Der _spatial turn_ und die Osteuropäische Geschichte

Von
Frithjof Benjamin Schenk, Ludwig-Maximilians Universität

Der in den letzten Jahren viel diskutierte „spatial turn“ ist keine so umfassende Wende, wie oft gedacht – zum einen hat man sich außerhalb der deutschen und angelsächsischen Forschung auch zuvor intensiv mit der Kategorie „Raum“ befasst – so in der von der Annales-Schule geprägten französischen Forschung. Zum anderen geht es nicht um einen umfassenden Paradigmenwechsel, sondern darum, einen bisher vernachlässigten Aspekt bei der Untersuchung kultureller und sozialer Prozesse stärker zu berücksichtigen. Der Autor hebt hervor, dass „Raum“ keine historische Kategorie an sich ist, sondern dass der gesellschaftlich und historisch relevante Raum das Produkt menschlicher Handlung und Wahrnehmung ist. Durch die Hinterfragung gängiger Raumkonzepte – wie des „Osteuropa“-Begriffs durch die Osteuropa-Forschung in den letzten Jahren – kann das heuristische Konzept der Geschichtsregion als Strukturraum nutzbar gemacht werden.

Der Begriff des „spatial turn“, der seit einigen Jahren durch die Theoriedebatten in den Kultur- und Sozialwissenschaften geistert, ist in mehrfacher Hinsicht irreführend. Erstens suggeriert er, wie auch die anderen vergleichbaren Wendebezeichnungen wie z.B. der „linguistic“, der „cultural“ oder der „iconographic turn“, dass sich Historiker/innen, Literaturwissenschaftler/innen oder Soziolog/innen wie eine Gruppe Skifahrer verhalten, die den Berg der Erkenntnis im Gleichschwung mal links herum, mal rechts herum befahren und auf die eine Modewende zwangsläufig die nächste folgt. Der Begriff verschleiert, dass es meist nur wenige Wissenschaftler/innen sind, die versuchen, mit ihren neuen Fragen und methodischen Ansätzen bislang vernachlässigtes oder unbearbeitetes Terrain zu betreten während sich die meisten Kolleg/innen zunächst in skeptischer Zurückhaltung üben. Zweitens erweckt speziell der Begriff des „spatial turn“ den Eindruck, als habe man sich in den Sozial- und Kulturwissenschaften in den vergangenen Jahrzehnten kaum mit räumlichen Fragen befasst und hole dies nun in der Folge einer neuen paradigmatischen Wende nach. Es stimmt zwar, dass die Vokabel „Raum“ bis vor kurzem in der deutschsprachigen historischen Literatur eher gemieden denn erkenntnisleitend genutzt wurde. Gleiches gilt für bestimmte Zweige der englisch-sprachigen Sozialwissenwissenschaften. In beiden Bereichen dominierten bis vor kurzem – grosso modo – Erklärungsmuster und -modelle für historische und soziale Prozesse, die dem Faktor „Zeit“ eine relativ große und dem Faktor „Raum“ eine relativ kleine Rolle zumaßen. Blickt man jedoch auf Wissenschaftskulturen anderer Länder, z.B. nach Frankreich, so bietet sich ein ganz anderes Bild: Hier haben Historiker/innen keine vergleichbaren Berührungsängste mit raumorientierten Nachbardisziplinen, wie z.B. der Geografie, und die Traditionen der Schule der Annales wirken hier ungebrochen bis heute fort. Von einem umfassenden „Verlust“ bzw. einer „Wiederkehr des Raumes“ kann also in internationaler Perspektive keine Rede sein. Drittens schließlich erweckt der Begriff des „spatial turn“ den Anschein, als gebe es eine Gruppe von überzeugten Raumtheoretikern, deren Interesse es ist, die gesamte scientific community auf ein neues Paradigma einzuschwören, dem nun alle wissenschaftliche Erkenntnis zu folgen habe. Dies ist – zumindest aus meiner Sicht – kaum der Fall. Den meisten Wissenschaftler/innen, die sich für eine verstärkte Auseinandersetzung mit dem Themengebiet „Raum“ einsetzen, ist nicht an einer neuen Wende, sondern nur nach einer verstärkten Berücksichtigung eines vernachlässigten Aspektes kultureller und sozialer Prozesse gelegen.

Über die in der Tat spannende Frage, warum heute wieder verstärkt nach der Relevanz räumlicher Ordnungen und Strukturen für gesellschaftliche Prozesse – auch in historischer Perspektive – gefragt wird, möchte ich an dieser Stelle nicht spekulieren. Mir sind vielmehr zwei andere Punkte wichtig. Erstens möchte ich betonen, dass die aktuellen Debatten in den Sozial- und Kulturwissenschaften über „Raum und Gesellschaft“ ein Reflexionsniveau erreicht haben, das diese deutlich von z.B. geo-deterministischen Ideologien eines Karl Haushofer oder anderer Vordenker der Geopolitik aus der Zwischenkriegszeit unterscheidet. Vorwürfe, die darauf abheben, der spatial turn würde die Gespenster der Vergangenheit wecken, gehen – so zumindest meine Sicht – in den meisten Fällen am Ziel vorbei. Zweitens fällt es mir schwer, mit Blick auf die Arbeit meiner eigenen Fachdisziplin und die Rezeption raumtheoretischer Ansätze, der Osteuropäischen Geschichte im Vergleich zur so genannten „allgemeinen Geschichte“ einen besonders progressiven oder rückschrittlichen Charakter zu attestieren. Ich denke vielmehr, dass sich unser Zweig in dieser Hinsicht weder verstecken noch besonderer Innovationskraft zu rühmen braucht. Osteuropahistoriker arbeiten – so weit ich das beurteilen kann – weltweit an Fragenkomplexen, die auch die Spezialisten anderer Regionen bewegen. Gleichzeitig harren bestimmte relevante Themen sowohl in unserer Disziplin als auch in der „allgemeinen“ Geschichte noch der intensiven Bearbeitung. Auf diese beiden Aspekte, die neueren methodischen und theoretischen Ansätze auf dem Forschungsfeld „Raum und Gesellschaft“ und die Einbettung unseres Fachdiskurses in die allgemeine Debatte möchte ich im Folgenden kurz eingehen.

Der wesentliche Punkt, der aus meiner Sicht aktuelle Debatten und Forschungsansätze zum Themenfeld „Raum und Gesellschaft“ von jenen der Vorkriegszeit unterscheidet, ist ein vollkommen anderer Raumbegriff und ein anderes Verständnis davon, was man sich unter „Raum“ vorzustellen habe. Während noch die Schulen der Geopolitik und der klassischen Geografie davon ausgingen, dass Raum – vor allem begriffen als Territorium – unabhängig vom Menschen existiere, sich historische Prozesse im „Raum“ wie in einem Container oder einem fest gefügten Behälter entfalten oder der Raum gar bestimmte historische Entwicklungen determiniert, beschreiben Raumsoziologen heute wie z.B. Dieter Läpple, Martina Löw oder Gabriele Sturm – in Anlehnung an Arbeiten von Georg Simmel, Pierre Bourdieu, Henri Lefebvre oder Anthony Giddens – gesellschaftlich und historisch relevanten Raum primär als das Produkt menschlicher Handlung und Wahrnehmung. In Abgrenzung von älteren, essentialistischen Raumvorstellungen hat der Berliner Geografie-Historiker Hans-Dietrich Schultz diesen neuen, dekonstruktivistischen Ansatz einmal auf die einprägsame Formel gebracht: „Räume sind nicht, Räume werden gemacht!“ Dieser Paradigmenwechsel lässt sich im wahrsten Sinne des Wortes als „spatial turn“ bezeichnen. Während – vereinfacht gesprochen – Theoretiker der Geopolitik darüber reflektierten, wie der Raum gesellschaftliche Prozesse gleichsam erzwang, denken Raumsoziologen heute darüber nach, wie der Mensch räumliche Ordnungen schafft und welche Bedeutung diese wiederum für soziale Prozesse entfalten. Dabei rücken Fragen der aktiven Gestaltung des dreidimensionalen physischen Raumes, seiner Bebauung und Erschließung ebenso in den Blick wie solche nach raumstrukturierenden Regeln und Normen, nach sozialen Praktiken im Raum und der Wahrnehmung und symbolischen Codierung von Räumen durch den Menschen.

Maßgeblich für diesen neuen raumtheoretischen Ansatz sind nicht in erster Linie Arbeiten von Historiker/innen gewesen sondern vielmehr Studien und Debatten aus den Disziplinen Soziologie, Raum- und Planungswissenschaften und Geografie. Allerdings haben aber auch Historiker/innen wertvolle Beiträge zu dieser Debatte – insbesondere aus erinnerungs-historischer Perspektive – geleistet. Zu nennen wären hier z.B. Pierre Nora und sein Ansatz der lieu de mémoire oder Aleida Assmanns Konzept der „Erinnerungsräume“.

Aus meiner Sicht ist es müßig darüber zu spekulieren, von wo nun die jeweiligen innovativen Impulse und Gedankenanstöße genau herkamen und wer sie „nur“ für ein konkretes Forschungsprogramm fruchtbar gemacht hat. Unstrittig scheint mir jedoch, dass auch in den Geschichtswissenschaften seit einiger Zeit auf ganz unterschiedliche Weise über „Gesellschaft und Raum“ neu nachgedacht wird und dass sich auch die Osteuropäische Geschichte in diesem Feld auf der Höhe der Zeit bewegt. In diesem Kontext sind Arbeiten über Reisen, Infrastrukturprojekte und Erschließung von Territorium, über Landschaft und Landschaftsmalerei, über Städte, über Kolonialismus und Imperialismus, über Imperien sowie über imaginierte Geografie und mental maps zu nennen. Wie gesagt, diese Liste ist bei weitem nicht vollständig, zeigt jedoch ganz anschaulich, dass die Osteuropäische Geschichte voll in den allgemeinen intellektuellen Diskurs über „Raum und Gesellschaft“ in historischer Perspektive integriert ist. Dessen ungeachtet gibt es in der so genannten „allgemeinen Geschichte“ einige rauminteressierte Forschungsansätze, die noch auf entsprechend komplementäre Vorhaben aus unserem Fach warten. Hier wäre – aus meiner Sicht – z.B. die Geschichte der Kartografie oder eine Kulturgeschichte des Reisens bzw. die Neukodierung und Neuordnung sozialer Räume im Zeitalter der Eisenbahn zu nennen.

Fragt man schließlich nach Forschungsansätzen und Debatten der Teildisziplin Osteuropäische Geschichte, die sich als besonders fruchtbar für einen intensivierten Dialog mit der „allgemeinen Geschichte“ anbieten und die im weitesten Sinne dem Themenfeld „Raum und Gesellschaft“ zugeordnet werden können, so würde ich vorschlagen, den Blick auf die Diskussion über mental maps und europäische Geschichtsregionen zu lenken. Uns allen sind die Arbeiten von Hans Lemberg, Larry Wolff, Mark Bassin und Maria Todorova bekannt und ich muss hier nicht betonen, wie viel die Osteuropäische Geschichte in den vergangenen Jahren zum Verständnis der Geschichte der Karten in unseren Köpfen beigetragen hat. Ebenso vertraut sind wir mit der Debatte innerhalb unseres Faches der späten 1990er-Jahre über die Bedeutung der Dekonstruktion der Geschichtsregion „Osteuropa“ für das Selbstverständnis und die Existenzberechtigung unserer Disziplin. Ich denke, die Diskussion hat unserem Fach eher genutzt denn geschadet. Dies zeigt sich z.B. daran, dass die Geschichtsräume mit denen wir arbeiten, wie z.B. „Osteuropa“, „Ostmitteleuropa“ oder „Südosteuropa“, heute noch stärker als Konstrukte und heuristische Hilfsmittel angesehen werden, als noch vor wenigen Jahren. Interessanterweise haben diese als menschliche Entwürfe „enttarnten“ Raumbegriffe jedoch wenig von ihrer Attraktivität als Orientierungshilfen innerhalb unserer Fachdebatten verloren. Vielmehr werden sie nach wie vor intensiv als Kategorien insbesondere innerhalb komparativer historischer Forschungsprojekte genutzt. Trotz der Erkenntnis, dass es sich z.B. bei „Osteuropa“ in vielfacher Hinsicht primär um einen „Wahrnehmungsraum“ handelt, dessen Wurzel im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert zu finden sind, geht die Suche nach dem „Strukturraum“ Osteuropa weiter.

Gerade dieses Spannungsverhältnis zwischen der Betrachtung einer Geschichtsregion als Erfindung, Konstruktion und Produkt von Wahrnehmungs- und Kommunikationsprozessen und dem Verständnis einer Geschichtsregion als Strukturraum bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte zu vergleichbaren Arbeitsfeldern der europäischen Geschichte wie z.B. der Erforschung „Südeuropas“, „Nordeuropas“, „des Westens“ oder des „Mittelmeerraums“. An einer Tagung zum Thema „Der Süden – auf der Suche nach einer europäischen Geschichtsregion“ 2005 in Berlin etwa haben sowohl Südosteuropahistoriker als auch Experten für die spanische, italienische, griechische und französische Geschichte teilgenommen. Ziel war eine offene Diskussion über den Süden Europas als Strukturraum, Wahrnehmungsraum und Handlungsraum. Von besonderem Interesse war dabei der Vergleich von Strategien der Markierung einer bestimmten Region als „anders“ bzw. abweichend von einer gesetzten Norm in Ländern Südeuropas auf der einen und Ländern Südosteuropas auf der anderen Seite. Unsere Kollegen aus der Südeuropäischen Geschichte haben sich nicht nur sehr gerne auf den Dialog mit den Vertretern der Südosteuropäischen Geschichte eingelassen, sondern gerade der Diskussionsstand in unserer Disziplin über Geschichtsregionen als theoretisches und methodisches Problem erwies sich als sehr fruchtbare Basis für den interdisziplinären Dialog. Während die westeuropäische bzw. allgemeine Geschichte immer stärker darum bemüht ist, die enge Sichtweise der einzelnen Nationalhistoriografie zu überwinden und zu einem Verständnis von Süd-, Nord- oder Westeuropäischer Geschichte zu gelangen, sind die Analyserahmen für eine komparativ angelegte Geschichtsschreibung in unserem Fach bereits vorhanden. Wir kennen aus unserer eigenen Fachgeschichte bereits die Vorteile von beziehungs-, transfer- und verflechtungsgeschichtlichen Ansätzen, wissen aber gleichzeitig auch um die teleologischen Fallstricke essentialistisch gedachter Geschichtsregionen. Gerade das Projekt einer europäischen Geschichte, das darauf abzielt, die Europäische Union als den zwangsläufigen Fluchtpunkt einer Jahrhunderte währenden Entwicklungslinie zu stilisieren, könnte von den Einsichten unserer Disziplin in die Konstrukthaftigkeit von Geschichtsregionen nur profitieren. Wenn es gelänge, unser Wissen um die „Erfindung Osteuropas“ in die Debatte um die Beschreibung Europas als Strukturraum und globale Geschichtsregion einzubringen, wäre das nicht nur für unser Fach, sondern auch für die europäische Geschichte ein großer Gewinn.

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