fokussierung der Ausstellung beigetragen. Für Interessierte wird die Schau durch eine kleine Begleitbroschüre ergänzt, die über Material und Designgeschichte informiert.1

Die Exponate veranschaulichen, wie Kunststoff sich langsam aus der Rolle des bloßen Ersatzstoffs befreite, zunächst aber durch den Stand der Wissenschaften begrenzt war: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren im Pressverfahren hergestellte Kunststoffe hart, meist dunkel und nur in geringem Maße einfärbbar. Bekannt ist noch heute der Werkstoff Bakelit, der als Isolator für elektrische Anschlüsse verwendet wurde, hier aber zudem als Material für Haushaltsgegenstände erscheint. Im weiteren Verlauf der Ausstellung lässt sich der auch optische Wandel zu bruchfesten, stärker belastbaren und zunehmend einfärbbaren Kunststoffen mit der Entwicklung der Thermoplaste ab 1945 verfolgen. Gewinnbringend ist hierbei der Rückblick auf zuvor bereits eingesetzte Ersatzstoffe wie Papiermaché. So wird der Kunststoff als eine Weiterentwicklung der Suche nach neuen, funktionellen und kostengünstig produzierbaren Materialien vorgestellt und visuell in dem neuen Herstellungsverfahren des Pressens und später des Gießens unterscheidbar.

Der Einstieg über das Material eröffnet eine grundsätzlich veränderte Perspektive auf die bekannte Geschichte des Produktdesigns, die in verschiedenen Themenkreisen wie „Telekommunikation“ und „Radio“ bis zu „Wohnen“ und „Haushalt“ vorgestellt wird. Für die erstere Thematik prägte der Fortschrittsglaube die Formgebung; das neue Material Kunststoff verknüpfte sich in den 1950er-Jahren mit der neuen Technik zu einer eigenständigen Form, wie an den Exponaten sichtbar wird: Radios und Telefone ähneln Kühlerhauben, Propellerdüsen und Astronautenhelmen; sie vermitteln die mit der zunehmenden Beschleunigung und Mobilität verbundene gesellschaftliche Euphorie. Dies wird vielfach spielerisch umgesetzt – so entpuppt sich das titelgebende Bildmotiv der Ausstellung als ein Handgelenkradio, das wie ein zum Handring geschlossener, quietschgelber, gespiegelter Telefonhörer aussieht und, aufklappbar, in der Innenfläche über eine Senderanzeige verfügt.2 Hier zeigt sich der Kunststoff 1968 in freier, fließender Formgebung und uneingeschränkter Farbwahl. Die in den 1950er-Jahren möglich gewordenen glänzenden Oberflächen und kräftigen Farben bildeten die Grundlage für das in den 1960er-Jahren noch augenfälliger und knalliger werdende Design. Dies zeigt die Ausstellung sinnlich und vergnüglich. Eine gestalterische Gegenbewegung im gleichen thematischen Bereich der Phonogeräte und der Telekommunikation markierte die von Dieter Rams ab 1961 ausgehende, sachlich-puristisch anmutende Linie – eine Weiterentwicklung der Bauhaustradition unter Verwendung von Kunststoffen. Die Ikone dieser Designrichtung, der „Schneewittchensarg“ titulierte Schallplattenspieler „Super Phono SK4“, ist in der Ausstellung zu betrachten.3

Ohnehin ist die Ausstellung ein Who-is-Who der internationalen Designgeschichte ab den 1950er-Jahren, die übersichtlich vermittelt, wie das Material sich mit dem Beruf des Designers eigenständig entwickelte und für diverse Tendenzen des Produktdesigns prägend wurde. Bei genauerem Hinsehen werden jedoch auch die Grenzen des Materials erkennbar: Für den berühmten freischwingenden „Panton Chair“ wurde der passende, ausreichend elastische und doch feste Kunststoff mit glasfaserverstärktem Polypropylen für einen Stuhl „aus einem Guss“ erst 1999 gefunden – 41 Jahre nach der Entwicklung des Stuhlmodells und weiterhin mit Einschränkungen bei der Oberflächenbeschaffenheit. Dagegen bleibt das Stahlrohr von Marcel Breuers Freischwinger bis heute unschlagbar. Derartige qualitative Materialvergleiche deuten sich jedoch nur an.

Die vertikalen Vitrinenfenster der Schau bieten einen zurückhaltenden, dezent beleuchteten Einblick in die Vielfalt der Produkte; deren Beschilderung enthält dabei stets einen Hinweis auf das Material, das dem Museumsbesucher auf einem Beiblatt zusätzlich informativ erläutert wird. Die einzelnen Räume zeigen einen bündigen, klar gegliederten Überblick zu den verschiedenen Themenkomplexen. Die Leuchtkästen geben den Exponaten Raum und gruppieren sie nach formalen Parallelen und Veränderungen, so dass sich dem Besucher Formvergleiche anbieten. Im Bereich „Büro und Kommunikation“ sieht man auf spannende Weise, wie sich die Begeisterung für das Material in der visuellen Erscheinung der Bürokommunikation niedergeschlagen hat: Die tragbare Schreibmaschine „Valentine“, ab 1969 von Olivetti produziert und rasch ein Klassiker geworden, ist als „bunte Tischplastik“ (so der Designer Ettore Sottsass) hier der Ausgangspunkt der Präsentation.4 Diesen Trend der weichen, vitalen Formen griff Apple 1998 mit seiner stromlinienförmigen, nun transparenten, Verschalung aus Polycarbonat beim „iMac G3“ auf.5 Der optische Kontrast zu dem daneben ausgestellten, maschinenhaft grauen und würfelförmigen ersten „Macintosh“ von 19846 zeigt, wie das technische Gerät, ähnlich der Reiseschreibmaschine, über den freien Materialeinsatz zu einem vital geschwungenen Objekt wurde. Eine Hinwendung zu eleganten, schlichten Formen ist in der weiteren Entwicklung bei Apple zu beobachten – beispielhaft am „iPhone G2“, das sich am Design von Dieter Rams orientiert.7 Die Gestaltung technischer Geräte erfährt damit eine über die Funktion weit hinausgehende Bedeutung, die sich durch die Platzierung in der Ausstellung ahnen lässt, aber nicht problematisiert wird.

Auf schlüssige Weise wird der Namensgeber des Ausstellungshauses eingebunden: Wilhelm Wagenfeld (1900–1990), der auch das seinerzeit kritisch beäugte Plastik experimentell erprobte und als vollwertiges Material für Haushaltsgegenstände verwendete. Somit setzte er die Maxime fort, „daß Schönes nicht kostspielig sein muß“.8 Die Aufmerksamkeit gilt auch hier, bei der bekannten Funktionalität und eleganten Klarheit der Form von Salatbesteck, Bowlenlöffel und Salatsieb, dem Material Melamin oder dem bruchfesten und günstigeren Acrylglas, das bei der Butterdose den Glasdeckel ersetzte. Wagenfeld wird neben dem ebenfalls ausgestellten organischen Design aus den USA oder dem später populär werdenden sachlichen skandinavischen Stil überzeugend präsentiert, glückte ihm doch die Kombination verschiedener Werkstoffe in einem Produkt. Auch der Ursprung dieses eher funktionsorientierten, massenproduzierbaren Kunststoffdesigns im Deutschland der 1930er-Jahre wird anschaulich dargestellt. Die Fortsetzung dieser Tradition in der DDR findet Erwähnung, wird aber nicht als eigener designgeschichtlicher Abschnitt gezeigt.

Der Ausstellung gelingt es, nicht nur fundiert Auskunft über das Material Kunststoff zu geben. Darüber hinaus bietet sie einen Einblick in den Wandel seiner produktspezifischen Einsatzmöglichkeiten. Es erweist sich als lohnend, Klassiker der Designgeschichte des 20. Jahrhunderts quasi aus der Entwicklerperspektive zu betrachten. Auch Wilhelm Wagenfeld lässt sich so noch einmal neu entdecken. Stärker verfolgt werden könnte dabei die Auseinandersetzung mit den kulturgeschichtlichen Konnotationen von Plastik, die sich in der Zukunftsbegeisterung der 1950er- und 1960er-Jahre lediglich andeuten, aber etwa in ihrer Wirkung auf eine eher sachliche Formensprache und im Kontrast zu anderen Materialien weitergehend zu untersuchen wären. Dies bietet sich an im Sinne einer sich wandelnden Semantik des Materials, das noch vor 60 Jahren ästhetisch wie moralisch als „geschichtslos“ und formlos bemängelt wurde und das – auch heute noch – die Idee der Kurzlebigkeit transportiert.9 Durch die Beschränkung auf technisch-formale Aspekte des Materials bleibt dieser Bereich ausgespart.

Den Abschluss bildet ein Recycling-Stuhl – was einen Ausblick eröffnet auf die mögliche veränderte Bedeutung und Verwendung des inzwischen selbstverständlich gewordenen Kunststoffs. Dies deutet eine aktuelle Perspektive auf das Material an, das in seinen Möglichkeiten und Nebenwirkungen längst differenzierter wahrgenommen wird und auf jeden Fall auch in der Ambivalenz von Positiv- und Negativutopien kritisch beleuchtet werden müsste. Heute wäre es weder möglich noch sinnvoll, ohne Kunststoffe und Kunststoffdesign zu leben; zugleich ist das Bewusstsein dafür gewachsen, dass traditionelle Materialien wie Holz, Glas, Keramik, Naturfasern etc. in vielen Bereichen ihren Wert behalten und bei manchen Verwendungen sogar überlegen sind.

Anmerkungen:
1 Beate Manske (Hrsg.), Ein Stoff für alle Fälle. Kunststoffdesign im 20. Jahrhundert, Bremen 2011.
2 Siehe die Abbildung unter <http://www.wwh-bremen.de/index.php?mod_katalog_id=195&page_id=6&language=deguage=de> (17.9.2011).
3 Abbildung z.B. hier: <http://www.flickr.com/photos/linzie/4161420098> (17.9.2011).
4 Abbildung z.B. hier: <http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Olivetti-Valentine.jpg> (17.9.2011).
5 Abbildung z.B. hier: <http://commons.wikimedia.org/wiki/File:IMac_G3_Indigo.jpg> (17.9.2011).
6 Abbildung z.B. hier: <http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Apple_Macintosh_SE_1984_makffm.jpg> (17.9.2011).
7 Abbildung z.B. hier: <http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Iphone_2.jpg> (17.9.2011).
8 Wie Anm. 1, S. 5.
9 Monika Wagner, Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München 2001.