Praxis der Gerichtsbarkeit in europäischen Städten des Spätmittelalters

Praxis der Gerichtsbarkeit in europäischen Städten des Spätmittelalters

Organisatoren
Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte (Vincenzo Colli, Susanne Lepsius, Thomas Wetzstein), Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Kassel (Franz-Josef Arlinghaus, Ingrid Baumgärtner), Facoltà di Giurisprudenza dell'Università degli Studi Roma Tre (Mario Ascheri)
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.04.2004 - 03.04.2004
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Von
Petra Schulte, Historisches Seminar, Universität zu Köln

Thema: Praxis der Gerichtsbarkeit in europäischen Städten des Spätmittelalters

Niklas Luhmann wurde selten zitiert auf der Frankfurter Tagung, die die "Praxis der Gerichtsbarkeit in den europäischen Städten des Spätmittelalters" zum Thema hatte. Und doch stand seine Arbeit über die "Legitimation durch Verfahren" merklich Pate bei der Formulierung des Erkenntnisinteresses, das Ingrid Baumgärtner (Kassel) einführend erörterte. Der Schwerpunkt solle auf dem Verfahrensablauf liegen, der durch ihn strukturierten Kommunikation und der Art und Weise der Einbindung der Parteien. So sei eine Antwort auf die Frage zu finden, wie die Akzeptanz der rechtsprechenden Institutionen und ihrer Urteile im Zivilprozess gesichert wurde. Als denkbare Untersuchungsaspekte beschrieb Ingrid Baumgärtner die Einordnung der Gerichte in das städtische Umfeld, die Existenz mehrerer Gerichte in einer Stadt, Veränderungen im Zuge der Rezeption des römisch-kanonischen Rechts, Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Verfahren, dessen Inszenierung sowie ferner die gerichtliche Zwangsgewalt.

Die Tagung war nicht darauf angelegt, zu einem abschließenden Resultat zu gelangen. Zu diesem Zweck hätte der Rahmen zeitlich, örtlich und inhaltlich enger gesteckt werden müssen. Die insgesamt vierzehn Vorträge deckten eine Zeitspanne vom 12. bis zum 15. Jahrhundert ab, erstreckten sich von London über Nürnberg, Florenz bis Toulouse und behandelten unterschiedliche der oben genannten Punkte. Ermöglicht wurden jedoch ein Überblick über den Forschungsstand der Historiker/innen und Rechtshistoriker/innen, kontroverse Diskussionen im Detail sowie ein erster wichtiger Austausch über die Überlieferung, die methodische Herangehensweise und Möglichkeiten des Vergleichs vor dem Hintergrund einer innovativen Fragestellung.

Die erste Sektion "Konflikte und Kulturen der Kommunikation" eröffnete Simon Teuscher (Zürich/Los Angeles). Am Beispiel des am Nordufer des Genfer Sees gelegenen und den Grafen, später den Herzögen von Savoyen unterstehenden Waadtlandes zeichnet er nach, wie sich die Form der Kundschaften über Rechtsgewohnheiten wandelte. War im 13. Jahrhundert eine Norm umstritten, formulierten hochrangige Zeugen in gemeinsamen Beratungen deren Wortlaut. Im 15. Jahrhundert wurden Rechtsgewohnheiten nicht mehr als Gegenstand von Verhandlungen, sondern gemäß dem Vorbild schriftlicher Rechtskodifikationen vielmehr als ein objektiv vorhandener, kohärenter Regelbestand angesehen. In Einzelbefragungen versuchten die territorialherrlichen Gerichte, das Recht wie einen Tatbestand zu erschließen. Dabei erschienen die Zeugen als alternative Rechtsgelehrte, als "consuetudinarii". Im Anschluss an Simon Teuscher beschäftigte sich Giuliano Milani (Rom) mit der frühen kommunalen Gerichtsbarkeit in Oberitalien, die sich zwischen dem 11. und 12. Jahrhundert angesichts der Schwäche des Königs und der sich von seiner Autorität ableitenden politischen Institutionen in kurzer Zeit durchzusetzen vermochte. In einfacher Form innerhalb der Stadtmauern erprobt, erfuhr sie im Zuge der Ausdehnung der Herrschaft auf die ländlichen Gebiete eine Stärkung und Festigung. Leah Otis-Cour (Montpellier) berichtete über Frauen, die in verschiedenen Rollen - etwa als Klägerinnen, Beklagte und Zeuginnen - in den Urteilsregistern des 1444 als Appellationsgericht gegründeten Parlaments von Toulouse genannt werden. Frank Rexroth (Göttingen) schließlich befasste sich im Abendvortrag mit "Herrschaft, Recht und Kommunikation im spätmittelalterlichen London". In den Mittelpunkt des empirischen Teils seiner Ausführungen stellte er das Bürgermeistergericht, das ad hoc in der "Inner Chamber" der "Guildhall" tagte und einen geringeren Grad an Öffentlichkeit erforderte als das Grafschaftsgericht (Husting). Es müsse im Kontext der alltäglichen Arbeit des Rates betrachtet werden. Die Untersuchung der in den Jahren 1350 bis 1375 überlieferten gewerblichen Prozesse führte Frank Rexroth zu dem Ergebnis, dass die Sprechweise von Kläger und Gericht das Verhältnis von der Gemeinde zum Rat repräsentiert und insofern im Bürgermeistergericht jenseits der Behandlung der konkreten Delikte eine Verständigung über die obrigkeitlich propagierten Normen zum Wohle der Kommune stattgefunden habe.

Die zweite Sektion stand unter der Überschrift "Konkurrenz und Kooperation". Mario Ascheri (Rom), dessen Vortrag in seiner Abwesenheit verlesen wurde, thematisierte am Beispiel Siena die enge Verbindung von Recht und Politik im 13. bis 15. Jahrhundert. Beide Bereiche spiegelten sich in der städtischen Gerichtsbarkeit wider, die vom Spannungsverhältnis zwischen Zivil- und Strafrecht bzw. zwischen Ius Commune und Statutarrecht geprägt gewesen sei. Thomas Wetzstein (Frankfurt a.M.) sprach über das Konstanzer geistliche Gericht. Weltliche Auseinandersetzungen wurden vor diesem auch dann selten verhandelt, wenn eine Partei dem geistlichen Stand angehörte. Klassische Konfliktgegenstände waren Patronatsrechte, der Zehnt, testamentarische Verfügungen "ad pias causas", die Vernachlässigung der Seelsorge durch die Pfarrer sowie nicht zuletzt Ehestreitigkeiten. Aus dieser Beobachtung folgerte Thomas Wetzstein, das geistliche Gericht habe eine feste, klar definierte Funktion besessen. Konflikte um Zuständigkeiten mit den städtischen Gerichten schloss er weitgehend aus. Franz-Josef Arlinghaus (Kassel) richtete den Blick auf die Stadt Köln, in der im Spätmittelalter mehr als 50 Gerichte oder gerichtsförmige Einrichtungen existierten. In seinem Vortrag ging er zwei Thesen nach: Erstens sei das Gerichtswesen stark genossenschaftlich geprägt gewesen. Da eine Mitgliedschaft in mehreren Verbänden bestand, habe der Kläger ebenso wie der Beklagte, der den Streit häufig vor ein weiteres Gericht brachte, eine gewisse Wahlmöglichkeit besessen. Diese Entscheidungsfreiheit der Parteien habe zweitens stärker noch als das Verfahren selbst zur Legitimation und Akzeptanz des Gerichtswesens beigetragen.

"Kommunikationsformen gelehrter Rechtsprechung" lautete die dritte, von Eberhard Isenmann (Köln) eingeleitete Sektion. Anhand der sog. Epistel des Ratskonsulenten Dr. Christoph Scheuerl von 1516 stellte er zunächst die Grundzüge des Nürnberger Gerichtswesens vor, um dann auf der Basis von Ratsbeschlüssen sowie der in den Ratschlagbüchern enthaltenen Konsilien, Rechtsauskünften und Prozessakten die umfassenden Tätigkeiten der Nürnberger Ratsjuristen und der vom Nürnberger Rat beschäftigten auswärtigen Rechtsgelehrten zu skizzieren. Eberhard Isenmann zeigte auf, dass die Juristen annähernd jedes Problem des materiellen und prozessualen Rechts unter Rückgriff auf das römisch-kanonische Recht zu lösen vermochten und letzteres so in die gerichtliche Praxis hineintrugen. Susanne Lepsius (Frankfurt a.M.) referierte über die Luccheser Appellationsgerichtsbarkeit und hob als deren wesentliches Merkmal hervor, dass der auswärtige und juristisch gebildete Appellationsrichter spätestens seit 1308 gleichzeitig die Funktion des "maggior sindaco" ausübte. Als solcher besaß er die Aufgabe, die kommunalen Amtsträger am Ende ihrer befristeten Tätigkeit auf die rechtmäßige Ausübung derselben zu überprüfen. Vor dieser Folie müsse davon ausgegangen werden, dass eine Appellation nicht mehr allein auf das erstinstanzliche Urteil, sondern auch auf die Person des Richters zielte. Desgleichen sei die Tatsache, dass in den überlieferten Registern vorrangig die notwendigsten Verfahrensschritte notiert und die juristischen Argumentationsgänge lediglich in verdichteter Form festgehalten wurden, im Hinblick auf den späteren Sindikatsprozess zu sehen. Die Notare hätten nur das festgehalten, was in diesem von Bedeutung gewesen sei. Sara Menzinger (Rom) widmete sich der Schiedsgerichtsbarkeit in den italienischen Stadtgemeinden des 12. und 13. Jahrhunderts. In Abgrenzung zu der älteren Forschung wies sie im Kontext interkommunaler Konflikte nach, dass das Verfahren als ein politisches Instrument genutzt wurde. Die Anrufung eines Schiedsgerichts erfolgte z.T. auf Druck desselben, wobei der Wille der Parteien abhängig von der jeweiligen Machtkonstellation durchaus übergangen werden konnte und die "arbitri" auch in Abwesenheit der Streitenden agierten. Von der Schiedsgerichtsbarkeit als Ausdruck der Schwäche der kommunalen Rechtsprechung oder als einer privaten Form der Schlichtung dürfe nicht ausgegangen werden. Vincenzo Colli (Frankfurt a.M.) setzte sich mit der Zivilgerichtsbarkeit im Florenz des 14. Jahrhunderts auseinander und verglich für das Jahr 1344 die Gerichtsakten des Podestà mit denen der "universitas mercatorum" (Mercanzia). Die Rechtsprechung der letzteren besaß zu diesem Zeitpunkt keinen korporativen Charakter mehr, sondern erstreckte sich auf die ganze Kommune. Vincenzo Colli betonte die Ähnlichkeit, ja Homogenisierung beider Verfahren, die vom summarischen Prozess auf der einen und durch das Notariat auf der anderen Seite geprägt wurden.

Die vierte und letzte Sektion galt der "Konfliktbearbeitung innerhalb und außerhalb des Gerichts". Massimo Vallerani (Turin) ergänzte den Vortrag von Sara Menzinger um die Betrachtung des städtischen Zivilprozesses, der von der Bevölkerung zunehmend als Institution der Konfliktlösung angenommen wurde. Er verwies auf die wachsende Bedeutung professioneller Juristen, die in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts sowohl für den Bischof als auch in unterschiedlichen Funktionen für die Stadt tätig waren. Wichtiger als die Kenntnisse des römischen Rechts sei das Wissen um die neuen Prozessmechanismen gewesen, mittels dessen das Verfahren in eine bestimmte Richtung gelenkt werden konnte und das auch die Parteien schnell für sich nutzbar machten. Neithard Bulst (Bielefeld) legte das spätmittelalterliche Gnadenbitten dar. Die Abmilderung bzw. Umwandlung des Urteils durch den Rat in Zustimmung mit der siegreichen Partei erfolgte aufgrund von Fürbitten. Diese betrachtete Neithard Bulst zunächst unter innen-, dann unter außenpolitischen Aspekten. Der Rat konnte Gnadengesuchen kaum widersprechen, auch wenn er sie in der Stadt über Verbote zumindest einzudämmen versuchte. Gleichzeitig wusste der Rat die diesem System inhärenten wechselseitigen Verpflichtungen zu nutzen. Gundula Grebner (Frankfurt a.M.) präsentierte ihre Forschung zum Frankfurter Judeneid, d.h. dem Eid, den Juden Christen gegenüber leisteten. Der in acht Texten überlieferte Judeneid diente hauptsächlich vor- oder außergerichtlich der Funktion, als Beweismittel eine Auseinandersetzung zu beenden und Wohlverhalten zu garantieren. Die im 15. Jahrhundert belegte alltägliche Diskriminierung der Juden habe sich in dem angewandten Eid nicht niedergeschlagen. In ihm wurde vielmehr pragmatisch die andere Glaubensrichtung aufgegriffen. Dennoch bemühte sich die Stadt, umfassende Informationen einzuholen und andere Judeneide zu sammeln, die verschiedenen Rechtskreisen des Reiches entstammten.

In der Abschlussdiskussion gab Gerhard Dilcher (Frankfurt a.M.) ein regional gegliedertes Resümee der einzelnen Beiträge und thematisierten Thomas Wetzstein das Problem der Überlieferung, Susanne Lepsius Facetten der Institutionalisierung des städtischen Gerichtswesens, Franz-Josef Arlinghaus den Bereich der Kommunikation und Vincenzo Colli Aspekte des Prozessrechtes. Die Zusammenarbeit über die "Praxis der Gerichtsbarkeit in den europäischen Städten des Spätmittelalters" hat einen überzeugenden Anfang genommen. Eine Fortsetzung der Gespräche über die erste Orientierung hinaus bleibt zu wünschen.


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