Alltag Einheit. Porträt einer Übergangsgesellschaft

Alltag Einheit. Porträt einer Übergangsgesellschaft

Veranstalter
Deutsches Historisches Museum
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.05.2015 - 28.02.2016

Publikation(en)

Cover
Stiftung Deutsches Historisches Museum (Hrsg.): Alltag Einheit. Porträt einer Übergangsgesellschaft. Berlin 2015 , ISBN 978-3-86102-190-2 104 S., zahlr. Abb. € 12,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcus Böick, Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum

Der „Alltag“ der „Einheit“ befand sich im Herbst 2015 in einer für Berlin vielleicht typischen Sandwichsituation: Darüber die als außerordentlich anspruchsvolles alphabetisches Themenregister nebst Homophobie-Kabinett gestaltete „Homosexualität_en“-Ausstellung, darunter die monumental-wuchtig präsentierte Schau „1945. Niederlage. Befreiung. Neuanfang“, die das Ende des Zweiten Weltkriegs als paneuropäisches Kaleidoskop wortwörtlich mehrdimensional auffächerte. Und genau dazwischen platzierten die Ausstellungsmacher vom Deutschen Historischen Museum (DHM) und dem Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) nun ihre Präsentation, die bei der Darstellung der jüngsten gesamtdeutschen Vergangenheit eigene Wege einzuschlagen versucht, um so die verschiedenen Facetten einer „Übergangsgesellschaft“ in den frühen 1990er-Jahren auszuleuchten. Gerade dieser postsozialistische „Alltag“ spielt im etablierten Gedenkkanon der Berliner Republik bislang noch keine prominente Rolle, weil er sich gegen griffige geschichtspolitische Indienstnahmen sperrt und gleichermaßen vom hellen Licht der „Friedlichen Revolution“ 1989/90 überstrahlt sowie den dunklen Schatten des SED-Regimes überdeckt wird.

Bei den Leitbegriffen fängt der Deutungsstreit bereits an: Ist der „Alltag“ nach „Einheit“, „Wiedervereinigung“, „Beitritt“ oder „Anschluss“ am 3. Oktober 1990 eine „Erfolgsgeschichte“ einer auf lange Sicht dann doch gelungen, nationalen „Integration“ von Ost- und Westdeutschen? Oder lässt sich der zeitgenössisch vieldiskutierte und umstrittene „Prozess“ der „Transformation“ bzw. die „Herstellung“ einer „Inneren Einheit“ vielmehr als asymmetrische, sogar rücksichtslose „Kolonisierung“ des Ostens durch den Westen porträtieren? Das Gelände, welches die Ausstellungsmacher um Jürgen Danyel damit betreten, erscheint zeithistoriographisch noch fast gänzlich unkartiert und zugleich mit allerlei zeitgenössischen, ost-westlichen Deutungskonflikten kontaminiert. Umso unbefangener wirkt dieses „Porträt“ dann auf den allerersten Blick: Der Besucher darf gleich zu Beginn auf der Rückseite eines (unechten) 100 D-Mark-Scheins notieren, was er von seinem ersten Hunderter erstanden habe. Ein kurzer, gänzlich zufälliger Blick über die zuvor angebrachten Notizen offenbart eine eigentümliche Mischung aus Pathos („Ich habe meinen 100er noch immer!“), Profanem („Kosmetik, Joghurt, Milka-Schokolade“) und Renitenz („Habe es nicht abgeholt, habe es wie betteln empfunden“). Diese mehrdeutigen Aneignungen des locker gestalteten, interaktiven Ausstellungsauftakts lassen erahnen: Gerade der bisher weitgehend unbearbeitete „Alltag“ der „Einheit“ liegt noch nicht so weit von uns entfernt wie die Themen vieler anderer historischer Ausstellungen.

Räumlich dicht gedrängt fügen die Ausstellungsmacher acht „Themenfelder“ zu einem komplexen Ensemble zusammen, das in verschiedene „Dimensionen des Wandels“1 einführen soll. Die ostdeutsche „Übergangsgesellschaft“, so der gewählte Leitbegriff, wird auf ihren zentralen Feldern von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur als offene Formation im „Schwebezustand“ präsentiert. Der Besucher soll dabei vermittels eines (eher verwirrenden) Bodenleitsystems auf einem Zickzackrundgang durch die Ausstellung geführt werden, in deren Mitte eine „Zeitzeugeninsel“ mit Text-Foto-Drehelementen platziert ist, die im Wesentlichen (aber nicht nur) die üblichen Verdächtigen in den Fokus rücken lässt. Auch auf interaktive Elemente und multidimensionale Medienangebote kann eine Ausstellung gerade zum Alltag schwerlich verzichten – so darf man Ost-West-Differenzen mithilfe von markanten Geruchsproben (Braunkohle, Badezusatz) erschnüffeln. Insgesamt entfaltet die Gestaltung des Gesamtensembles durchaus die beabsichtigte Wirkung: Die Schau wirkt dicht gedrängt, unüberschaubar offen, dynamisch rastlos; die weiß-grau-nüchternen Gestaltungselemente kontrastieren auffällig mit den zeittypisch grellbunten Exponaten und farbenfrohen Fotografien der frühen 1990er-Jahre.

Doch was machte die „Übergangsgesellschaft“ nun auf inhaltlicher Ebene aus? Neben allerlei (eher humorigen) sprachlich-semantischen Verwirrungen nach 1989/90, die den Auftakt der Schau bilden, werden tiefgreifende Wandlungsprozesse in den Medien-, Konsum- und Arbeitswelten des Ostens nachgezeichnet. Hier fällt die Bilanz erwartungsgemäß vielschichtig aus: Die schnelle D-Mark und die Marktwirtschaft erweiterten zwar seit dem Sommer 1990 schlagartig das Konsum- und Programmangebot an zuvor hinter der Mauer heißersehnten Produkten, Informationen und Dienstleistungen aus „dem“ Westen und gewährten neue (Reise-)Freiheiten, die in rührenden Urlaubsfotos eingefangen werden. Andererseits fegten die durch die Treuhandanstalt gemanagten Privatisierungen und „Abwicklungen“ wie ein Taifun über die zuvor in den Bahnen der Planwirtschaft eingerichtete Betriebslandschaft hinweg und führten zu erheblicher Langzeit- und Massenarbeitslosigkeit; zeitgleich erhitzen langwierige Alteigentumskonflikte, neue Formen von Kriminalität und sichtbarer Armut die Gemüter. In diesen Passagen lässt sich das narrative Spannungsfeld zwischen heiterer Ironie und existenzieller Ernsthaftigkeit in zwei bildlichen Darstellungen greifen: Da ist einerseits das arrangiert-amüsante Symbolfoto einer burschikosen „Ost-Frau“ mit knallrot gefärbtem Kurzhaarschnitt in einem Rostocker Supermarkt des Jahres 1991, die – eine Hand fest am Griff des eigenen Einkaufswagens – misstrauisch auf eine (unechte) lila Milka-Kuh blickt. Auf der anderen Seite werden die Um-, Auf- und Abbrüche in der Arbeitswelt, jenseits der Schilderung von betrieblichen Einzelfällen, mit der eindrucksvollen Fotoreihe von Angelika Kampfer in Szene gesetzt, die in ihren 1990, 1992 und 2004/05 gefertigten Porträtaufnahmen die Vielschichtigkeit der individuellen ostdeutschen Berufs- und Lebenswege schlaglichtartig einzufangen versuchte.2

Mit Blick auf gegenwärtig hochaktuelle Debatten (NSU, Pegida) stimmen gerade diejenigen Abteilungen der Ausstellung nachdenklich, die sich mit Fragen der „politischen Kultur und Zivilgesellschaft“ bzw. einem neudeutschen „Nationalgefühl“ auseinandersetzen. Diese zeitgenössisch intensiv debattierten und von der „Transformationsforschung“ beackerten Themenkomplexe arbeiten (ost-)deutsche Defizit- und Konfliktgeschichten heraus: Der medienöffentlich ausgetragene Streit um Stasi-Unterlagen, „Inoffizielle Mitarbeiter“ und individuelle DDR-Vergangenheiten wird mithilfe von Fallbeispielen und einer MfS-Aktenregistratur eingefangen. Ausführlich thematisiert werden auch die rechtsextremen Gewalttaten und ausländerfeindlichen Pogrome der frühen 1990er-Jahre. Bezeichnenderweise stammt das eindrucksvollste Einzelexponat gar nicht, wie sonst fast alle gezeigten Gegenstände, aus der ostdeutschen „Übergangsgesellschaft“ selbst, sondern aus dem holsteinischen Mölln: Es ist das halb-verkohlte, grüne Tastentelefon, das den Brandanschlag auf eine türkischstämmige Familie im November 1992 überstanden hatte. Auch andere Exponate mit rechtsextremem bzw. nationalistischem Hintergrund verdunkeln in dieser Abteilung die Stimmung, die demgegenüber durch harmlose schwarz-rot-goldene Kontrapunkte wie die gesamtdeutsche Freude über den dritten Fußball-Weltmeistertitel im Sommer 1990 oder einem Foto von drei grinsenden Schuljungen mit einer selbstgebastelten Deutschlandfahne im Januar 1990 perspektivisch schwerlich zu konterkarieren sind. Mit Blick auf Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und rechtsextreme Gewalt stößt das sonst stilgebende Wechselspiel von Licht und Schatten im „Übergang“ an seine Grenzen.

Neben den wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen „Dimensionen“ werden auch die kulturellen Konstellationen der „Übergangsgesellschaft“ am Ende des Parcours durchleuchtet. Die Abteilung „Kultur“ erweist sich dabei als Hommage an das wilde Berlin der Techno-Ära und seine chaotisch-wuchernde Klub- und Künstlerszene, wobei das massive Eingangsportal des im untergründigen Grenzland zwischen Ost und West gelegenen „Tresor“ fast wie eine Ikone präsentiert wird. Unterhaltsam ist schließlich der Umgang mit den Ost-West-Stereotypen, bei dem die Ausstellung am Ende nochmal alles aufbietet, was man erwarten darf. Da lächelt die „Zoni-Gabi“ mit ihrer geschälten „Banane“ vom Titelblatt des Satiremagazins „Titanic“ und auch andere symbolisch aufgeladene Artefakte werden in einer Kontrastschau mithilfe von herausziehbaren Schubladen dargeboten: Klobige Westmanager-Handys, unterschiedliche Brötchentypen oder die von Kriminologen heiß diskutierte, im Kollektiv genutzte „Töpfchenbank“. Das alles ist erfrischend humorvoll, doch bleibt die Frage, ob ein solcher Umgang die bisweilen massiven zeitgenössischen Ost-West-Gegensätze nicht ein Stück weit zu stark ironisiert.

Wie schlägt sich also die Deutschland-Fahnen verpackende ältere Dame in der geblümten Kittelschürze, die prominent das Ausstellungsplakat ziert, im internen Aufmerksamkeitswettbewerb mit dem chimärenhaft-multisexuellen „Homosexualität_en“-Geschöpf und dem grinsenden 45er-Rotarmisten mit Hitlerbüste unter dem Arm? Bei einem nichtrepräsentativen Durchgang sprangen insbesondere die ungemein unterschiedlichen Besuchergruppen ins Auge. Gerade im Kontrast wirkt die von ZZF und DHM dargebotene Alltagsschau zu den 1990er-Jahren bunt, verspielt und populär. Doch handelt es sich hierbei um nicht weniger als ein Pionierunternehmen jenseits der wohlbekannten, auf große Politik(er) und Ereignisse ausgerichteten Jubiläums-Inszenierungen zu DDR, Revolution und Einheit. An manchen Punkten hätte die Schau kontraintuitiver ausfallen und vor allem stärker über Ostdeutschland bzw. Berlin als zentralen Referenz- und Bezugsräumen hinausblenden können: Tat sich in den „alten Ländern“ der Bundesrepublik wirklich so wenig, wie immer vorausgesetzt wird? Doch hiervon unbenommen bietet das so gezeichnete „Porträt“ einer „Übergangsgesellschaft“ ein Kaleidoskop des postsozialistischen „Schwebezustands“ zwischen umstrittener DDR-Vergangenheit, unübersichtlicher Gegenwart und unsicherer deutscher, europäischer wie globaler Zukunft, das von seinen Kontrasten, Widersprüchen und Ungleichzeitigkeiten lebt: Grellbunt, heiter und schrill einerseits, grau, verloren und trist andererseits. Ob der gewählte Erzählmodus deutsch-deutscher (Selbst-)Ironie geeignet ist, die zeitgenössischen Kampfnarrative von Erfolg bzw. Misserfolg der „Inneren Einheit“ bzw. „Transformation“ perspektivisch abzulösen, bleibt mit Blick auf die gerade erst beginnenden zeithistorischen Forschungen einer jüngsten Zeitgeschichte nach 1989/90 abzuwarten. In jedem Falle geht das Kernanliegen der sich auch selbst historisierenden Ausstellungsmacher vollends auf: Der „Alltag“ der „Einheit“ ist im Museum angekommen.

Anmerkungen:
1 Jürgen Danyel, Alltag Einheit: Ein Fall fürs Museum!, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 65 (2015), H. 33-34, S. 26-35, v.a. S. 30f., <http://www.bpb.de/apuz/210546/alltag-einheit-ein-fall-fuers-museum> (10.12.2015).
2 Angelika Kampfer, Übergänge. Von der DDR zur Bundesrepublik Deutschland, Köln 2006.

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