HT 2012: Geschichte als Ressource des Menschseins in der Migrationsgesellschaft – und warum ein solches Ideal im Prozess des historischen Lernens unweigerlich Konflikte auslöst

HT 2012: Geschichte als Ressource des Menschseins in der Migrationsgesellschaft – und warum ein solches Ideal im Prozess des historischen Lernens unweigerlich Konflikte auslöst

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2012 - 28.09.2012
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Von
Oliver Kuttner, Historisches Seminar, Leibniz Universität Hannover

Die Sektion „Geschichte als Ressource des Menschseins in der Migrationsgesellschaft – und warum ein solches Ideal im Prozess des historischen Lernens unweigerlich Konflikte auslöst” beschäftigte sich im Allgemeinen mit der Problemstellung, unter welchen Bedingungen historisches Lernen – im schulischen oder gesellschaftlichen Rahmen – in einer heterogenen/ diversen Migrationsgesellschaft stattfinden kann. Während Heterogenität und Diversität oftmals als Problemsituation wahrgenommen werden – was u.a. der Betrag von Carlos Kölbl, Lena Deuble und Lisa Konrad aufzeigt –, wird die diversitätssensible Geschichte als Ressource in den einleitenden Ausführungen von MICHELE BARRICELLI (Hannover) und MARTIN LÜCKE (Berlin) aufgefasst. Eine Geschichte, die natürlich auch Konfliktpotenzial besitzt – werden doch (bspw. gesellschaftlich konforme) Narrative aufgeworfen, die andere Narrative dominieren, „immerhin das Deutscheste vom Deutschen“ (Golo Mann). Das Klassenzimmer wird somit zum Konfliktfeld, Heterogenität zur Ressource eines gelungenen multiperspektivischen und identitätsstiftenden Geschichtsunterrichts.

MARTIN LÜCKE (Berlin) wies die Notwendigkeit eines auf Diversität und Heterogenität eingehenden bzw. an jenen ausgerichteten Geschichtsunterrichts aus. Zivilgesellschaften (bzw. die „sogenannten Migrationsgesellschaften“) sind heute – aufgrund der globalen Wanderungsbewegungen – heterogen. War die gesellschaftliche, aber auch die fachdidaktische Rhetorik der letzten Jahre noch allzu oft geprägt von „Alarmierung oder der Markierung des Fremden“, einem hegemonialen Habitus, der die Kenntnis der deutschen Sprache zur Voraussetzung für die Partizipation an der deutschen Mehrheitsgesellschaft ansah, wird die heterogene und diverse Zusammensetzung der Gesellschaft – bzw. des Klassenraums – als Normalzustand angesehen. Meistererzählungen wie die der nationalstaatlichen Genese können aufgrund ihrer monokausalen, inkludierenden („Bio-“Deutsche) sowie exkludierenden („die Anderen“) Zusammenhänge und Hintergründe keinen Beitrag zur historischen Orientierung der Schülerinnen und Schüler in heterogenen Lernzusammenhängen leisten. Vielmehr müssen Mikronarrative im Fokus des Geschichtsunterrichts stehen, die die „Anerkennung des Subjekts und den Umgang mit authentischer Differenz in multireferentiellen Lebenskontexten“ zulassen. Im Verständnis der Geschichte als Ressource einer Weltgemeinschaft können in Verbindung mit den zentralen geschichtsdidaktischen Kategorien des Geschichtsbewusstseins und der historischen Sinnbildung vor allem Paradigmen der Diversity- und Intersectionality Studies neue Erfahrungs- und Erinnerungsräume schaffen, um die herum vielfältige Geschichten über vergangene Wirklichkeiten erzählt werden können. Klassische Narrative müssen Martin Lücke folgend zugunsten einer transkulturellen Perspektive, die quellennah die Konflikthaftigkeit von Kulturkontakten in den Blick nimmt, aufgelöst werden.

Diesen Ausführungen schloss sich unweigerlich die Frage an, welche multikulturinkludierenden Erzählstrategien die gemeinsam geteilte Sinnbildung ermöglichen. MICHELE BARRICELLI (Hannover) ging dieser Problemstellung nach und führte in das kanadische Konzept der shared und divided histories ein. Nun ist das Geschichtsbewusstsein eines jeden Menschen subjektiv opportun, es bildet und erzählt partikulare Geschichten, die die eigene Identitätsbildung stützen und zugleich die „anderen“ ausschließen (divided histories). Ein heterogener und diverser Geschichtsunterricht sucht jedoch nach shared histories – Geschichten, die gemeinsam geteilt werden können. Dies sind z.B. Themenfelder wie Menschen- und Bürgerrechte aus westlicher, arabischer und lateinamerikanischer Perspektive bzw. die historisch geprägten diversen Erfolgsgeschichten des ökonomischen Wachstums als lineare Fortschrittsvorstellung. Die Komplexität multikulturinkludierender Narrative führt unweigerlich dazu, „auf gemeinsam geteilte historische Sinnbildung in Großkollektiven zu verzichten. Geschichte, Erinnerung wird etwas Subjektives“. Eine Garantie, welche Narrative in welcher subjektiv reduzierten Weise Bestandteil unserer historischen Identität werden, gibt es nicht. Im Hinblick auf alle diese Fragen – bspw. bezüglich der Überwindung der Meistererzählungen und des Eurozentrismus durch shared histories – plädiert Michele Barricelli für eine klare und selbstbewusste Positionierung einer modernen, kulturell sensiblen Geschichtsdidaktik.

Neben Martin Lücke – und an anderer Stelle Lars Deile – führte auch JÜRGEN STRAUB (Bochum) das transkulturelle Geschichtslernen im multireferentiellen Lernprozess an. Heterogenität wird als zentrales Prinzip einer globalen Welt hervorgehoben und mit einer normativ politischen Forderung nach einer Achtung aller Menschen verbunden. In diesem Zusammenhang sind es vor allem intergenerationelle Geschichten ausgeübter und erlittener Gewalt, die als transkulturelle Aspekte um Anerkennung von Verletzungen in den Geschichtsunterricht einzubeziehen sind. Werden „ethnisch und kulturell differenzierte Gesellschaften heute allgemein als durch (Super-)Diversität geprägte Konstellationen beschrieben“, rücken im Hinblick auf kollektive Verletzungen Beziehungen zwischen Gruppen oder Milieus in den Fokus, die diese Diversität konstituieren. Die Auseinandersetzung mit Verletzungsverhältnissen „fragt nach deren Bedeutung für das historische Bewusstsein und der gegenwärtigen Praxis im Zusammenleben von Menschen, die eine Generationen übergreifende Geschichte der Verletzung und Verfeindung, der Verfolgung und Vernichtung miteinander ‚verbindet‘“.

JOHANNES MEYER-HAMME (Hamburg) begann seine Ausführungen mit der Darstellung der paradoxen Situation, dass wir uns einerseits in einer heterogenen Gesellschaft befinden, in der vollkommen unterschiedliche Perspektiven in historischen Narrationen erzählt und insofern historische Orientierungen und Identitäten angeboten werden. Historisches Erzählen wird infolgedessen zur Ressource der Identität, die natürlich adäquate Strategien im Umgang mit heterogener Deutung und Wahrnehmung bedingen. Andererseits stehen dem multikulturinkludierenden Geschichtslernen auch Gegner gegenüber, die „einen obligatorischen, soliden chronologischen Durchgang von der Urgesellschaft bis heute“ fordern, um ein „fassbares historisches, ja kanonisches Wissen“ vermitteln zu können. In Hinsicht auf die bisherigen Beiträge und die geschichtsdidaktische Theoriebildung scheint diese Homogenitätsvorstellung nicht mehr zeitgemäß und tragfähig. In einer nicht nur individualpsychologischen, sondern auch genuin geschichtsdidaktischen Perspektive nimmt Johannes Meyer-Hamme den Aspekt der historischen Identitätsbildung unter den Bedingungen von Migration und Multireferentialität der Lebenskontexte in den Blick. Anhand zweier Konstruktionen historischer Identitäten in der heterogenen Gesellschaft stellt Johannes Meyer-Hamme drei Schlussfolgerungen heraus, wann historisches Erzählen in einer heterogenen Gesellschaft als Ressource angesehen werden kann. Die drei Aspekte lassen sich wie folgt zusammenfassen: historische Identität als narrativer Zusammenhang zwischen historischen Orientierungen, Reflexion der Perspektiven historischer Narration, Formulierung gesellschaftlicher Veränderungsprozesse.

BÉATRICE ZIEGLER (Aarau) bildete den Abschluss des ersten Roundtables. Sie berichtete als Kontrapunkt zu den bisherigen Beiträgen von einem aktuellen Anwendungsbeispiel praktischer Identitätsbildung – der Entwicklung eines Staatsbürgerschaftstests im schweizerischen Kanton Aargau. Der Blick auf realgeschichtspolitische Entwicklungen „zeigt die problematische Gratwanderung der Geschichtsdidaktik im Dienste demokratischer Öffentlichkeit“. Béatrice Ziegler zufolge ist ein geschichtsdidaktischer Versuch, einen Staatsbürgerschaftstest zum Instrument tatsächlichen politischen und historischen Lernens zu entwickeln aus unterschiedlichen Gründen zum Scheitern verurteilt. So werden Fragen zur Geschichte gestellt, die auf einen nationalen herrschaftslegitimierenden und gesellschaftshomogenisierenden Wissenskanon abzielen und zugleich ebenso Erfolgsgeschichten suggerieren. Die partizipatorische Zugehörigkeit zum Zielstaat verlangt nach gemeinsamen historischen Sinnbildungselementen und Modi der kollektiven Identität, heterogene Identitäten hingegen werden außer Acht gelassen. Potenzielle (Identitäts-)Konflikte werden infolgedessen vorgreifend negiert, um „die notwendige innere Kohärenz seines Verbandes zu gewährleisten“. Dennoch, so zeigt es dieser Beitrag, sind es Fragen, die das geschichtskulturell mächtige nationale Narrativ herausfordern und aufgrund gesellschaftsinhärenter Veränderungsimpulse ebenso die Diversität der Zugereisten respektieren, um insofern den Zusammenhalt einer multiethnisch verfassten Gesellschaft zu gewährleisten.

Die Diskussion zum ersten Roundtable führte die Diskutanten über die abstrakten allgemein-theoretischen Begriffe, der Feststellung einer zu berücksichtigenden sozial einheitlichen Raumgebundenheit (Anwendungskontext), des Bestehens von Migranten-Netzwerken zu der Fragestellung, wie Deutsch die Diskussion um Heterogenität und Diversität in der Migrationsgesellschaft sei? In diesem Zusammenhang wurde darauf hingewiesen, dass dieser Diskurs kein deutscher, sondern ein westeuropäischer, ökonomisch geführter Diskurs sei (Diversity Management). Zwar wurde dem Plädoyer für Verletzungsgeschichten im Geschichtsunterricht mehrheitlich zugestimmt, auch Konkretisierungen und Möglichkeiten der Pragmatik eingefordert, jedoch wurde innerhalb der Diskussion auf einen potenziell unterschwelligen Antisemitismus (Schülerinnen und Schüler mit islamischen Hintergrund vs. Schülerinnen und Schüler mit jüdisch-orthodoxer Migrationsgeschichte) hingewiesen. Dennoch sollte gerade auch die Verletzungsgeschichte explizit Thematisierung erfahren, um den Schülerinnen und Schülern Geschichte als kulturelle Praxis näherbringen zu können.

Während in Roundtable 1 mehrheitlich die Grundlagen und die Fundierung des Geschichtslernens in der Migrationsgesellschaft Berücksichtigung fanden, thematisierte Roundtable 2 die Empirie und Pragmatik des Geschichtslernens in der Migrationsgesellschaft.

CARLOS KÖLBL (Bayreuth), LENA DEUBLE und LISA KONRAD (beide Hannover) hoben die besondere Stellung des interkulturellen Lernens in der Geschichtsdidaktik hervor. Sie konstatierten, dass die Relevanz interkulturellen Lernens geradezu beschworen, zumindest aber normativ eingefordert werde (so z.B. der Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 25. Oktober 1996: Empfehlung „Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule“), obwohl noch nicht hinreichend geklärt ist, ob bzw. in welchen Hinsichten in der Schule interkulturell gelernt werden kann. Vor diesem Hintergrund wurde das Projekt „Vielfalt, Identität, Erzählung“ der empirischen Rekonstruktion interkultureller Lern- und Lehrprozesse im Geschichtsunterricht vorgestellt, das die Perspektiven und Praktiken von Geschichtslehrkräften, ihren Schülerinnen und Schülern sowie das faktisch stattfindende Unterrichtsgeschehen analysiert, um „Verhaltensänderungen“ identifizieren zu können. Besonderheit dieses Forschungsprojekts ist der sich im Prozess entwickelnde, modifizierende und differenzierende Arbeitsbegriff, um eine empirisch fundierte Theorie interkulturellen Lernens und Lehrens im Geschichtsunterricht, die auch für unterrichtspraktische Belange relevant ist, herauszuarbeiten. Vorläufige Annahmen gehen davon aus, dass sowohl eine inhaltliche als auch eine methodische Auseinandersetzung von kultureller Differenz stattfindet und interkulturell in synchroner und diachroner Perspektive über kulturelle Differenzen und historische Hintergründe gelernt wird. Es bleibt abzuwarten, ob sich die ersten vage andeutenden Ergebnisse bestätigen lassen, wonach Gymnasialschullehrerinnen und -lehrer „[i]nterkulturelles Lernen als Ressource“ wahrnehmen, Sekundarschullehrkräfte hingegen „[i]nterkulturelles Lernen als Konflikt- und Minenfeld“ auffassen. „Ein einheitliches Verständnis interkulturellen Lernens im Geschichtsunterricht oder eine einheitliche Lehr- und Lernpraxis gibt es diesbezüglich sicher nicht“.

WALTER HERZOG und ELENA MAKAROVA (beide Bern) gingen der Frage nach, was denn Unterricht überhaupt konstituiert bzw. wie dieser überhaupt möglich ist. In Hinblick auf die soziale Dynamik von (Geschichts-)Unterricht wird konstatiert, dass die Didaktik nicht mit der Unterrichtswissenschaft gleichzusetzen sei, „setzt sie letztlich immer schon voraus, dass Unterricht in sozialer Hinsicht möglich ist, weshalb sie ihre Aufgabe nicht darin sieht, eine Unterrichtstheorie im umfassenden Sinn zu entwickeln, sondern das Lehrerhandeln anzuleiten“. Auf Basis empirischer Befunde postulieren Herzog und Makarova, dass die Prozessmerkmale des Unterrichts im Fach Geschichte wichtiger seien als die Strukturmerkmale. So seien einer Schweizer Studie zufolge „strukturelle Merkmale einer Klasse (wie deren kulturelle Heterogenität) für das wahrgenommene Störausmaß im Unterricht weit weniger bedeutsam als Prozessmerkmale des Unterrichts (wie insbes. die Beziehungsqualität in der Klasse)“. Es wird jedoch betont, dass diese Erkenntnis nicht bedeuten soll, dass mit der schülerischen Herkunft assoziierte Differenzen keine erschwerende Rolle bei der Klassenführung spielen. Besonders wichtig für die soziale Integration einer (kulturell) heterogenen Schulklasse ist demnach vor allem, dass es der Lehrperson gelingt, vertrauensvolle, wertschätzende und anerkennende Beziehungen in der Klasse aufzubauen. Aus geschichtsdidaktischer Sicht können die Fachinhalte dennoch nicht als beliebig erachtet werden, „weil sie – vermittelt über biografische Betroffenheit bzw. Resonanz – ein personales Moment in den Unterricht einbringen, das sich auf die sozialen Beziehungen in der Klasse – positiv oder negativ – auswirken kann“.

VADIM OSWALT (Gießen) stellt die besondere Bedeutung der Auseinandersetzung mit kommunikativen Prozessen in den Vordergrund, da nur hier jene diversitätssensiblen Erfahrungen und Aushandlungsprozesse sichtbar werden. Jene Erfahrungen von Diversität, die nach Jörn Rüsen „Geschichte als Teil einer kulturellen Sinnwelt, lebenspraktischer Orientierungsbedürfnisse und Daseinsorientierung“ berühren, werden zur Markierung im historischen Prozess, Geschichte zum Ernstfall. „Die Heterogenität der Akteure sowie die Fülle an kommunikativen, historisch-inhaltlichen und medialen Bezugsrahmen schaffen einen multireferentiellen pädagogischen Handlungs- und Erfahrungsraum, der alle Beteiligten zum diversitätssensiblen Umgang mit differierenden historischen Deutungen und anderen Lernkulturen“ sowie zur Modifizierung, Dekonstruktion und Falsifizierung von Konzepten der Selbst- und Fremdwahrnehmung zwingt. Geschichte als Ressource der eigenen Identitätsbildung und Sinnweltbestimmung muss als ein von wechselseitiger Annäherung geprägter Umgang gemeinsamer Geschichte, aber auch als Erfahrung von Differenz und der ihr immanenten Verunsicherung wahrgenommen werden. Die Erkenntnis, dass es „die“ Geschichte nicht gibt wird in der Vielzahl der möglichen Interpretationen deutlich.

Eine große Bedeutung bei der multikulturinkludierenden Vermittlung wird den Geschichtslehrkräften zugesprochen. Sie sind es, die den Geschichtsunterricht einer diversitätssensiblen Professionalisierung unterziehen können. LARS DEILE (Berlin) regt in Abgrenzung zur Ausländerpädagogik und in Erweiterung des gegenwärtig vorherrschenden pädagogischen Konzepts des interkulturellen Lernens dazu an, transkulturelles historisches Lernen in den geschichtsdidaktischen Blick zu nehmen. Während das Konzept der Interkulturalität zu einer Manifestierung der Distanz zwischen Einheimischen und Zuwanderern sowie zu einer simplifizierenden Dichotomie von „Eigen und Fremd“ führt und insofern eine Bewahrung, Kollektivierung und Homogenisierung bestehender mentaler Konzepte zur Folge hat, vermag das transkulturelle Lernen konkrete multikulturinkludierende Sinnsituationen und Deutungsvielfalt herzustellen sowie Simplifizierungen in Form von Zu- bzw. Festschreibungen zu entlarven. Es ist die transkulturelle Perspektivierung des Geschichtsunterricht, die die multireferentiellen Lebenskontexte und Lebenswelten der Schülerinnen und Schüler durch das Aufzeigen von Veränderung und Kontingenz hinsichtlich einer gemeinsam geteilten Sinnbildung (shared histories) diversitätssensibel dekonstruiert. Die Kanonisierung „unserer“ Geschichte in Form von chronologisch-genetischer Meistererzählungen muss zugunsten einer transkulturell gedachten und narrativierten Verflechtungsgeschichte überwunden werden. Wehrmutstropfen dieses Plädoyers ist jedoch die noch immer fehlende konkrete theoretische Definition des transkulturellen historischen Lernens, die auch dieser Beitrag nicht leisten konnte. Demzufolge steht eine begrifflich fundierte Konkretisierung und Nutzbarmachung des Konzepts der Transkulturalität im Geschichtsunterricht noch immer nicht zur Verfügung, auch weil hier die nur spärlich existierende fachdidaktische Literatur – mit transkulturellem Anspruch – in interkultureller Perspektive verharrt.

Der Diskussion war zu entnehmen, dass sich die Mehrheit der zuhörenden Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrer noch konkretere Handlungsanleitungen bezüglich des transkulturellen Lernens gewünscht hätte, und nach wie vor ein fehlendes verständliches Konzept hinter Diversität und Heterogenität beklagte. Zu Unrecht? Es ist zu konstatieren, dass die Sektion mehr theorietriftige Fragen aufgeworfen hat als sie pragmatisch beantworten konnte. Aber liegt dies nicht an einem sich im Bewusstsein der Vertreterinnen und Vertreter unserer Domäne wandelnden modernen Verständnis einer Geschichtsdidaktik als historischer Kulturwissenschaft der trotz aller empirischen Erkenntnisse noch immer innovationsrückständige politisch-institutionelle Vorgaben und Rahmenbedingungen gegenüberstehen?

Eine Frage, die trotz ihrer großen Relevanz zeitlich nicht ausreichend diskutiert werden konnte, war und ist, wie mit Schülerinnen und Schülern im diversitätssensiblen Geschichtsunterricht verfahren werden muss, die Diversität aus spezifisch subjektiven bzw. antisemitistischen Gründen nicht zulassen möchten bzw. können (gerade in Bezug auf Verletzungsgeschichten bzw. am direkten authentischen Lernort bzw. in direkter interkultureller Konfrontation).

Sektionsübersicht:

_Sektionsleitung: Michele Barricelli (Hannover) / Carlos Kölbl (Bayreuth) / Martin Lücke (Berlin)

Michele Barricelli (Hannover) / Carlos Kölbl (Bayreuth) / Martin Lücke (Berlin): Begrüßung und Einführung

Roundtable 1: Grundlagen und Fundierungen des Geschichtslernens in der Migrationsgesellschaft

Michele Barricelli (Hannover) / Martin Lücke (Berlin): Diversity - Geschichte - Geschichtsdidaktik. Einführende kategoriale Überlegungen.

Jürgen Straub (Bochum): Kollektive Verletzungen und historisches Bewusstsein. Zur Psychologie temporaler und soziokultureller Komplexität in der Migrationsgesellschaft

Johannes Meyer-Hamme (Hamburg): Der Konflikt in mir. Historisches Erzählen als Ressource von Ich-Identität

Walter Herzog / Elena Makarova (beide Bern): Multikulturalität in der Schule: Herausforderungen für das Klassenmanagement

Roundtable 2: Empirie und Pragmatik des Geschichtslernens in der Migrationsgesellschaft

Carlos Kölbl (Bayreuth) / Lena Deuble / Lisa Konrad (beide Hannover): Interkulturelles Lernen im Geschichtsunterricht: Programm, erste Befunde, Desiderate

Vadim Oswalt (Gießen): Zur Evaluation der Konflikte außerschulischen Geschichtslernens an diversitätssensiblen Orten

Béatrice Ziegler (Aarau): Schweizermachen als Frage von historischer Identität. Ein Beispiel vorgreifender Konfliktvermeidung

Lars Deile (Berlin): Diversitätssensibler Geschichtsunterricht in der Migrationsgesellschaft als Herausforderung für die akademische Professionalisierung von Geschichtslehrkräften


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