Homosexualität_en

Veranstalter
Deutsches Historisches Museum und das Schwule Museum*
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.06.2015 - 01.12.2015

Publikation(en)

Cover
Bosold, Birgit; Brill, Dorothee; Weitz, Detlef (Hrsg.): Homosexualität_en. . Dresden 2015 : Sandstein Verlag, ISBN 978-3-95498-163-2 224 S., 318 farb. Abb. € 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Norman Domeier, Historisches Institut, Universität Stuttgart

Das Konzept Ernst Blochs von der “Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen” hat wenig von seiner geschichtsphilosophischen Aktualität verloren, wenn man die Ausstellung “Homosexualität_en” besucht. Während das Deutsche Historische Museum (DHM) das Thema erstmals1 staatsmuseal sanktioniert und in der deutschen Hauptstadt anything goes nicht zuletzt als touristisches Erfolgsrezept gilt, ereifern sich zur selben Zeit auf der Leserbriefseite der “Stuttgarter Nachrichten” Wutbürger unter vollem Namen mit solchen Worten: “Getucke und Geschwuchtel haben in den Schulbüchern nichts, aber auch gar nichts verloren. Niemand sollte den Verlust von Moral und Anstand beklagen und so etwas ernsthaft in Erwägung ziehen.”2 Worte, die bis in die Formulierung auch 1908 in rechtspopulistischen und deutschnationalen Zeitungen wie dem “Reichsboten” hätten stehen können.

Die Sonderausstellung im DHM, kuratiert in Zusammenarbeit mit dem Schwulen Museum, ist opulent. Zum einen wegen der Größe des Ausstellungsbereiches auf zwei Etagen, gefüllt mit rund 800 Exponaten. Zum anderen, da sie mit einer Ausstellung zur Gegenwartskunst im Schwulen Museum sowie einer Audiotour zu Erinnerungsorten sexueller Vielfalt in Berlin verbunden ist. Wegmarken bei der Audiotour sind etwa das Reiterdenkmal Friedrichs II. an der Staatsoper oder das ehemalige Institut für Sexualwissenschaft Magnus Hirschfelds in der Nähe des heutigen Hauses der Kulturen der Welt. Die Audiotour wurde von Studierenden des Arbeitsbereichs Didaktik der Geschichte der FU Berlin erarbeitet und ist besonders für Geschichtslehrer mit Schülergruppen empfehlenswert.3

Für Historiker/innen und Geschichtslehrer/innen ist die DHM-Ausstellung eine Chance, in einen trotz aller Toleranzrhetorik der letzten Jahre und Jahrzehnte gesellschaftlich, politisch und kulturell nach wie vor unterbelichteten und mitunter immer noch tabuisierten Gesellschaftsbereich einzutauchen. Für Einsteiger bietet sich der eher chronologisch strukturierte Teil zur Geschichte der Homosexualitäten als Basis an. In dem nach Schlagworten arrangierten Teil auf der ersten Etage kommen auch Kenner und Aktivisten auf ihre Kosten, ohne dass allgemein Interessierte ausgeschlossen würden. Klassische Rubriken wie “§175”, “WhK” und “Urninge” stehen neben Überraschendem wie “Homolulu”, “Krüppellesben” und “Europameisterinnen”. Bei den Schlagwörtern mischen sich spontane gesellschaftliche Ereignisse mit sozialen Bewegungen und politischen Strukturen. Die durchweg eindrucksvoll bebilderten Schlagwörter sind auch im Begleitbuch zur Ausstellung ansprechend aufbereitet, in dem aus Platzgründen leider nicht alle Schlagwörter eingefügt werden konnten. Trotz einer unverkennbaren Schlagseite ins (West-)Berliner Biotop regen die Begriffe zu Nachfragen und historischen Nachforschungen an.

Connaisseure dürfen auf der zweiten Etage der DHM-Ausstellung vor spektakulären Originalen aus der Geschichte der Homosexualitäten verweilen, etwa der berüchtigten Visitenkarte, die für Oscar Wilde in dessen Londoner Club vom Marquess of Queensberry, dem Vater von Wildes Liebhaber Lord Alfred Douglas, abgegeben wurde. Mit ihr nahm die tragische Affäre um einen der bekanntesten Dichter der viktorianischen Ära ihren Anfang. Ebenso zu sehen ist der Brief Karl Maria Kertbenys von 1868, in dem erstmals der Begriff “homosexual” verwendet wird. Und auch ein neuer, spektakulärer Fund zum Eulenburg-Skandal (1906–1909) wird gezeigt. Im Magazin des DHM selbst wurde ein reich illustriertes Erinnerungsbuch Fürst Philipp Eulenburgs entdeckt, in dem einige heikle Fotos eine offenkundig allzu rasche Aufräumaktion überstanden hatten. Eines trägt Eulenburgs eigenhändige Bildunterschrift “Mein Freund Jakob Ernst” und hätte, wenn es im Gerichtsprozess gegen den besten Freund Kaiser Wilhelms II. bekannt geworden wäre, für eine Sensation gesorgt, da Eulenburg stets ein engeres Verhältnis mit dem Starnberger Fischerjungen Jakob Ernst bestritt.

Wie sollte es angesichts der schieren Masse, der Vielfalt der Exponate und ihren Darbietungen anders sein, bleiben Kritikpunkte nicht aus: Ob der europäische, speziell der britische Kolonialismus dazu beitrug, dass heute noch in 76 Ländern homosexuelles Verhalten bestraft wird, ist eine ausgesprochen fragwürdige These, die zudem nicht mit Argumenten gestützt wird. Das genaue Gegenteil scheint plausibler: Wo der europäische Kolonialismus nur oberflächlich agierte (etwa um der Machtkonsolidierung willen) oder wohin er überhaupt nicht ausstrahlen konnte, finden sich heute die globalen Hochburgen der Homophobie. Vom Einfluss des US-amerikanischen Evangelikalismus ganz zu schweigen.

Die Schau im Schwulen Museum sollte trotz der nicht ganz zentralen Location niemand verpassen. Sie ist zweifellos stärker Geschmacksfrage als die im Vergleich beinahe staatstragend wirkende Ausstellung im DHM. Die Disparität ist jedoch nur scheinbar. Zahlreiche Exponate und Informationen im DHM stammen aus dem Schwulen Museum. Als Klammer fungiert der an beiden Orten starke Einsatz von Oral History, Zeitzeugeninterviews und Rekonstruktionen persönlicher Schicksale; im DHM eindrücklich in dem von Klaus Müller gestalteten Gedenkraum für Verfolgte des NS-Regimes.

Hervorzuheben ist im Schwulen Museum vor allem der sehr ansprechende Kurzfilm “Deep Gold” von Julian Rosefeldt, der in einer Dauerschleife gezeigt wird. Historiker/innen und Geschichtslehrer/innen, die angesichts des Kunst-Schwerpunktes “inhaltlichen” Input vermissen, sei ein Besuch in Bibliothek und Archiv des Schwulen Museums empfohlen (idealerweise mit Voranmeldung), in denen mancher Bestand noch seiner historischen Aufarbeitung und didaktischen Nutzung harrt.

Die drei kombinierten Projekte, DHM, Schwules Museum und Berliner Erinnerungsorte sexueller Vielfalt, sind ein spannender und inspirierender Ausflug in die Geschichte der Homosexualitäten in Deutschland. Mit Pausen sollte man sich einen Tag Zeit nehmen. Ein Wermutstropfen bleibt, der verdeutlicht, dass nur ein Anfang gemacht worden ist: Mit der die Projekte beherrschenden Rede von Homosexualitäten, Trans-, Inter- und queeren Lebensformen wird die Vielfalt sexueller Identitäten unterstrichen. Doch diesen gegenüber wird, in einer historisch überholten Dichotomie, “die Heterosexualität”, “die heterosexuelle Norm” und “die Heteronormativität der Mehrheitsgesellschaft” behauptet und in vielen Kontexten regelrecht als Feindbild reproduziert. Selbst Vordenker wie Kertbeny und Hirschfeld waren gedanklich schon weiter. Vom allgemeinen sexuellen laissez faire des 20. Jahrhunderts, nicht immer linear-progressiv und mitunter durch erschreckende Gegenläufigkeiten gekennzeichnet, sowie den Aushandlungsprozessen zwischen den Sexualitäten, wie es die gegenwärtige Sexualgeschichte betont4, ist in den drei Projekten wenig angekommen. Um der eingangs zitierten moralischen Dummheit und historischen Ignoranz zu begegnen, sollten jedoch keine Gräben zu modernen Heterosexualität_en aufgeworfen, sondern geschlossen werden.

Anmerkungen:
1 Die Ausstellung “Eldorado” 1984 im Berlin Museum, die zur Gründung des Schwulen Museums führte, ist als Wegbereiter zu erwähnen.
2 Stuttgarter Nachrichten, Nummer 136, 17. Juni 2015, S. 12.
3 Sie kann kostenlos unter http://queerhistory.de/angebote heruntergeladen werden und ist auch als Unterrichts-Material ohne Berlin-Exkursion interessant.
4 Diese Wechselprozesse besonders eindrücklich in: Dagmar Herzog, Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, München 2005.

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