HT 2010: Grenzen der Sicherheit – Grenzen der (Spät-)Moderne?

HT 2010: Grenzen der Sicherheit – Grenzen der (Spät-)Moderne?

Organisatoren
Cornel Zwierlein, Ruhr-Universität Bochum; Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.09.2010 - 01.10.2010
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Von
Christoph Wehner, Lehrstuhl für Zeitgeschichte, Ruhr-Universität Bochum

Die transepochal angelegte Sektion „Grenzen der Sicherheit – Grenzen der (Spät-)Moderne?“ unter Leitung von CORNEL ZWIERLEIN (Bochum) widmete sich dem Verhältnis von Sicherheitsregimen, Zeit- und Epochenvorstellungen vom Mittelalter über die Frühe Neuzeit bis hin zur Zeitgeschichte. Sie zielte in dieser Konstellation auf eine Zusammenführung disparater Forschungsdiskussionen um den Begriff der ‚Sicherheit’, der in den letzten Jahren zunehmend zu einer Leitkategorie der historischen Forschung avancierte und in diesem Zuge eine starke Erweiterung erfahren hat.

Wie CORNEL ZWIERLEIN (Bochum) in seiner Einführung betonte, finde die disziplinäre Entgrenzung des Sicherheitsbegriffs ihre Entsprechung in dem freilich latent normativ-ideologischen Konzept der human security, das seit den 1990er-Jahren in der internationalen Politik und seit 1994 auf UN-Ebene die State Security des klassischen Westfälischen Systems ersetzen oder sich zumindest komplementär zu ihr verhalten solle. Unter dem Namen der human security würden daher heute die unterschiedlichsten Gefahren, von Naturkatastrophen, Gewalt und Kriminalität, Hunger und Nahrungs-Unsicherheit bis hin zu sicherer Verkehrspolitik auf einer Ebene verhandelt; den Bezugsrahmen bilde dabei primär die Sicherheits-Bedürfnisstruktur des Individuums, nicht mehr der Staat. Damit verflochten ist auch die Rede von der Wiederaufnahme vor- oder frühmoderner Vorstellungen von ‚Sicherheit’ im entgrenzten Konzept der human security. Im Zentrum der Sektion müsse daher die Frage nach den Folgen stehen, die die massiven Verschiebungen der Zuständigkeits- und Aufgaben-Grenzen von ‚Sicherheit’ in der internationalen Politik der jüngsten Zeit für die Konzeption von Epochengrenzen hat. Zum Verhältnis von Sicherheits- und Epochengrenzen stellte Zwierlein weiter erste Überlegungen an: Insbesondere diskutierte er, ob die Frage nach Epochenmerkmalen und -unterschieden überhaupt noch sinnvoll sei und nicht doch zwangsläufig in eine tautologische Reifizierung einschlägiger Schemata münde, wie es insbesondere postkoloniale Theorie, historische Anthropologie und neo-hermeneutische Ansätze kritisierten. Im Ergebnis hielt Zwierlein die Suche nach Unterscheidungsmerkmalen jedoch heuristisch für hilfreich, ginge ohne sie doch eine diachrone Tiefendimension der Geschichte verloren.

Die Frage nach der historiographischen Konstruktion von Epochengrenzen stand auch im Zentrum des Vortrags von STEFFEN PATZOLD (Thüringen). Patzold skizzierte zunächst die bereits seit dem 19. Jahrhundert präsente und unter Mediävisten nach wie vor andauernde Debatte, inwieweit sich Elemente des modernen Staats bereits im Mittelalter zeigten. Er begriff den ‚modernen Staat’ dabei als potente Konstruktion des 19. Jahrhunderts, die die übliche Unterscheidung von ‚vormodern’ und ‚modern’ geprägt habe, und nahm die aktuelle Diskussion um failing states zum Anlass, neu über dieses Verhältnis nachzudenken. Das mit der fragilen Staatlichkeit eng verbundene Konzept der human security hielt Patzold aufgrund seiner normativ-deskriptiven Implikationen allerdings für zu unscharf, um es als heuristisches Element für eine historische Analyse nutzen zu können. Dennoch berge die Debatte um den Wandel von Sicherheit und Staatlichkeit Potentiale, insbesondere für die mediävistische Forschung. Sie eröffne die Chance, die überkommene Dichotomie einer nicht-staatlichen Vormoderne und einer staatlichen Moderne als Interpretationsraster zu überwinden und politische Systeme und ihre Herstellungspraktiken von ‚Sicherheit’ diachron zu historisieren. So könnten die im human security-Konzept anthropologisch-universell gedachten Werte (Individualität, körperliche Unversehrtheit) über die Einholung transepochaler Perspektiven in ihrer zeitlichen Bedingtheit sichtbar gemacht, sodann ein Erkenntniswert für die gegenwärtige Diskussion erzielt werden.

STEFANIE RÜTHER (Münster) widmete sich in ihrem Beitrag den Möglichkeiten und Grenzen von Sicherheitspolitik zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit. Rüther kritisierte dabei zunächst die einseitige Betrachtung der religiösen Dimensionen mittelalterlicher Sicherheitsproduktion. Dies habe zu der Annahme geführt, dass Bedrohungen im Mittelalter vor allem als gottgewollt perzipiert worden seien und umgekehrt eine systematische Sicherheitsvorsorge kaum existiert hätte. Den Ursprung dieser eingeschliffenen Deutung erblickte Rüther in dem Selbstverständnis einer säkularisierten Moderne, das metaphysische Überzeugungen und rationale Praktiken als sich wechselseitig ausschließende Phänomene begreife. Demgegenüber verlieh Rüther einer aktiven mittelalterlichen Sicherheitspolitik jenseits von „Gebeten, Stiftungen und Prozessionen“ Konturen. Anhand zahlreicher Beispiele zu den Praktiken herrschaftlicher Sicherheitserzeugung und deren Rezeption durch die betroffenen Gruppen verwies sie auf den dezentralen Charakter mittelalterlicher Sicherheitsproduktion, der in deutlichen Kontrast zu dem allumfassenden Anspruch der human security stünde. Mittelalterliche Sicherheit müsse vielmehr als Privileg, das verschiedenen sozialen Gruppen von Herrschaftsträgern gewährt worden sei, fokussiert werden, als interpersonale Relation, die spezifische Bindungen zwischen Akteuren schuf und so auch sozialkonstruktivistische Ordnungsleistungen implizierte. Diesem sozialen Konstruktionscharakter vielschichtiger ‚Sicherheiten’ müsse Rechnung getragen werden, möchte man nicht vorschnell Parallelen zwischen vormodernen und modernen Formen der Sicherheitsproduktion ziehen.

Der Beitrag von CORNEL ZWIERLEIN (Bochum) griff die bereits angeklungene Kritik am Normativitätsgehalt des human security-Begriffs auf, verwies jedoch zugleich auf dessen heuristischen Wert, um Gefahren und Risiken des Einzelnen in unterschiedlichen Epochen sowie die dazugehörigen staatlichen wie nicht-staatlichen Sicherheitsregime und -institutionen zu fokussieren. Im Zentrum von Zwierleins Vortrag stand daher auch die historische Ausdifferenzierung des Versicherungsprinzips anhand der Epochenmarker 1300, 1700 und 2000 und dessen Relevanz für die Konstituierung einer ‚sicheren Normalgesellschaft’. Konkret ging es dabei um die Frage, inwieweit Versicherungsgrenzen mit sicherheitsgeschichtlichen Epochengrenzen korrelieren. Für Zwierlein markiert die Entstehung des Prämienversicherungsprinzips im 14. und dessen Transfer und Ausweitung im 18. Jahrhundert einen wichtigen Indikator der Epochenschwelle zur Neuzeit. Ausgehend von seinen Befunden zur Verortung der Versicherungen im Gesellschaftsvertrag begriff Zwierlein die sukzessive Versicherungspenetration der Gesellschaft als Konstruktionsprozess einer universell sicheren Gesellschaft, in der Unglück und Katastrophe die zu vermeidende bzw. zu neutralisierende Ausnahme sein sollten. Dieser Prozess solle allerdings nicht im üblichen Säkularisierungsschema historisiert werden; die ‚sichere Normalgesellschaft’ sei vielmehr neben, und nicht in Konkurrenz zur Sphäre religiöser Weltordnung getreten. Davon ausgehend entwickelte Zwierlein ein Narrativ, das die Herkunft und Universalisierung der Versicherung weniger in Aufkommen und Expansion der Sozialversicherung im 19. Jahrhundert, sondern bereits in der Frühen Neuzeit und der Abkopplung der Warenwelt von Naturunglücken erblickt (maritime Transportversicherung, Feuerversicherung). Dieses stifte auch eine Klammer zur heute in der Risikosoziologie verhandelten Zäsur zwischen einer ersten und zweiten Moderne, deren empirisch-institutioneller Indikator die zunehmende Unversicherbarkeit von Technik- und Umweltgefahren sei. Diese vor allem auf Ulrich Beck zurückgehende Interpretation unterzog Zwierlein abschließend einer überzeugenden Kritik. Grundsätzlich ließe sich am Beispiel des Versicherungsprinzips allerdings der Wandel von Sicherheitsregimen untersuchen und eine freilich um Differenzierung bemühte Bestimmung sicherheitshistorischer Epochenschwellen vornehmen.

Der nächste Beitrag von STIG FÖRSTER (Bern) problematisierte das Verhältnis von staatlichem Gewaltmonopol und Sicherheitsproduktion im 19. und 20. Jahrhundert. Förster skizzierte zunächst die diesbezügliche Meistererzählung, der zufolge sich seit dem 18. Jahrhundert in Europa ein staatliches Gewaltmonopol sukzessiv etabliert habe, das zugleich zum Vorbild für die außereuropäische Welt geworden sei. Demnach garantierten der Staat und seine Organe die Sicherheit nach innen und außen. Im Gegenzug zöge der Staat Steuern ein und kontrolliere weite Teile der Gesellschaft. Auch das Rechtsstaatsprinzip basiere letztlich auf dem staatlichen Gewaltmonopol. Förster setzte sich nun kritisch mit diesem Narrativ auseinander und betonte, das staatliche Gewaltmonopol stelle keineswegs eine Erfindung der europäischen Moderne dar, sondern sei bereits zuvor – etwa von römischen Kaisern oder mongolischen Großkhanen – beansprucht worden. Es müsse daher eher als Strukturphänomen in der Entwicklung von Staatlichkeit begriffen werden. Anschließend widmete sich Förster den Schattenseiten des staatlichen Gewaltmonopols, die insbesondere im 20. Jahrhundert sichtbar geworden seien. Im Konzept des Totalen Krieges habe der Staat die absolute Macht beansprucht, um auf der Grundlage hoch entwickelter Herrschaftstechniken Sicherheitspolitik ins Extreme zu treiben. In der Tendenz zum „Atomstaat“ im Zuge des Kalten Krieges habe diese Politik ihre Fortsetzung gefunden. Umgekehrt markiere jedoch auch das Abtreten staatlicher Hoheitsfunktionen an private Sicherheitsfirmen in der Gegenwart (Beispiel: Irak) eine zunehmende Bedrohung des Rechtsstaats; das Verhältnis von Sicherheit und Staat bleibe somit in vielerlei Hinsicht problematisch.

ECKART CONZE (Marburg) widmete sich im letzten Vortrag der Sektion dem ursprünglich auf die politikwissenschaftliche Kopenhagener Schule der Internationalen Beziehungen zurückgehenden Konzept der Securitization und dessen Potentialen und Grenzen für die historische Forschung. Securitization fasste Conze als akteursgesteuerten kommunikativen Prozess, der sich in politischen Diskursen und Praktiken abbilde und sich als solcher auch historisieren lasse. Dabei gelte es jedoch zum einen, Securitization nicht teleologisch zu fassen, sondern auch den Korrespondenzbegriff der Desecuritization analytisch zu berücksichtigen. Zum anderen solle das Verständnis von Securitization nicht auf einen einseitigen Staatsbezug hinauslaufen, vielmehr müsse der Pluralität der an Sicherheitsdiskursen partizipierenden Akteure und Institutionen in unterschiedlichen historischen Kontexten Rechnung getragen werden. Insofern kapriziere sich das an diese Überlegungen geknüpfte Forschungsprogramm auch keinesfalls auf die Neuere oder Zeitgeschichte, sondern eröffne auch transepochale Perspektiven. Anhand unterschiedlicher Beispiele rückte Conze im Folgenden drei mit dem Konzept der Securitization zu erschließende Gegenstandsbereiche in den Vordergrund: Erstens die Rolle von Versicherheitlichungsprozessen für staatliches Handeln bzw. die Legitimation des Staates selbst, zweitens das Handeln von und die sicherheitsbezogene Kommunikation zwischen unterschiedlichen Akteuren im politischen Prozess, drittens das Verhältnis von Versicherheitlichung und Mechanismen sozialer Integration, Identitätsbildung und Vergemeinschaftung. Eine konstruktivistische und diskursbezogene Sicht auf ‚Sicherheit’ müsse der Historisierung dabei zugrunde gelegt werden. Nur auf diesem Weg – so Conze abschließend – könne das ohne Zweifel vorhandene Potential des Konzepts für historische Untersuchungen eingelöst werden.

In seinem Kommentar zu den Beiträgen brachte CHRISTOPHER DAASE (Frankfurt am Main) eine politikwissenschaftliche Perspektive in die Diskussion ein und verwies auf die vielfältigen Überkreuzungen in der Schwerpunktsetzung der Nachbardisziplinen. Trotz bestehender Synergiepotentiale, die für das thematische Feld der Sektion ausgemacht werden könnten, verdeutlichte Daase auch bestehende Divergenzen hinsichtlich Konzept und Untersuchungsperspektive. Insbesondere für eine angemessene Verortung des human security-Konzepts sei politikwissenschaftliche Expertise für Historiker relevant, während historische Darstellungen neue Anschlussperspektiven für die primär auf jüngere Vergangenheit und Gegenwart abzielende politikwissenschaftliche Forschung generierten. Die äußerst lebhafte Plenumsdiskussion der gut besuchten Sektion griff diese Überlegungen auf und verband sie mit konkreten Nachfragen zu den einzelnen Beiträgen. Wenngleich ein abschließender Konsens zum Verhältnis von Sicherheits- und Epochengrenzen nicht erzielt werden konnte (und ‚sicherlich’ auch nicht wünschenswert wäre), so stärkte die Sektion den Austausch zwischen den Disziplinen und indizierte die Relevanz der Thematik für zukünftige Forschungen.

Sektionsübersicht:

Cornel Zwierlein (Bochum): Einführung

Steffen Patzold (Tübingen): „Human security“ und „fragile Staatlichkeit“ im Frühmittelalter: Zur Fragwürdigkeit der Epochengrenze zwischen Vormoderne und Moderne

Stefanie Rüther (Münster): Sicherheit als Privileg. Möglichkeiten und Grenzen der Sicherheitspolitik zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit

Cornel Zwierlein (Bochum): Naturkatastrophen um die Jahre 1300, 1700 und 2000: Sind Grenzen der Versicherbarkeit auch Epochengrenzen?

Stig Förster (Bern): Staatliche Sicherheit und staatliches Gewaltmonopol im 19. und 20. Jahrhundert – Erstrebenswerte Norm oder historische Ausnahmeerscheinung?

Eckart Conze (Marburg): ‚Securitization‘: Gegenwartsdiagnose oder Prozess der ‚longue durée‘?

Christopher Daase (Frankfurt am Main): Kommentar