HT 2012: Verbotene Passagen. Strategien der Verweigerung, Verhinderung und Unterbrechung von religiösen Transfer- und Transformationsprozessen im transkulturellen Vergleich

HT 2012: Verbotene Passagen. Strategien der Verweigerung, Verhinderung und Unterbrechung von religiösen Transfer- und Transformationsprozessen im transkulturellen Vergleich

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2012 - 28.09.2012
Url der Konferenzwebsite
Von
Mohammad Gharaibeh, Annemarie Schimmel Kolleg, Universität Bonn

Diese Sektion knüpfte inhaltlich an die transkulturelle Sektion „Passagen über Grenzen“ des 48. Deutschen Historikertags in Berlin an und nahm Strategien der Verweigerung, Verhinderung und Unterbrechung von religiösen Transfer- und Transformationsprozessen in den Blick. Aus Sicht der Islamwissenschaft, der Judaistik, der transkulturellen Mediävistik und der historischen Theologie wurden dabei nicht nur die Reduktion der Komplexität von fremdem religiösen bzw. kulturellen Wissen, sondern auch seine kontrollierte Integration für die Selbstvergewisserung, die Stabilisierung und die Handlungsfähigkeit gesellschaftlicher und religiöser Systeme erörtert.

In seiner Einleitung führte MATTHIAS M. TISCHLER (Dresden) in die sogenannte ‚ungeschehene‘ oder ‚verhinderte Geschichte‘ ein, die in der Geschichtswissenschaft seit Jahrzehnten betrieben wird, und schlug geschickt den Bogen zum Sektionstitel „Verbotene Passagen“ und zum Generalthema des 49. Historikertags 2012 „Ressourcen – Konflikte“. Denn die Ausdehnung des Ressourcenbegriffs auf immaterielle Güter wie Zeit, Erfahrung, kulturelles oder religiöses Wissen und seine mediale Aufbereitung wirft zusammen mit dem Geschichtsbilder dekonstruierenden Ansatz der ‚verhinderten Geschichte‘ die Frage nach der Kontrolle, der Unterbindung und des Verbotes von fremden Wissensressourcen in einer Gesellschaft auf. Die Sektion sollte den Akzent auf die Generierung, Verteilung und Kontrolle von religiösen Wissensressourcen in den verschiedenen Gesellschaften des Mittelalters legen. Als Beispiel für eine Ressourcenknappheit nannte Tischler fehlende Übersetzungen zentraler Texte anderer Religionen. So fehle es – abgesehen vom Koran – an umfassenden lateinischen Übertragungen von Tafsīr, Talmud, Midrashim und Targumim im mittelalterlichen Europa und auf der anderen Seite Übersetzungen biblischer Bücher und christlicher wie jüdischer Literatur im Nahem Osten und Nordafrika. Für die Suche nach den Ursachen der Ressourcenknappheit schlug Tischler drei den christlichen Mehrheitsgesellschaften Europas vertraute Phänomene als Ausgangspunkte vor. Zum einen die Frage, inwieweit die religiösen ‚Kultsprachen‘ Arabisch, Hebräisch, Latein und Griechisch in der jeweils anderen religiösen Kultur in kultureller Distanz wahrgenommen wurden, wodurch ihnen kein Platz im jeweiligen Bildungswesen eingeräumt worden ist. Zum zweiten der Umstand, dass die Wahrheitsansprüche im Augenblick der wechselseitigen Deutung Fragen nach der Adaption, nach der Transformation des Anderen ins Eigene und nach der Unterwanderung des Eigenen durch das Andere aufwerfen. Und zum dritten die Frage danach, welche Personen und Institutionen über die Autorität zur Formulierung, Durchsetzung und Sanktionierung von religiöser Normativität verfügten und die Aufsicht über die Reinheit der Lehre übernahmen. An einigen Themenfeldern veranschaulichte Tischler dabei seine Ausführungen. (1) Im diplomatischen Verkehr fränkisch-deutscher Herrscher seit dem 8. Jahrhundert fehlen fast vollständig präzise Informationen zu den Glaubensvorstellungen der muslimischen Herrscher des Mittelmeerraums. (2) In der christlichen Geschichtsschreibung ist seit dem 8. Jahrhundert eine große Zurückhaltung zu konstatieren, Muḥammads Leben und Werk zu integrieren. (3) Die christlich-jüdischen Glaubensgespräche (sogenannte Religionsdialoge) seit dem ausgehenden 11. Jahrhundert waren in der Regel bereits asymmetrisch konstruiert, so dass ein Scheitern des Austauschs die Gespräche prägte.

STEPHAN CONERMANN (Bonn) ging der Frage nach, warum sich der Religionsgelehrte al-Ġazālī (gestorben 1111) mit seinen traditionalistisch-religions-philosophischen Ansichten gegen den islamischen Philosophen Averroës (gestorben 1198) durchgesetzt hat und die griechische Philosophie dadurch keine nennenswerte Berücksichtigung mehr im „Mainstream“ islamischer Theologie fand. Zunächst brach Conermann die Thematik auf das Grundproblem herunter. Im 7. Jahrhundert begann mit der Gründung Bagdads eine intensive Rezeption antiken Wissens. In einer ersten Übersetzungsbewegung wurden griechische Wissenstexte ins Arabische übertragen und studiert. Im Zentrum dieser Bewegung stand vor allem Aristoteles bzw. dessen Rezeption in der Spätantike. Die Beschäftigung mit der Philosophie wurde allerdings rasch auch von der Frage begleitet, welcher Weg zur Wahrheit führt. Der Philosophie stand die Offenbarung gegenüber, die ebenfalls den Anspruch auf Wahrheit erhob. Al-Ġazālī wird als ein Wendepunkt in dem Widerstreit zwischen Philosophie und Offenbarung gesehen. In seinen Schriften betonte er zwar, dass die Wahrheit ausschließlich von der Offenbarung ausgehe, jedoch band er die Philosophie in sein theologisches System mit ein. Allerdings geschah dies nur eingeschränkt. Er bediente sich der Logik, der Mathematik, der Politik und der Ethik, schloss allerdings die Physik und Metaphysik aus seinem System aus. Averroës versuchte zwar mit einigen Gegenschriften, gegen al-Ġazālīs Ansatz Einspruch zu erheben und der Philosophie zu mehr Einfluss zu verhelfen, allerdings war sein Versuch langfristig nicht von Erfolg gekrönt, und die Philosophie wurde lediglich in ihrer eingeschränkten Rolle in die normativen Werke aufgenommen. Der Grund für diese Entwicklung ist in der islamwissenschaftlichen Forschung nicht eindeutig geklärt. Ein möglicher Erklärungsansatz könnte sein, dass die Rezeption der Antike, die unter den ʿAbbāsiden begann, eine andere Entwicklung nahm als sie beispielsweise unter den Karolingern erfuhr. Wurde unter letzteren die Antike positiv in die eigene Kultur aufgenommen, das antike Wissen sakralisiert und das Griechische als Gelehrtensprache übernommen, so blieb die Antike im islamischen Raum zwar ‚nützlich‘, aber fremd. Es fand kein Sprachwandel vom Arabischen zum Griechischen statt, und der Koran blieb die erste Quelle gültigen Wissens. Zudem empfand man den Islam in Abgrenzung zur vorislamischen Zeit der Ǧāhilīya bereits als einen Neuanfang, in dessen Kultur die Antike keinen Platz fand. Man scheute sich zwar nicht vor einer intensiven Beschäftigung mit der griechischen Philosophie, im selben Moment erachtete man sie aber nicht als eigen.

In seinem Vortrag mit dem Titel „Abgrenzungsstrategien. Moses Maimonides und das Christentum“ legte GÖRGE K. HASSELHOFF (Bochum) sein Augenmerk auf die Kontaktmöglichkeiten zwischen Christen und Muslimen in den Schriften des Maimonides, auf die Frage, ob in Anlehnung an eine Aussage von Maimonides die Rede von ‚Christen als Götzendienern‘ sachgemäß ist, sowie auf die Wahrnehmung von Christentum und Islam in weiteren Texten des Maimonides. Moses Maimonides, der im andalusischen Córdoba zwischen 1132/1135 und 1138 geboren wurde, lebte überwiegend in Regionen mit muslimischen Mehrheitsgesellschaften. Kontakt mit Christen als Vertretern einer Mehrheitsreligion scheint er hingegen nur wenig gehabt zu haben. Ab etwa 1168 lebte Maimonides bis zu seinem Tod im Dezember 1204 in Fustat (bei Kairo) und gehörte ab den 1170er-Jahren zum Leibärzte-Kollegium der Wesire von Kairo. Bezüglich der Christen lässt sich in Maimonides‘ Werken keine einheitliche Position herauslesen. Zwar bezeichnet er sie im halakhischen Kontext als Götzendiener, allerdings sind diese Aussagen traditionell und spiegeln weitestgehend die Diskussionen aus dem Babylonischen Talmud wider. Zudem muss berücksichtig werden, dass Maimonides seine halakhischen Werke als Kompilationen versteht und der vorgegebene Stoff aus Mischna und Gemara ähnlich lautet. Darüber hinaus erlaubt es Maimonides den Christen, die Gebote und Kommentare zu lehren, was Maimonides den Muslimen nicht erlaubt, was darauf hindeutet, dass er die Christen hinsichtlich des Schriftstudiums nicht als Götzendiener betrachtet. Der Blick auf die Muslime stellt sich in Maimonides‘ Schriften noch schwieriger dar. Auf der einen Seite könne mit den Muslimen zwar nicht diskutiert werden, da die Schriftgrundlage, anders als bei den Christen, zu verschieden sei und der Koran und die Thora nicht gleich seien. Auf der anderen Seite sieht Maimonides das muslimische Bekenntnis zu dem einen Gott (Allah) nicht als Götzendienst. Hasselhoff betonte dennoch, dass aus zeitgenössischen Berichten über Maimonides bekannt sei, dass er auf der alltagspraktischen und auf der wissenschaftlichen Ebene in einem regen Austausch mit seinen nicht-jüdischen Zeitgenossen stand.

MATTHIAS M. TISCHLER (Dresden) machte den Titel „Das verbotene Gesetz. Wie Christen im Mittelalter versucht haben, die Übersetzung und Lektüre des Koran zu verhindern“ zum Programm seines Vortrages. Indem Tischler zunächst eine förmliche Islamunwissenheit im Mittelalter unter Christen anhand von Zitaten von Personen wie Johannes von Segovia, Humbert von Romans und Petrus Venerabilis feststellte, leitete er zum Gegenstand seines Vortrags über. Es ging ihm um die Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte von Projekten zur Übertragung des Koran ins Lateinische, anhand derer sich ‚verhinderte Geschichte‘ exemplarisch zeigen lasse. Dabei nannte er unter anderem das Projekt des Abtes von Cluny, Petrus Venerabilis. Während einer Spanienreise trifft Petrus auf Robert von Ketton und andere internationale Gelehrte, die er unter Einsatz von erheblichen Geldmitteln zur ersten lateinischen Vollübersetzung des Koran bewegen kann. Diese Übersetzung wird in der Folgezeit allerdings nur wenig gewürdigt. Zwischen der Originalhandschrift von Cluny und den nächst jüngeren Handschriften aus der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts tut sich eine Überlieferungs- und Rezeptionslücke von über 100 Jahren auf. Diesen Befund zu erklären, versuchte Tischler über zwei Ansätze: Zunächst scheint das Projekt auf Grund der starken Kritik von Petrus‘ reformbenediktinischem Gegenspieler Bernhard von Clairvaux unter enormen Startschwierigkeiten gelitten zu haben. Zum anderen gebe es zahlreiche Spuren interner Konflikte in Cluny selbst, die zeigen, wie sehr man sich gegen eine intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Islam gewehrt hat. So verwundere es wenig, dass die erste Fassung der Vorarbeiten zu einer Widerlegung des Islam ‚verloren‘ ging. Im Ganzen betrachtete Tischler das Islamprojekt des Petrus Venerabilis als ein gescheitertes. Alle Versuche des Abtes von Cluny, den übersetzten Koran in den lateinischen Wissenskosmos zu integrieren, führen nicht zum gewünschten Erfolg. Seine Mitbrüder entschieden sich lieber für den Zugriff auf vorgegebene Polemiken statt für eine Beschäftigung mit dem schwierigen authentischen Text selbst, wenn eine Auseinandersetzung mit den Muslimen schon unausweichlich war. Erst mit der Wiederentdeckung des Originalcodex im 2. Viertel des 13. Jahrhunderts entfaltet er eine erste Wirkung. Eine entscheidende Rolle kommt hierbei dem Dominikanerorden zu, der nach einem gescheiterten, ordenseigenen Arabischstudium in Tunis auf das Islamprojekt des Petrus Venerabilis angewiesen war, um erstmals missionstheoretische und -praktische Handbücher und Glaubenssummen entwickeln zu können.

KRISTIN SKOTTKI (Rostock) nahm in ihrem Vortrag das lateinische Fürstentum Antiochia in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts und damit die Anfangszeit der sogenannten Kreuzfahrerstaaten in den Fokus. In der modernen Kreuzzugsforschung gilt dieser Kreuzfahrerstaat als ein gelungenes Exempel kultureller und religiöser Austauschprozesse und des friedfertigen Miteinanders unterschiedlicher Religionen und Kulturen. In ihrem Vortrag ging Skottki der Frage nach, ob und wie sich dieser Charakter der Stadt auch in der lateinischen Historiographie spiegelt, ob die Quellen den Wissenschaftsdiskurs bestimmen und wie die Forschung selbst auf unser Verständnis der Quellen zurückwirkt. Dazu stellte Skottki unter anderem die Geschichte eines Mannes in den Mittelpunkt ihres Vortrags, um den sich verschiedene Narrative gebildet haben. Es ging um einen Mann namens Fîroûz, der die Stadt Antiochia an die Kreuzritter verraten haben soll und anschließend mitsamt seinem ganzen Haus von Bohemund von Tarent getauft wurde. Dabei wird vor allem die Konversion des Fîroûz in den Chroniken unterschiedlich dargestellt und von der Geschichtswissenschaft kontrovers beurteilt. In einer Chronik heiße es, dass Bohemund den Konversionswunsch zwar begrüßt, sich aber ansonsten nicht sonderlich um die Konversion bemüht habe. In einer anderen Chronik heiße es stattdessen, dass die Taufe der ‚Heiden‘ die Kreuzfahrer mehr erfreute als die Eroberung Antiochias selbst und die Kreuzfahrer sie entsprechend feierten. In der Forschung allerdings wurde die Freude der Kreuzfahrer kaum berücksichtigt, und die Historiker heben die Konversion des Fîroûz nicht gesondert hervor. Skottki sieht den Grund hierfür in dem scheinbar unter den Kreuzzugsforschern herrschenden Konsens, dass der ‚Traum von der Konversion der Muslime‘ erst ein Phänomen des 13. Jahrhunderts gewesen sei. Aus ihrer Sicht gebe es aber in der ersten Standarderzählung des Ersten Kreuzzugs deutliche Hinweise dafür, dass bereits in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts ein großes Interesse an einer Konversion der Muslime bestand. Hier hat es den Anschein, so Skottki, als ob die Kreuzzugsforschung zu sehr auf die Vorstellung fixiert sei, dass die ursprüngliche Kreuzzugsidee nicht mit Mission bzw. Konversion zusammenpasse. Skottki formulierte daher die provokante Behauptung, dass auch die moderne Forschung in Einzelfällen den Darstellungen in den mittelalterlichen Texten und ihrer historischen Realität auf der Deutungsebene nicht die angemessene Bedeutung beimesse und so selbst die Anerkennung von religiösen Transferprozessen in der Kreuzzugszeit behindere.

Die Vorträge dieser Sektion konnten im Ganzen halten, was sie versprachen. Dem Zuhörer wurden neben konkreten Beispielen für „verhinderte Geschichte“ aus verschiedenen Disziplinen eine Reihe von Anregungen vermittelt, die den Forscher für diese spannende Problematik sensibilisieren. Auch wenn sich dabei manche Phänomene nicht immer erklären lassen, wie die Frage, warum sich al-Ghazālī gegenüber Averoës durchgesetzt hat, so haben doch alle Vortragenden verdeutlichen können, dass sich auch bereits bekanntes und erschlossenes Quellenmaterial in einer neuen Dimension kritisch hinterfragen lässt. Dabei ermutigen sie den Wissenschaftler, sich genauer mit Überlieferungsgeschichte von Quellen zu beschäftigen sowie bestehende Geschichtsbilder und historische „Selbstverständlichkeiten“ zu hinterfragen, um zu innovativen und neuen Fragestellungen zu gelangen.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Matthias M. Tischler (Dresden)

Matthias M. Tischler (Dresden): Verbotene Passagen. Eine neue Perspektive auf das methodische Problem der verhinderten Geschichte

Stephan Conermann (Bonn): Der Bruch mit der griechischen Philosophie im islamischen theologischen Diskurs. Warum sich al-Ġazālī (gest. 1111) gegen Averroës (gest. 1198) durchgesetzt hat

Görge K. Hasselhoff (Bochum): Abgrenzungsstrategien. Moses Maimonides und das Christentum

Matthias M. Tischler (Dresden): Das verbotene Gesetz. Wie Christen im Mittelalter versucht haben, die Übersetzung und Lektüre des Koran zu verhindern

Kristin Skottki (Rostock): Die Gefahr des Kontakts. Bewertungen von interkulturellen Begegnungen und Konversionen in der lateinischen Historiographie der frühen Kreuzfahrerstaaten


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