Haft, Diktatur, Revolution. Thüringen 1949–1989

Haft, Diktatur, Revolution. Thüringen 1949–1989

Veranstalter
Stiftung Ettersberg / Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße
Ort
Erfurt
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.12.2013 -

Publikation(en)

: Haft, Diktatur, Revolution. Thüringen 1949–1989 (Dauerausstellung). 2015
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernd Lindner, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig

Schon wenn man sich – den gewaltigen Erfurter Domplatz in nördlicher Richtung überschreitend – dem Gebäudekomplex aus roten Ziegeln nähert, ahnt man, dass es sich bei der hiesigen Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße nicht um eine der üblichen Ausstellungen zum verbrecherischen Wirken der Staatssicherheit in der DDR handelt. Dabei hat sich äußerlich an den Bauten aus der Kaiserzeit kaum etwas verändert. 1878 vollendet, diente ihr Hoftrakt seitdem ununterbrochen als Haftanstalt: In der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und auch in der SBZ. Die DDR hat diese Nutzung beibehalten; wobei ab 1952 die Staatssicherheit die Zellen zweier Etagen nutzte, um darin Menschen einzusperren, die sich gegen die politische (All-)Macht der SED aufgelehnt hatten oder sich ihr durch Flucht in den Westen entziehen wollten.

Die Gitter vor den Zellenfenstern kann man heute von der Straße aus nicht mehr sehen. Unmittelbar hinter der Gefängnismauer erhebt sich nun ein gläserner Kubus, dessen Gestaltung dem Besucher sofort ins Auge springt. Seine Hülle ist rundum mit einer comicähnlichen Zeichnung überzogen: Sieben Meter hoch und 40 Meter lang. In schlichtem Schwarz-Weiß und ohne jedes Pathos erzählt sie von den Ereignissen der Friedlichen Revolution 1989 in Thüringen, in deren Verlauf die Andreasstraße eine wichtige Rolle spielte. Geschaffen hat den grafischen Fries der 1982 in Erfurt geborene Zeichner Simon Schwartz. Er wurde durch die Graphic Novel „Drüben!“ bekannt, in der er die Ausreise seiner Eltern aus der DDR erzählt. Schwartz selbst war damals eineinhalb Jahre alt. Der Erfurter Gedenk- und Bildungsstätte hat er mit seinem Wandbild zum Herbst 1989 eine unverwechselbare, unangestrengte Note verliehen. Sie zieht sich glücklicherweise auch durch die gesamte Ausstellung.

Dabei wird die Düsternis dessen, was hier über 45 Jahre geschehen ist, keineswegs verschwiegen. Im Gegenteil: Der Rundgang durch den Gefängnistrakt beginnt gezielt mit der Besichtigung von authentisch erhaltenen Zellen der ehemaligen MfS-Untersuchungshaftanstalt. Per Fahrstuhl gelangen die Besucher ins 2. Obergeschoss, dessen Grundstruktur nicht verändert wurde. Zelle reiht sich an Zelle. Nur sparsam wurden museale Einbauten in die engen Gefängnisräume eingefügt. Sie erzählen – unterstützt durch moderne Medientechnik – von dem menschenunwürdigen Prozedere, dem politische Häftlinge in der DDR unterworfen waren: Von der willkürlichen Verhaftung und dem Transport ins Gefängnis, über die schikanöse Haftaufnahme, bis zum beschwerlichen Haftalltag. So liegen in einer Zelle auf einem interaktiven Tisch Ausrisse aus Stasi-Akten. In der Sprache der Täter werden hierin die „Vergehen“ ihrer Opfer beschrieben. Deren Perspektive erfährt der Besucher, wenn er die Aktenauszüge auf ein aktives Feld des Tisches legt und damit die Wiedergabe entsprechender O-Töne auslöst. Ehemalige politische Häftlinge erzählen zudem in Videoeinspielungen, die geschickt in die Räume integriert sind oder beim Rundgang über einen Medien-Guide abgerufen werden können, von der Pein der Leibesvisitationen und der Verhöre, die sie über sich ergehen lassen mussten, wie auch von ihren Ängsten während der U-Haft, deren Dauer ganz allein die Staatssicherheit bestimmte. So werden die historischen Zellenräume zu Anschauungsräumen für heutige Besucher.

Eine Etage tiefer werden die gesellschaftlichen Zusammenhänge und politischen Hintergründe des SED-Staates dargestellt. Dass alle Ebenen der DDR-Gesellschaft von der „führenden Kraft der Partei“ abhängig waren, wird für den Besucher bereits im Eingangsbereich des Geschosses nachhaltig spürbar. Bevor er in die Ausstellungsräume gelangt, muss er ein räumlich angeordnetes Organigramm durchschreiten. An der Decke prangt in dessen Mitte ein großes SED-Abzeichen. Von ihm führen spinnennetzartig Verweislinien zu den Massenorganisationen, Blockparteien, Ministerien, territorialen Verwaltungseinrichtungen und zu unterschiedlichsten Gesellschaftsbereichen (von der Wirtschaft bis zur Jugend, Bildung und Kultur) auf den Wänden darunter. Sie alle waren – mehr oder minder direkt – der SED unterstellt. Sinnfälliger lassen sich die politischen Beziehungsgefüge (in) der DDR grafisch kaum darstellen.

Gezielt werden in der Ausstellungsgestaltung, die in den Händen der Leipziger Werbeagentur Kocmoc.Net (sprich: Kosmos.Net) lag, immer wieder analoge Elemente aufgegriffen. So beginnt der Rundgang durch diese Etage mit einem biografisch angelegten Raum. Er firmiert, in Anlehnung an einen staatstragenden Song aus der DDR-Singebewegung, unter der Überschrift „Sag mir, wo du stehst!“. Mit Comicelementen, vergleichbar denen am Eingangskubus, werden (fiktive) Biographien junger Menschen in der DDR erzählt, die vor der schwierigen Entscheidung standen, sich dem politischen System unterzuordnen, um ihre Lebensträume verwirklichen zu können, oder dies zu verweigern. Die Konsequenzen der Entscheidung zwischen „Anpassung“ und „Eigensinn“ erfahren die Besucher, wenn sie sich – stellvertretend für die Protagonisten – für den einen oder anderen Weg entscheiden.

Wurden für dieses Ausstellungssegment extra Gebäudewände entfernt, begnügen sich andere Themenräume mit dem knappen, verfügbaren Platz einer Gefängniszelle. Das lässt die Darstellung manches Themas von Wirtschaft über Jugend, bis zur Kultur, Kunst und Opposition in der DDR mitunter etwas holzschnittartig geraten; zugleich ist es frappierend, welch eigenwillige bis verblüffende gestalterische Lösungen aus der Raumnot erwachsen sind. So wird der gänzlich in Rot getauchte Ideologie- und Propagandaraum von einem riesigen Stalin-Porträt überwölbt, um Prinzip und Wirkungsweise des Personenkultes zu verdeutlichen. Oder die ewige Suche nach Ersatzteilen in der Mangelgesellschaft DDR wird anhand eines Mopeds verdeutlicht, das einst im VEB Simson-Werk Suhl produziert wurde. Nur steht der „Star“ hier nicht als herausgeputztes Exponat auf einem musealen Podest. Nein, er wird, zerlegt in Einzelteilen (von denen jedes in der DDR einst mit ‚Goldstaub aufgewogen‘ wurde), an der Wand präsentiert.

Auch im Kunstraum ziert die Stirnwand der ehemaligen Zelle ein Suhler Exponat. Es ist ein kleiner Ausschnitt aus dem Wandbild "Kampf und Sieg der Arbeiterklasse", das der Maler Willi Sitte (Präsident des Verbandes Bildender Künstler und entschiedener Verfechter des sozialistischen Realismus) in den 1970er-Jahren für das Suhler Stadtzentrum geschaffen hat. Das Bildnis eines glücklichen Familienvaters mit Kind auf der Schulter (in den 1990er-Jahren demontiert und eingelagert) wird von weiteren Auftragswerken aus unterschiedlichen Jahrzehnten flankiert. Sie hängen jedoch nicht auf, sondern vor der Wand, die mit Lamellen aus rotem Filz verkleidet ist. Schiebt der Besucher sie beiseite, kann er Fotos von der unangepassten subkulturellen Kunstszene Erfurts und deren systemkritischen Werken entdecken. Regionale Bezüge finden sich aber auch in dem Raum, die der literarischen Opposition im Thüringer Raum gewidmet ist. Darin wird der Greizer Dichter Reiner Kunze ebenso ins Blickfeld gerückt wie der Jenaer Oppositionskreis um Jürgen Fuchs und Lutz Rathenow.

Gelungen ist ebenfalls die Darstellung des Wirkens der Stasi im Erfurter Alltag. In einem Raum, dessen Wände mit Prospekten von desolaten Straßenzügen und Hausfassaden tapeziert sind, wurde eine ‚Blackbox‘ montiert. Darin findet der Besucher Zeugnisse der Observation der Zivilgesellschaft durch den Sicherheitsdienst, samt der dafür eingesetzten Technik. Die Stasi war allgegenwärtig, mitten unter uns. Und doch musste sie im Herbst 1989 – unter dem Druck der Demonstranten auf den Straßen des Landes – weichen. In Thüringen machte Arnstadt am 30. September den Anfang. In den nachfolgenden Wochen gingen in Weimar, Suhl, Eisenach und anderen Städten ebenfalls mutige Bürger auf die Straßen. Erfurter Oppositionellen kommt das Verdienst zu, am Morgen des 4. Dezember als erste in der DDR eine Stasi-Zentrale besetzt zu haben. Die Erfurter Bezirksverwaltung der Staatssicherheit hatte in der Andreasstraße ihren Sitz. Aufmerksame Besucher konnten bereits in der „Haft“-Etage im 2. Obergeschoss Spuren dieser Besetzung entdecken. Um die Akten vor weiterer Vernichtung zu schützen, hatten die Besetzer sie in leer stehende Zellen geschafft und diese von der Staatsanwaltschaft versiegeln lassen. Reste dieser Siegel sind noch heute an den Türen zu besichtigen.

Hauptort für die Darstellung dieser Ereignisse, wie der Friedlichen Revolution in Thüringen insgesamt, ist jedoch das Erdgeschoss. Hier empfangen den Besucher Figurinen, die zentrale Losungen vom Herbst 1989 in die Höhe halten. Eingefügt in die Demonstrantengruppen sind Monitore, auf denen Zeitzeugen (darunter Oppositionelle, die bei der Besetzung der Andreasstraße dabei waren) ihre Erlebnisse in diesen bewegten Tagen schildern. Von hier geht es hinaus auf den Gefängnishof, wo der Besucher erstmals „Thüringens größten Comic“ auf der Fassade des schwarz-verspiegelten Kubus umlaufen und in Gänze betrachten kann. Als Vorlage für die Collage dienten Hunderte Fotos aus privaten Beständen und öffentlichen Archiven. Zusammen mit Zeitzeugen wählte die Potsdamer Agentur freybeuter 42 Fotos davon aus, die Simon Schwartz zu seinem Fries verarbeitete. Die Fotovorlagen können die Besucher auf einer Wand neben dem Kubus besichtigen und so den Prozess der Verdichtung zu einem einzigen, in sich geschlossenen Bild nachvollziehen.

Ein besonders eindrucksvolles Gestaltungselement der Gedenk- und Bildungsstätte erwartet den Besucher, wenn er um den Gefängnistrakt herumläuft. Dort, wo sich einst die Hofzellen für den ‚Freigang‘ der Häftlinge befanden, stößt er nun auf eine Inszenierung der historischen Anlage mit modernen Mitteln. Durchsichtige Streckzäune aus Metall, die die Grundrisse der alten Freihofzellen aufnehmen, vermitteln sowohl den beklemmenden Eindruck der früheren Haftsituation als auch das Gefühl ihrer Überwindbarkeit. Auf einer Betonwand am Ende des Parcours stößt er dann auf den eindrucksvollen Text eines Häftlingskassibers eines hier einst Inhaftierten. Nicht zuletzt dieser Text, der zudem von besonderer lyrischer Qualität ist, lässt den Besucher den Komplex in der Andreasstraße gestärkt in seinem demokratischen Bewusstsein und auch irgendwie beschwingt verlassen. Ein Gefühl, das sich offensichtlich unabhängig von Alter, Herkunft oder eigener Teilhabe an den Ereignissen von 1989 einstellt, wie der Preis belegt, den die Gilde der britischen Reisejournalisten (British Guild of Travel Writers) im November 2014 an die Erfurter Gedenk- und Bildungsstätte in der Andreasstraße vergab. Sie würdigte die Einrichtung und ihre Dauerausstellung als „Outstanding new tourism project“. Eine Auszeichnung, die sie jedes Jahr nur einer einzigen Einrichtung außerhalb Großbritanniens verleiht. Und dies, obwohl zu dem Zeitpunkt der Kür in der Andreasstraße noch keine englischen Objekttexte vorlagen. Ein Zeichen mehr dafür, dass die Erfurter Andreasstraße einen frischen Ton in die Gedenkstättengestaltung eingebracht hat – der sogar international zu überzeugen vermag!

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