HT 2010: Passagen über Grenzen

HT 2010: Passagen über Grenzen

Organisatoren
Matthias M. Tischler, Technische Universität Dresden / Universitat Autònoma de Barcelona; Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.09.2010 - 01.10.2010
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Von
Britta Müller-Schauenburg, Hugo von Sankt Viktor – Institut, Philosophisch-Theologische Hochschule Sankt Georgen, Frankfurt am Main

Im Panorama der Begriffe, die vermittels der Transferforschung in den vergangenen Jahren neu eingeführt und etabliert wurden, ist der Begriff der „Passage“ mit Rückgriff auf Walter Benjamin ein noch deutlich unterrepräsentierter Begriff. Als genuin geschichtsphilosophischer Begriff ist er anspruchsvoll und theoretisch komplex, der im Hintergrund stehende zentrale Quellentext ist ein schwer zu lesender philosophisch-erkenntnistheoretischer Entwurf1. Doch das erschließende Potenzial, das er birgt, ist enorm. Im folgenden Bericht wird (I.) der Aufbau der Sektion, (II.) der Begriff der „Passage“ so, wie er vom Sektionsleiter zu Grunde gelegt wurde, und (III.) jeweils eine kurze Zusammenfassung der einzelnen Vorträge referiert, um dann zuletzt (IV.) den Diskussionsertrag zu würdigen.

Die Sektion
Das nachwuchswissenschaftlich besetzte Referenten-Panel realisierte durch die beteiligten Personen bzw. Universitäten von Paris – über Barcelona, Heidelberg und Dresden – bis Bochum Internationalität von Marokko bis Deutschland, Multireligiosität durch die teilnehmenden Christen, Juden und Muslime, sowie Multilingualität durch die Sektionssprachen Deutsch, Französisch und Englisch. Der Kern des Panels ergab sich aus dem nunmehr in der dritten Förderphase befindlichen mediävistischen Schwerpunktprogramm 1173 der Deutschen Forschungsgemeinschaft, aus dessen Ergebnissen es seine zentralen Fragestellungen und den Forschungsverbund der internationalen Referenten bezog. Eine Veröffentlichung der Beiträge ist geplant. Das Vortragsprogramm wurde nach einer übergreifenden Einführung in den Begriff der „Passage“ gegliedert in zwei Untersektionen zu je zwei Vorträgen mit Diskussion, unterbrochen durch eine kurze Pause, und am Ende zusammengebunden durch eine Abschlussdiskussion mit Fokus auf das Passagen-Paradigma.

Der Begriff der „Passage“
Den Begriff der „Passage“ entfaltete MATTHIAS M. TISCHLER (Dresden / Barcelona) als einen bereits bei W. Benjamin vieldimensionalen Begriff zwischen Reflexion und Performation des Forschens. Bekannt sei, dass Benjamin in vielfacher Weise in „Passagen“ involviert war, als jüdisch-deutscher Philosoph sowie fachlich oszillierend zwischen den Disziplinen Philosophie, Germanistik und Geschichte. Sein Leben hat fast datumsgenau vor 70 Jahren in der Nacht vom 26. auf den 27. September 1940 auf der Flucht vor den Nationalsozialisten im bergigen Grenzraum zwischen Frankreich und Spanien vor der verweigerten Passage ausweglos mit dem Suizid geendet. Die „Passage“ sei schon bei Benjamin selbst, dessen letztes Werk den Titel „Der Begriff der Geschichte“ trägt, mit der historischen Disziplin eng verbunden. Im 2. und 3. Februar 2007 fand in Bordeaux erstmals eine Tagung von europäischen Mediävisten zum Passagenbegriff statt, unter dem Titel „Passages – Déplacement des hommes, circulation des textes et identités dans l'Occident médiéval“, in deren Folge Tischler diese Sektion sachlich einordnete. Seit der kulturanthropologischen Wende richte sich das historische Interesse insgesamt zunehmend auf Phänomene der Transkulturalität und untersuche an ihnen Bedingungen und Aktionen von Grenzüberschreitungen und Ortswechseln aller Art, insofern sich mit ihnen ein Wechsel des Darstellungs- und Interpretationsrahmens vollzieht. Im Reigen der Leitbegriffe der Transferforschung stelle der Passagen-Begriff allerdings nicht einfach nur ein weiteres Konzept zur Verfügung, sondern er leiste performativ die Verbindung von Quellenbegriff und Erkenntniskategorie im „Ort“ bzw. „Raum“ und zwinge in ein „Denken in Passagen“. Denn schon im Mittelalter finde sich der Begriff „passaticum“ (Zoll) im Fundus der lateinischen Sprache. Er konnte auch die Bedeutung „Fährgeld“ oder „Zollstation“ annehmen, und schließlich in der Handelssprache die „Überfahrt“ im weitesten Sinne bedeuten. Dieses Denken vermeide essentialistische Begriffe („Kultur“, „Religion“) und ein Operieren mit oppositionellen Begriffspaaren („lateinisch/arabisch“ oder „christlich/muslimisch“) und richte sich primär auf die Prozesse, auf die Passage als Ereignis, und ihre Wirkung und versuche auf diesem Wege, Kenntnis zu gewinnen über den Anderen, Partner, Nachbarn. Der Begriff der „Grenze“ selbst sei neu zu bedenken, indem der Ereignisstruktur und dem Erkenntnispunkt der Passage alle Aufmerksamkeit gewidmet werde, vor dem Hintergrund der Tatsache, dass jedes Passieren einer Grenze diese überhaupt erst zu ziehen ermögliche, und, mehr noch, das Ziehen neuer Grenzen notwendig impliziere (Foucault). Ähnlich wie „Migration“ sei auch „Passage“ ein offener Bewegungsbegriff ohne teleologische Konnotation, aber anders als bei „Migration“ gerieten in der „Passage“ eher kleinere Einheiten in den Blick, die unter Umständen auch nicht von hoher Dauer seien: Individuen, die nicht zwangsläufig mit einem klaren Ziel und einem eindeutigen Motiv flüchtig oder vorübergehend den Ort verlassen, und dies für einen begrenzten Zeitabschnitt – eben den der Passage. Das Passagenparadigma besitze daher eine Tendenz zu Mikrostudien, und favorisiere das Individuum in seinen singulären Bewegungsmomenten als leitende Einheit. Vielfältige geographische, institutionelle, geschlechtliche, sozialschichtbezogene, sprachliche und religiöse Forschungsfelder seien denkbar. Als thematisches Bindeglied dieser Sektion fungiere das Mittelmeer als kultureller Bewegungsraum zwischen den an ihm partizipierenden kulturellen und religiösen Anrainern.

Vorträge
YASSIR BENHIMA (Paris) beschrieb den Prozess der Islamisierung im südwestlichen Maghreb in der Zeit vom 7. bis zum 8. Jahrhundert als eine religiöse Passage. Nach der ersten militärischen Eroberung durch Muslime sei der Islam nur sehr teilweise auf eine romanisierte Vorkultur gestoßen, und, vor allem in der berberischen Bevölkerung, auf polytheistische Kulte wie zum Beispiel den Widderkult. Aus der arabischen Sprache stünden drei Wurzeln für den Begriff des „Heiligen“ zur Verfügung: QDSH, HRM, GRM (letzteres sei besonders in die Tradition der Berber aufgenommen worden). Im Westen des Maghreb könne man von drei „Stratifikationen“ des Heiligen sprechen: einem sogenannten prä-islamischen Paganismus, einem prä-islamisch bezeugten Ram-Kult oder Widderkult, und einer Abspiegelung des Ram- oder Widderkultes in Orts- und Personennamen. Anfangs hätten die Berber noch in gerader Konkurrenz mit den Arabern gestanden, mit fortschreitender Islamisierung sei aber die eigene Herkunft so umgeschrieben worden, dass die legendären Begleiter des Mohammed hinzugenommen und Datierung der Islamisierung vorverlegt worden sei in eine Zeit, in der historisch davon noch nicht die Rede gewesen sein könne. Frühe Moscheen hätten noch lange an das prä-islamische „Geheiligte“ erinnert.

DANIEL KÖNIG (Paris) befasste sich mit Verzerrungen in Bezug auf die heutige Wahrnehmung der Informationsvermittlung zwischen lateinisch-christlicher und arabisch-islamischer Welt, die er als vornehmlich kulturelle Passage begriff. Eine Korrespondenz zwischen muslimischen Herrschern und dem Papst etwa fände sich auf der lateinisch-christlichen Seite in über 26 lateinischen Briefen der Päpste, einem arabischsprachigen Original und neun lateinischen Übersetzungen von Antworten bezeugt, während auf muslimischer Seite nur ein einziger Brief erhalten sei. Die Beziehungen auf der Grundlage der arabischen Quellen rekonstruieren zu wollen, wäre also falsch. Ähnliche Fehler aber begehe man, wenn man für eine Beurteilung des Informiertseins etwa den genauen geographischen Sitz und die „Umwelt“ des in Frage stehenden muslimischen Gelehrten nicht beachtete. Einzelstudien zeigten, dem „Gesamteindruck“ entgegen, eine große Vielfalt an Kontakten zu oftmals auch überraschenden und unerwarteten Fragen (beispielsweise eine sorgfältige Recherche eines malikischen Rechtsgelehrten in Alexandria zu Beginn des 12. Jahrhunderts zu der Frage, ob der Verzehr christlichen Käses zu empfehlen sei). Und auch für eine sich nach Abzug all dieser Sonderbedingungen eventuell noch abzeichnende „schlechte“ Informationssituation der arabisch-muslimischen Welt im Vergleich mit der lateinisch-christlichen lohne sich das sehr genaue Hinsehen, bevor man unterstellten „mentalen Barrieren“ das Wort rede.

JENNY RAHEL OESTERLE (Bochum) zeigte die Fragilität des interreligiösen Beziehungsgeflechtes am fatimidischen Kalifenhof in Kairo auf, wo 995 ein dem Kalifen al-Aziz auf einem Ausritt von einem Unbekannten zugesteckter Zettel mit der Klage, der Kalif kümmere sich um Juden und Christen, aber nicht um die Muslime, eine Umbesetzungswelle für die öffentlichen Ämter und eine faktische Verdrängung der bis dahin durchaus vorhandene jüdischen und christlichen Beamten am Kalifenhof zur Folge hatte: Wo bis dahin die persönliche Qualifikation für die Laufbahn ausschlaggebend gewesen sei und Religionszugehörigkeit insgesamt keine Rolle gespielt habe, sei plötzlich die Religionszugehörigkeit entscheidend gewesen, obwohl der Konflikt an sich kein religiöser gewesen sei, sondern eine Frage des Einflusses und der Macht am Hofe. Zugleich seien unter Leitung des Kalifen Religionsdisputationen abgehalten worden, in denen sich die Rolle des Moderatoren allerdings von einem Augenblick zum nächsten in die des Machthabers, der mit militärischen Maßnahmen und Vernichtung droht, wandeln konnte, was die These von Michael Borgolte, diese Religionsgespräche seien weniger Versuche des Verstehenwollens als vielmehr eine Form der Konfliktaustragung gewesen, bestätige.

FREDEREK MUSALL (Heidelberg – abwesend, Paper wurde verlesen) widmete sich den wesentlichen philosophischen und theologischen Argumenten und inhaltlichen Analogien und Differenzen in rechtstheologischen Schriften des Al-Ghazali und Moses Maimonides vor dem Hintergrund der Frage, ob und in wiefern auch Intertextualität als eine Form von religiös-kultureller „Passage“ analysiert werden kann. Die literarische Abhängigkeit des Al-Ghazali von Maimonides sei nicht unwahrscheinlich, auch wenn er in Bezug auf Maimonides vollständig schweige und jegliche beleghafte Referenz fehle. Die Analyse müsse sich in diesem Fall also auf inhaltliche Übereinstimmungen beschränken. In dieser Hinsicht lasse sich allerdings eine deutliche gemeinsame Ausrichtung hin auf die Tradition der negativen Theologie feststellen sowie eine gemeinsame Interpretation des „Wissens“ letztlich als ein religiöses Wissen, wenngleich beide Philosophen naturwissenschaftliches Wissen dem religiösen Wissen nicht entgegenstellten, sondern die Wissensformen in einer grundsätzlichen Einheit sähen, was ein weiteres gemeinsames Element beider Bücher darstelle.

Der Ertrag der Diskussion
Gerade auch vermittels der Schlussdiskussion zu Status und „Verortung“ der „Passage“ als geschichtswissenschaftliches Forschungsparadigma ließ sich das Problembewusstsein hinsichtlich der großen Herausforderung schärfen, die speziell dieser Begriff in seiner anspruchsvollen Fassung bedeutet. Die Herausforderung liegt darin, den Begriff nicht wieder als einen weiteren „Kasten“ mißzuverstehen, und diesen neben die anderen „Kästen“ namens „Kultur“, „Religion“, „Staat“, „Nation“ etc. zu stellen, während die Art des forschenden Zugriffs und die Perspektive unverändert bleiben. Die „Passage“ avisiert vielmehr den Raum, das Ereignis und die Umstände des Übergangs, der im „Dazwischen“ überhaupt erst seine Begriffe ausbildet. Für die Wissenschaftssprache folgt daraus die Notwendigkeit einer sehr grundsätzlichen Reformulierung des Standardvokabulars, die in mühevoller Kleinarbeit zu leisten ist.

Das mittelalterliche Mittelmeer als verbindendes Element des Vortragspanels bewährte sich einmal mehr hervorragend als Bereich eines solchen Versuches, in seiner Stellung als exzellenter Weg und Verbindungsraum ohne eine „eigene“ dominierende Qualität. Zugleich wird klar, wie wenig auch die Einzelstudie bereits von selbst das „Denken in Passagen“ mit sich bringt, nur, weil sie einen Übergang zum Thema macht. Wenngleich die primäre Form der Passagenforschung sicher die Mikrostudie ist und sein wird, betrifft die Herausforderung doch in einem ganz umfassenden Sinne das gesamte Forscher- und Forschungsszenario, in dem sie angelegt und formuliert wird, ihr theoretisches und methodisches „Framing“.

Sektionsübersicht:

Matthias M. Tischler (Dresden / Barcelona): „Passagen über Grenzen“. Einführung in ein Forschungsparadigma

Yassir Benhima (Paris): Construction religieuse du territoire et processus d’islamisation au Maroc (IXe–XIIIe siècle)

Daniel König (Paris): Mittelalterlicher „Datenverkehr“ und seine Hürden. Zu Verzerrungen im Rahmen der Informationsvermittlung zwischen lateinisch-christlicher und arabisch-islamischer Welt

Jenny Rahel Oesterle (Bochum): Multireligiosität im höfischen Leben. Barrieren und Grenzen?

Frederek Musall (Heidelberg): Barrieren – Passagen. Intertextualität zwischen dem Ihya ulum ad-addin des Abu Hamid ibn Muhammad al-Ghazali und der Mishne Torah des Moses Maimonides

Anmerkungen:
1 Rolf Tiedemann (Hrsg.), Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Frankfurt am Main 1983.
[2] Vgl. als Sammelband aus diesem Verbund: Michael Borgolte / Juliane Schiel / Bernd Schneidmüller / Annette Seitz (Hrsg.), Mittelalter im Labor. Die Mediävistik testet Wege zu einer transkulturellen Europawissenschaft, Berlin 2008. Die Website findet sich unter <http://www.spp1173.uni-hd.de/links.html> (26.10.2010),


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